TREFFEN MIT DEM DELEGIERTEN
Am vergangenen Samstag fand im Bezirkskulturhaus ein Treffen mit dem Delegierten des dritten Kongresses der Russland-Deutschen W. Fritzler statt. Man kann nicht sagen, dass der Saal überfüllt war, allerdings waren zu dieser Veranstaltung doch eine Menge Leute erschienen. Alle wollten wissen, was dort, in Moskau, die 800 Delegierten während dreier Tage beschlossen hätte. Natürlich interessiert das Schicksal der Russland-Deutschen viele Menschen, nur nicht unsere Regierung. Jener Präsident B. Jelzin lehnte, milde ausgedrückt, die Einladung zu diesem Kongress ab und schickte an seiner Stelle S. Schachraj zur Teilnahme an der Sitzung.
— Die Gesellschaft «Wiedergeburt» — ist eine öffentliche Organsiation, — sagte W. Fritzler. — Daher konnten keine großen Hoffnungen auf den Kongress der Deutschen gesetzt werden. Sie waren selbst Zeugen, als sich auf dem Niveau des Kongresses des Obersten Sowjets Russlands gute Beschlüsse und Lösungen in große Diskussionen verwandelten, unter weiter ging es dann auch nicht mehr. Und das auf Staatsebene! Unser Kongress hat also keinerlei Macht dargestellt. Wenngleich die Bewegung selbst nicht als unnötig geleugnet werden kann.
Wer die Entwicklung der Ereignisse beobachtet, weiß, dass es innerhalb der deutschen Bewegung keine Einstimmigkeit gibt. So ist beispielsweise in der Gesellschaft der Deutschen «Wiedergeburt» eine Opposition in Form einer anderen Gesellschaft aufgetaucht, die den großen Namen «Union der Deutschen» trägt. Deswegen hat auch Professor Boris Rauschenbach bei der Begrüßung des Kongresses darum gebeten, die deutsche Bewegung nicht zu spalten und bei der Lösung aller Probleme Einigkeit zu zeigen.
Der Vorsitzende des interstaatlichen Rates der Deutschen, Heinrich Groth, legte vor den Delegierten einen Rechenschaftsbericht über die zwischen den Kongressen getane Arbeit ab. Natürlich war die Hauptaufgabe des Rates die Wiederherstellung der Republik an der Wolga. Zum großen Bedauern muss diese Idee begraben werden. In nächster Zeit wird es jedenfalls keine Republik geben.
Wie W. Fritzler sagte, stehen jetzt vor der deutschen Gesellschaft zwei Aufgben: erstens — den Landsleuten zu helfen, die in ihre historische Heimat, das heißt nach Deutschland, zurückkehren wollen; zweitens — diejenigen zu unterstützen, die in Russland bleiben, aber in ihre nationalen Bezirke u siedeln möchten. Etwas anderes ist nicht angesagt. Obwohl auf dem Kongress noch eine weitere Variante verhandelt wurde. Man sagt, dass es in Argentinien Millionen deutscher Siedlung gibt – auch dorthin könnte man eine Umsiedlung der Russland-Deutschen organisieren. Was für ein Paradox! Und warum kann man die Argentinien-Deutschen nicht hierher, nach Sibirien, umsiedeln?
Schließlich ist für die Russland-Deutschen nicht der eigentliche Tatbestand einer Umsiedlung (egal wohin) wichtig – sie brauchen vielmehr die Republik, die 1941 aufgehört hat zu existieren. Und bis heute ist niemand in der Lage, vernünftig auf die Frage der Zweimillionen-Nation zu antworten: «Wann und wo?». Es bleibt nur ein Ausweg — die angestammten Wohnorte zu verlassen. Einer der Delegierten meinte übrigens: «Ich bin der Ansicht, dass jeder von uns einen Antrag stellen sollte (den Antrag zur Umsiedlung)».
Im Übrigen entscheidet jeder für sich, wo er leben möchte und wie er in einer solchen Situation vorgehen will. In dieser Frage kann niemand einen wahren Ratschlag geben. Allerdings kann und muss man die Russland-Deutschen verstehen — sie brauchen eine erfolgreiche Zukunft. Einstweilen ist sie nur in einer Umsiedlung ins Vaterland zu sehen.
Dr. Horst Waffenschmidt — Bevollmächtigter der Regierung der BRD in Umsiedler-Fragen, der bei der Arbeit des Kongresses in der Delegation Deutschlands mitwirkte, wiederholte das bereits zuvor Gesagte: «Die Tore Deutschlands bleiben geöffnet». Seine Regierung garantiert das Recht, aber auch die Möglichkeit einer Übersiedlung nach Deutschland. Allerdings kann die Bundesregierung pro Jahr lediglich 225000 Umsiedler aufnehmen. Es besteht also kein Grund zur Panik und Aufregung um den Umzug.
Wahrscheinlich interessiert sich jeder für das Wesentliche der Rede von Jelzins „Boten“ Sergej Schachraj. Der Vize-Premier sagte nichts Neues, sondern setzte nur das fort, was schon ein anderer Redner gesagt hatte—der Leiter der «Union der Deutschen» G. Wormsbecher.
Schachraj legte den Schwerpunkt auf die Schaffung deutscher nationaler Bezirke in beinahe 15 Gebieten Zentral-Russlands. Aber gestatten Sie, hier hat doch niemals ein Massen-Zusammenleben von Russland-Deutschen stattgefunden! Wollen denn die Deutschen selbst hierher umziehen? Genau das hat niemand sie gefragt. Mit einem Wort – wieder nur leere Versprechungen.
Nach der Stimmung der Menschen zu urteilen, die zu dieser Begenung mit W. Fritzler gekommen waren, lässt sich urteilen, dass sie inzwischen schon nichts mehr glauben. Dieser Vorwurf richtet sich nicht an unseren Delegierten. Er hat nur das berichtet, was er auf dem Kongress vernommen hat.
W. USINGER
„Dorf-Nachrichten“ (Balachta), 23. März 1993
Das Material wurde vom Balachtinsker Heimatkunde-Museum zur Verfügung gestellt.