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"Unangekündigter" Besuch

Lange Zeit lebten wir in Ungewissheit, ohne irgendetwas darüber zu wissen, wie die Menschen im Ausland leben. Es kommt mir so vor, als ähnelten jene Jahre einer Konservendose: niemand ist zu uns gekommen und wir sind nirgendwohin gefahren... Nur selten gelang es jemandem, ein wenig Kapital anzusammeln und sich auf den Weg ins Ausland zu machen: selbst staunen und den Menschen von sich erzählen. In der Regel wurden derartige Gespräche mit der Zeit zu etwas Fiktivem. Und es blieb nur zu erraten — wo die Wahrheit lag und was reine Lüge war.

Heute ist es einfacher. In den Zeitungen wird mehr davon geschrieben, und auch das Fernsehen hat in puncto «Ausland» die Augen geöffnet. Es ist zur Mode geworden, dass man sagt: «in der ganzen zivilisierten Welt...». Diese Phrase wird häufig benutzt, es ist nur nicht zu verstehen, zu welcher Kategorie unser «mächtiges» Land gehört, das mit großer Ungeduld auf humanitäre Hilfe wartet, die, zu sich unserer Schande zudem auch noch spurlos in den unbewohnten Weiten Russlands verliert.

Für uns, allerdings, ist eine Reise ins Ausland bis heute ein Wunschtraum geblieben, für «sie» ist es leichter. Man bezahlt und fährt los. Unlängst hieß man auch im Balachtinsker Bezirk Gäste aus Deutschland willkommen. Vertreter anderer Länder unternahmen ebenfalls einen Abstecher zu uns. Die Reaktion von Seiten der Ortsbewohner waren nicht routinemäßig, viele hatten ihre Vermutungen über den Anlass des ausländischen Besuchs.

Übrigens hat mit dieser Visite alles seine Ordnung.

Die Gäste kamen nach Tjulkowo - zum Direktor der Sowchose Wladimir Alexandrowitsch Schmidt. Denken Sie nicht, dass seine Onkel Millionär in Deutschland ist. Nein. Die in Krasnojarsk eingetroffenen Touristen aus Deutschland interessierten sich für das Alltagsleben in dem russischen Dorf – na ja, und natürlich wollten sie sich anschauen, wie die Russland-Deutschen hier leben. Nachdem sie sich mit dem Direktor der Fabrik «Krasmasch», Viktor Alexandrowitsch Schmidt, bekannt gemacht hatten, äußerten sie diesen Wunsch ihm gegenüber. Er machte ihnen den Vorschlag, zu Besuch zu seinem Bruder Wladimir Alexandrowitsch zu fahren.

Die Piloten des Hubschraubers, die schon drei Flüge hinter sich hatten, waren gern bereit, die Reise ein weiteres Mal anzutreten. Am 28. Januar um 12.00 Uhr flogen die Besucher nach Tjulkowo. Unter ihnen befanden sich fünf Touristen aus Deutschland, drei Piloten, Dolmetscher, Journalisten und Fotokorrespondentin von uns.

Wie man weiß, leben in Tjulkowo relativ wenig Deutsche. Wladimir Alexandrowitsch beschloss, den Gästen Tschistye Prudy zu zeigen, wo die Mehrheit der Bevölkerung Wolgadeutsche sind. Hier teilten sich die Gäste in zwei Gruppen auf, streiften durch das Dorf und machten Besuche in den Häusern.

Man begrüßte sie erfreut, bewirtete sie, und manche konnten sich sogar ohne die Hilfe des Dolmetschers verständigen. Obwohl die Sprache sich in vielem unterschied, konnte man sich gegenseitig verstehen. Den Touristen gefiel, wie die deutschen Familien leben. Besonders interessierten sie sich für Alltagsprobleme. Natürlich verglichen sie die Traditionen der beiden deutschen Völker. Es stellte sich heraus, dass es zahlreiche Gemeinsamkeiten gab. Obgleich auf den Schultern mehrere Jahre der Trennung lasten.

Anschließend lud die Familie Schmidt die Gäste zum Mittagessen ein. Auf dem Tisch standen Gerichte aus der nationalen deutschen Küche. Gäste und Gastgeber diskutierten über das Kochen. Die Besucher meinten, dass sich die Küche der Russland-Deutschen von der Art, wie man in Deutschland kocht, ein wenig unterscheidet.

Selbstverständlich redete man bei Tisch nicht nur über die deutsche Küche. Die Gäste fragten besorgt, wie die hiesigen Deutschen sich ihr weiteres Schicksal vorstellten. Ob sie die Hoffnung hegten, dass die Republik an der Wolga wiederhergestellt werden könnte.

Meiner Meinung nach will unsere Regierung diese Frage nicht entscheiden, und für die deutsche Bevölkerung ist es heute schwer, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, da sie über das gesamte Territorium der Gemeinschaft unabhängiger Staaten verstreut lebt. Aber natürlich braucht es eine Entscheidung

Das Gespräch war nur kurz, da sich die Gäste wieder auf den Rückweg machen mussten.

Die Begegnung dauerte nicht lange und hinterließ bei Gästen und Gastgebern warme Erinnerungen. Alle waren erstaunt über die entgegengebrachte Freundlichkeit und Gastfreundschaft. Es ist noch gar nicht lange her, als man davon nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Die Reiseleiterin aus Moskau war auch aufgerüttelt von dem, was geschehen war. Stellen Sie sich vor: ein Militärhubschrauber brachte eine ausländische Reise-Delegation von Krasnojarsk in die tiefste Provinz. Und dann noch nicht mal in ein mustergültiges, sondern in ein ganz kleines sibirisches Dorf.

Heute ist so etwas möglich und, gebe Gott, dass es nicht das letzte Mal ist.

Die Gäste reisten ab, aber die Gespräche blieben. Ich wollte so sehr, dass die ganzen Unwahrheiten über ihren Besuch fortgeweht werden, die man wahrscheinlich schon vor der Landung des Hubschraubers auf Balachtinsker Boden erfunden hatte. Die Deutschen Touristen wollten kein Sanatorium, keinen Tjulkowsker Grund und Boden und andere Sowchosen kaufen. Sie wollen lediglich mit reinem Herzen den Völkern unseres Landes dabei helfen, aus der ökonomischen Krise herauszukommen. Na ja, und dass sie Interesse an den hier lebenden Deutschen bekunden, — das ist wohl allen erklärlich und verständlich.

T. FJODOROWA

„Land-Leben“ (Balachta), 04. Februar 1992
Das Material wurde vom Balachtinsker Heimatkunde-Museum zur Verfügung gestellt.


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