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Stalin ist tot

Schauen Sie sich dieses Foto an, sehr geehrte Leser. Erkennen Sie den Platz der Revolution in Krasnojarsk? Nur war er damals, im März 1953, erheblich weitläufiger; hier ist sein östlicher Teil abgedruckt. Es fehlte ein ganzes Viertel mit der wissenschaftlichen W.I. Lenin-Bibliothek, dem wenig später errichteten Gebäude des Rates der Volkswirtschaft mit dem Geschäft „Ekran“, der Sparkasse und dem Café „Riga“... Und an der Stelle des einstöckigen Gebäudes, in welchem das Geschäft „Dynamo“ untergebracht war, und des hölzernen Hauses (auf dem Foto rechts) tauchte später einer der Blocks des Verlags „Krasnojarsker Arbeiter“ auf.

Aus welchem Anlass also wurde dieses Foto aufgenommen? Wert versammelte diese viele tausend Menschen zählende Menge auf dem zentralen Platz des Regionszentrums?

Niemand tat es. Die Leute kamen von selber hierher, nachdem sie im Radio die traurige Nachricht von J.W. Stalins Tod gehört hatten. Für sie war er damals der „großartige Führer und Lehrmeister“, der „wahre Fortführer der Sache Lenins“, „genialer Baumeister des Sozialismus“ usw. usw.

Die Menschen, unter ihnen auch der Autor dieser Zeilen, wussten zu der damaligen Zeit noch nichts von der Diktatoren-Natur, den Missetaten Stalins. Und deswegen beweinten Tausende, Millionen aufrichtig seinen Tod. Das ist auf dem Foto gut zu sehen.

Am Vorabend seines Todestages, wurde mir, einem Journalisten, der damals noch „ganz grün hinter den Ohren“ war, die Aufgabe gestellt, zur „Sibtjaschmasch“ (Sibirischen Schwermaschinenbau-Fabrik“ ; Anm. d. Übers.) zu fahren und eilig ein Essay über eine der Vorzeige-Brigaden zu schreiben. Leicht gesagt - „hinfahren und schreiben“. Denn zu der Fabrik zu gelangen, war alles andere als einfach! Autobusse als solche gab es fast keine, das rechte und linke Ufer des Jenissei waren mit einer unzuverlässigen Pontonbrücke verbunden. Zudem wurde sie zu bestimmten Zeiten geöffnet, um eine Reihe von Lastkähnen und Schiffen passieren zu lassen. Daher zog ich es vor, mit der Eisenbahn an die rechte Uferseite zu gelangen. So setzte ich mich also auch dieses Mal in einen Waggon des Zuges „Utschenik“ (damals gab es so einen, den Prototyp des heutigen elektrischen Vorortzuges) und fuhr zur Bahnstation Slobino. Und von dort bis zur Fabrik – war es nur noch ein Katzensprung.

Bereits unterwegs, am Morgen, hörten wir, die Zug-Passagiere, die alle betäubende Nachricht. Die Menschen resignierten irgendwie, einige Frauen, die ihre Tränen nicht zurückhalten konnten, weinten, die Männer blickten finster drein. Eine gewisse Unbestimmtheit ergriff mich. Sollte er vielleicht lieber in die Redaktion zurückkehren? Aber trotzdem beschloss ich dann nicht zurückzufahren: eine Aufgabe ist eine Aufgabe, man muss sie erfüllen, ganz gleich unter welchen Umständen.

Ich traf mich mit Brigade-Mitgliedern, hielt mich einige Zeit im Parteikomitee auf. Alle waren niedergeschlagen, aber die Fabrik arbeitete weiter. Auf dieselbe Weise kehrte ich am späten Abend wieder zurück.

Und am Morgen des nächsten Tages fragte der Abteilungsleiter verwundert:

- Wo warst du gestern?

- Wieso wo, - sagte ich, - in der Fabrik „Sibtjaschmasch“.

- Schließlich gab es ein Ereignis – Stalin ist gestorben! Bei uns in der Redaktion hat den ganzen Tag über niemand gearbeitet. Und du hättest auch nicht fahren müssen.

Als antworte zuckte ich nur mit den Schultern.

Aber kehren wir nun zu dem Foto zurück.

Aufgenommen hat es unser damals noch junger Foto-Korrespondent Kolja Ignatjew. Ob die Redaktion ihm die Aufgabe gestellt hatte oder ob es aus eigener Initiative geschah, weiß ich nicht. Er entschloss sich das Bild der allgemeinen Volkstrauer festzuhalten. Schließlich waren die Menschen auf den Platz gekommen, um ihre Seele zu erleichtern, vielleicht um von den führenden Köpfen der Region und der Stadt irgendwelche ermutigenden Worte zu hören. Aber die bekamen sie nicht zu hören. Auf der Tribüne (sie befand sich damals in einer Ecke des Platzes, beim Alten, hölzernen Gebäude des Kinotheaters „Lichtstrahl“) erschien somit auch niemand. Offensichtlich warteten sie ihrerseits auf ein entsprechendes Kommando aus Moskau.

Bald darauf prasselten diese Anweisungen eine nach der anderen herab. In allen Unternehmen, Behörden wurden Trauerversammlungen durchgeführt, Schwüre der Treue gegenüber dem „viel zu früh verstorbenen Führer aller Völker“ ausgesprochen. Am 9. März, dem Tag von Stal8ins Begräbnis in Moskau, fand in den Hauptstädten der Unionsrepubliken, den Helden-Städten ein Salutschießen statt – genau um 12 Uhr wurden für die Dauer von fünf Minuten die Arbeit in den Unternehmen unterbrochen, Eisenbahnen, Wasser- und Straßenverkehr standen im ganzen Lande still. In den zentralen Zeitungen erschienen Fotos: am Sarg mit Stalins sterblichen Überresten stehen in der Ehren wache auf der einen Seite G. Malenkow, L. Berija, N. Chruschtschow, auf der anderen – N. Bulganin, K. Woroschilow, L. Kaganowitsch. Bereits in diesen Minuten der „engen Einigkeit und Geschlossenheit um die Partei“, waren die „treuen Mitstreiter“ des Verstorbenen in Gedanken an der künftigen erbarmungslosen Machtergreifung beteiligt…

Mit der Zeit hat die Geschichte alles wieder an seinen Platz gestellt. Im Großen und Ganzen hätte man damals nicht weinen, sondern erleichtert aufatmen müssen, weil man den blutrünstigen Tyrannen endlich losgeworden war.

……Und Kolja Ignatjews Foto kam nicht in die Presse. Indem er das Bild in den Händen hin und her drehte, meinte der Redakteur:

- Irgendetwas fehlt hier… Wir werden es so machen, wie sie im Regionskomitee sagen…

K.Popow
Foto: N. Ignatjew

“Krasnojarsker Arbeiter”, 1992?


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