Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Русский

"MEMORIAL": vier Jahre nach der Gründung

"Wie!"- wundert sich der Leser - "Memorial"! Und die leben noch? Was machen die denn da? Man hat ja schon alle längst entlarvt: nicht nur Stalin, sondern auch Lenin mit Marx und Breschnjew mit Gorbatschow!"

Irgendwie versteht man bei uns unter Öffentlichkeitsarbeit so etwas wie Entlarvung. Auf den Platz hinausgehen, das Hemd bis zum Nabel aufreißen und so über den Staat alles zu sagen, was Du denkst - je höher Du hinaufkletterst, je lauter Du schreist, desto mehr bedeutest Du als Aktivist in der Öffentlichkeit.

So auch im "Memorial" in den ersten Zeiten - wer war da nicht alles dabei! Im Grunde genommen war das die erste legale Bewegung. Erinnern Sie sich, was das für ein Ereignis war, diese erste Versammlung des "Memorial" im Jahre 1988. Das war keine geheime Zusammenkunft des Demokratischen Bündnisses im Untergrund, in irgendeiner Wohnung, sondern ein bis auf den letzten Platz gefülltes "Haus des Kinos", mit ausländischen Korrespondenten... Ich möchte unter keinen Umständen die Verdienste des "Demokratischen Bündnisses" geringer einschätzen. Ich will nur sagen, daß ausgerechnet im "Memorial" die Leute, die sich zur Politik hingezogen fühlten, zum ersten Mal OFFEN handeln konnten, und "Memorial" selbst war die erste "alternative" Organisation, die versucht hat, sich normal registrieren zu lassen (was übrigens erst 1991 gelungen ist, und das auf der "Nachputsch-Welle". Wer sich damals nicht alles hat registrieren lassen - sogar die Monarchisten, und "Memorial" haben sie immer nicht zugelassen - und das bringt uns auf einige Gedanken - oder?).

Das alles sage ich dazu, daß die Leute, die im "Memorial" eine Bühne gesehen haben oder einen Startplatz, oder noch irgendeine andere angewandte Kunst, diese Bewegung längst verlassen haben. Mit den Leuten sind auch laute Veranstaltungen und viel Lärm um Nichts verschwunden. Und die Arbeit, für die dieses "Memorial" gegründet wurde, ist geblieben. Eine schwere, uneffektive und nicht zu bewältigende Arbeit.

Repressionsopfer zu finden, die noch am Leben sind, Befragungen zu machen, Fragebogen zu bearbeiten (auf der Maschine schreiben, in Karteien eintragen und die Informationen verschicken). Jenen, die nicht rehabilitiert sind, helfen einen Antrag zu stellen. Denen, die rehabilitiert sind, erzählen, was sie weiter machen sollen: erklären, welche Wiedergutmachungen sie fordern können und wie man sie bekommt. Archive, Expeditionen, Vorbereitungen zum Drucken der Erinnerungen, Hilfe den Repressionsopfern. Kopieren von Fotos, Dokumenten. Führen einer Kartei über die Repressionsopfer. Suche nach den Bestattungsorten.

Und jetzt machen Sie sich einen Begriff davon, "in was für einer Senke wir uns befinden": all das (im ganzen Gebiet Krasnojarsk, mit Ausnahme von Norilsk, Atschinsk und Minusinsk, wo es eigene "Memorials" gibt) machen sechs Leute. Darunter drei Personen - in ihrer Freizeit, nach der Arbeit. Die drei übrigen sind Rentner und haben eine äußerst schwache Gesundheit.

Die anderen "Memorial"-Mitglieder sollen es mir nicht übelnehmen, wenn ich sage, der größte von allen ist Wolodja Birger. Nicht weniger als ein Drittel der Arbeit liegt auf ihm. Die Befragung der noch lebenden Repressionsopfer macht er praktisch allein (ihm hilft Klara Andrejewna Dsjuba). Die konkrete Hilfe für die Repressionsopfer (Konsultieren, Anträge für die Rehabilitation stellen, ständige Gänge zum Sozialamt und anderen Behörden) - das macht auch alles er. Aber auch vieles andere. All das natürlich nach der Arbeit und an den freien Tagen.

Auskünfte einholen: die Befragung eines Repressionsopfers (qualitativ gut und vollständig muß sie sein; und anders macht Wolodja das nicht) - das sind minimal drei Hausbesuche. Jedesmal drei bis vier Stunden. Danach muß das alles bearbeitet und gedruckt und auch noch in andere Städte verschickt werden (wenn der Mann in Lwow verhaftet wurde, im Berlag einsaß, im Siblag und im Karlag, dann muß Wolodja Kopien der Befragung nach Lwow, Magadan, Nowosibirsk und Karaganda verschicken). Allein in Krasnojarsk gibt es ca. tausend Repressionsopfer - und Wolodja ist allein. All das macht er in der Zeit, wenn Sie suchen, wo man im Laden was bekommen kann und wie man überhaupt überlebt. Wenn man im Standardnorm-System noch eine Einheit der Uneigennützlichkeit einfügen würde, dann schlage ich vor, diese Einheit "ein Birger" zu nennen. Ich glaube nicht, daß man viele Leute finden würde, die eine Selbstlosigkeit von "0,9 Birger " hätten.

Selbst wenn man Menschen mit "0,56 Birger" fände, so wäre das eine Seltenheit.

Wladimir Georgjewitsch Sirotinin, oder auf Memorialisch "Chef". Oder sogar so:"Chefa". Auf seinen Schultern liegen Kontakte mit den Vertikalen und Horizontalen des öffentlichen und politischen Lebens, das Ebnen des Weges, das Sichdurchschlagen und das Genehmigenlassen. Diese Arbeit liebt der "Chef" nicht sehr, aber irgendeiner muß sie machen, und er macht sie. Und zur Entspannung sitzt er nachts vor der Kartothek der Repressionsopfer. In ihr befinden sich bereits 8000 Karteikarten. Er beantwortet die zahlreichen Briefe, die an "Memorial" adressiert sind. Er arbeitet mit Akten von Repressionsopfern im KGB-Archiv (denn manchmal darf er sie einsehen) und im Gebietsarchiv. Dank dem "Chef" wissen sogar einige etwas über "Memorial": er gibt nämlich mal ein Interview, mal organisiert er eine Schiffsreise zu Sträflingsorten, mal hält er irgendwo einen Vortrag.

Marina Georgjewna Wolkowa "führt" die repressierte Intelligenz. Angefangen mit ihrem Vater und seinen Freunden (erschossen in Krasnojarsk) wird ihr Arbeitsumfang mehr und mehr.: Musikanten, Artisten, Gelehrte; das Waldtechnische Institut, das pädagogische... Berge von Material, von in den Archiven Abgeschriebenem und Herausgeschriebenem (den Xerox bei "Memorial" gibt es noch nicht, und für die Vervielfältigung "außer Haus" muß man den dreifachen Preis zahlen), viele Erlebnisse/Eindrücke (und Marina Georgjewna ist ein überaus emotionaler Mensch), sehr viel Arbeit. Und nirgends ist Gesundheit: beim letzten Mal haben sie Marina Georgjewna mit dem "Rettungswagen" aus dem Archiv gefahren. Sie gönnte sich ein wenig Bettruhe - und ging wieder an die Arbeit. (Noch ein Beispiel solcher Selbstaufopferung - Ljudmilla Andrejewna Gorelowa aus Narwa, Kreis Mansk, ebenfalls Rentnerin: ihre Beine sind gelähmt, und sie erreichte auf allen Vieren repressierte Landsleute aus dem gleichen Dorf, um sie zu befragen. Und Sie sagen - in unserem Land gibt es keine guten Leute.....)

Iwan Iwanowitsch Jegorow. Bei "Memorial" liebt man ihn sehr. Ein aufrechter, geistreicher, herzlicher Rentner. Er saß seine Haftzeit im Karlag ab. Vor drei Jahren, als man bei uns in Krasnojarsk mit einigem Pomp die Gesellschaft der Repressionsopfer gründete, wurde Iwan Iwanowitsch in den Rat der Gesellschaft gewählt. Er ist der einzige, der seitdem immer noch dort arbeitet. Andere gibt es in der Tat nicht, und die sind sehr weit weg, aber Iwan Iwanowitsch fährt durch die ganze Stadt, untersucht die Lebensbedingungen und bringt den bedürftigen Repressionsopfdern Geld ins Haus, wenn es "Memorial" gelingt, ein bißchen etwas aufzutreiben.

Sascha Jerschkow, der Fotograf von "Memorial". Er greift nicht die Sterne vom Himmel, sondern spannt sich vor das Fuhrwerk und zieht. Solange es noch keinen Xerox gibt, liegt bei ihm alle Arbeit des Kopierens. Nur allein Wolodja Birger wirft ihm jeden Donnerstag einen Packen Dokumente und Fotografien hin. Sascha bewertet den Umfang, pafft eine selbstgedrehte Zigarette und sagt:"wir machen es". Und macht es.

Das ist eigentlich das ganze "Memorial". Noch ein anderer Mann, der eine gigantische Arbeit über verfolgte Litauer führt, Alexander Konstantinowitsch Lijelais; er macht das autonom, im gegründeten Kulturzentrum in Litauen. Und Wolodja Tsurikow bearbeitet die Verbrechen der Krasnojarsker Psychiatrie.

Ab und zu helfen dem "Memorial" verschiedene Leute und Organisationen.

Übrigens, zu den Helfern. Regelmäßiger Sponsor des "Memorial" ist die Firma "Demos". 1990 hat sie, zusammen mit der Firma "Solo-Poljus" die Expedition (zur Halbinsel Taimyr) ins Nordwiklag finanziert. 1991 haben die "Memorial"-Ausgaben der "Demos" rund 17.000,- Rubel ausgemacht, 8000,- davon wurden bedürftigen Repressionsopfern gegeben. Und das alles bei sehr niedrigen Einnahmen (bei "Demos" sind es weniger als zehn Leute, und sie spekulieren nicht an der Börse, sondern unterrichten andere, wie man am Computer arbeitet; der Intellekt in unserem Land wurde ja nie hoch bewertet).

Vielen Dank auch dem Haus der Wissenschaft und Technik: zu der Zeit, bis "Memorial" seine eigenen Räume nicht bekommen hatte, haben das Haus der Technik und "Demos" uns im wahrsten Sinne des Wortes ein Dach über dem Kopf gegeben. Hier befindet sich teilweise das Archiv von "Memorial"; hier steht der Computer (amerikanische "Bourgois" haben uns den geschenkt), hier befindet sich eins von den Kontakttelefonen des "Memorial" (27-95-40), hier hat "Memorial" so etwas ähnliches wie ein Stabsquartier.

Vielen Dank dem IWZ KraSa, das uns unentgeltlich den memorialischen Computer repariert hat (dort mußte man irgendetwas ganz gewaltig umlöten).

Dank der Firma "LongoVitas", die für das "Memorial" die Registrierungsgebühren bezahlt hat. (Übrigens: das Krasnojarsker "Memorial" ist registriert und hat ein Bankkonto: 700089 bei der Krasnojarsker Hauptstelle der MosBisBank, MFO 144018).

Und das ist trotzdem sehr wenig. Wie können Sie "Memorial" helfen?

Und da gibt es noch eine aufschlußreiche Beobachtung. Durch das russische Gesetz über Rehabilitationen, durch das Repressionsopfer 180 Rubel für jeden Monat des Häftlingsdaseins ausgezahlt werden, vermindern sich um die Hälfte die Zahlungen für die Wohnung (Miete), Medikamente, usw., unterzeichnet von Jelzin am 18. Oktober 1991. Im Laufe von zwei Monaten (d.h. bis zum 18.Dezember 1990) sollen von der Regierung Instruktionen zur Anwendung des Gesetzes ausgearbeitet und eingeführt und auch Geld zur Verfügung gestellt werden, usw. Und schon steht der Frühling vor der Tür, aber von oben gibt es weder Anweisungen noch Geld; weder in der Sozialbehörde, noch im Exekutivkomitee weiß irgendjemand etwas und nichts wird ausgezahlt. Und da ist das russische Gesetz über die Mehrwertsteuer, das im Dezember unterzeichnet wurde, und schon im Dezember erhielten alle Ämter/Behörden Anweisungen und bekundeten dazu phantasiereiche Anwendung: sie erheben die Steuer nicht monatlich, wie im Gesetz verordnet, sondern alle zehn Tage. Das braucht man nicht weiter kommentieren: wer wäre nicht in unserem Land an der Spitze der Regierung, ob ein Kreml-Träumer, eine Schweine-Igel, ein Fortschrittlicher, und trotzdem wird es nur in die Richtung gehen wegzunehmen und zu teilen, und nicht in die Richtung, die Schulden zurückzuerstatten.

Und kürzlich gab es übrigens einen Erlaß Jelzins im Zusammenhang mit Parteigeldern: die Verteilung an Bedürftige. So fangen sie mit den Repressionsopfern an - sie warten zu lange, und wer hat an dieser Partei nicht mehr gelitten als sie?

Kommen wir schließlich zum Mahnmal. Wie Sie sich erinnern, befaßt sich "Memorial" mit der Idee eines Mahnmals für Repressionsopfer. Mit einem Mahnmal in Krasnojarsk stehen die Dinge schlecht. Es wurden ein paar tausend Rubel gesammelt, die dafür nicht reichen, und im vergangenen Jahr, und auch in diesem - noch mehr. Mir scheint, daß man diese Geldquelle, so lange sie nicht endgültig "ausgetrocknet" ist, den bedürftigen Repressionsopfern zuteilen und das Mahnmal als "nationales" Bauwerk errichten muß. Wahrscheinlich ist es besser, wenn anstelle von Geld irgendeine SMU (Baufirma) für ein paar Tage einen Kran oder einen Bulldozer zur Verfügung stellen würde, und für Architekten und Bildhauer wäre es das beste Honorar, daß dieses Mahnmal für immer mit ihrem Nachnamen verbunden wäre. Und wahrscheinlich finden sich in der Stadt hunderte von Leuten, die unentgeltlich alle notwendigen Arbeiten machen. Schreiben Sie (660049, Krasnojarsk, Pr. Mira, 3, "Memorial"), womit Sie bei den folgenden Phasen helfen könnten:

1. Ausschreibung für den Ort und das Projekt eines Mahnmals Allgemein gesprochen müssen natürlich Spezialisten dieses Projekt durchführen. Aber ganz wichtig ist die Wahl des Platzes. "Memorial" meint, daß es im Stadtzentrum sein muß; zum Beispiel, in der kleinen Grünanlage bei der "Kinderwelt" (Geschäft für Kindersachen, Spielzeug). Und was meinen Sie?  Für die Durchführung der Ausschreibung braucht man einen Raum und einen Ausschuß. Wer kann einen Raum (kostenlos!) verschaffen und wen soll man in den Ausschuß hinneinnehmen? Und finden sich Architekten, die bereit sind, ohne Honorar zu arbeiten? Oder nimmt irgendjemand die Finanzierung dieser Etappe auf sich?

2. Entscheidung des Stadt-Exekutiv-Komitees über die Errichtung eines Mahnmals. Man muß sich "durchkämpfen", das bedeutet, man braucht dazu aktive Abgeordnete, denen das Andenken an die Umgekommenen teuer ist, man braucht Spezialisten, die in den notwendigen Kabinetts Zutritt finden. Wer ist dazu bereit?

3. Die eigentliche Errichtung.

Es werden Materialien gebraucht, Maschinen, arbeitende Hände, und wiederum Leute, die sich in den Fluren der Macht orientieren. Wird man sie finden? "Memorial" wartet auf Ihre Briefe. Wenn all das oben Genannte irgendjemand machen wird - dann kann man anfangen. Wenn nicht, dann, wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren; klar, daß Sie mit Ihren eigenen Sorgen schon genug haben. Leben Sie wohl mit Ihren Sorgen.

 

Veröffentlicht: "Krasnojarsker Komsomolez"8.02.1992
Alexej Babij 1992


Zum Seitenanfang