Mal steht er da und lässt niemanden durch,
mal fliegt er, wie eine Herde Pferde.
Ich haue auf seinen Stiefel – mit der Spitzhacke,
Aber der Stiefel lässt sich nicht zerhacken…
(A. Galitsch).
Es gab eine Zeit, als jedes Schiff auf dem Jenissei auf jeden Fall in Kureika festmachte, wo sich Josef Stalin in der Zaren-Verbannung befand. Die Exkursionen führten zu dem pompösen Pantheon, man machte sich mit der «titanischen revolutionären und theoretischen Arbeit» bekannt, die der «Vater der Völker» hier geleistet hatte. Und später wurde die Statue des Generalissimus in dem auseinandergeschlagenen Soldatenmantel umgestürzt und im Jenissei versenkt. Heute legen Schiffe in diesen «heiligen Gefilden» an wie ehedem. Allerdings aus einem anderen Anlass.
Genau hier verläuft die Linie des Polarkreises. Und das Überfahren dieser Linie wird immer mit einem Karneval gefeiert. Man putzt sich heraus oder, was noch eher der Fall ist, verkleidet sich als Neptun und Meerjungfrauen, und übergießt die Passagiere mit dem Wasser des Jenissei. Sekt, Lieder, Tanz...
Es heißt, dass das gestürzte Idol mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden des Flusses lag. So dass er mit den Ereignissen über ihm auf dem Laufenden war. Wenn man sich an Deck amüsiert, sieht man auch sein baufällig, inzwischen auch verdrecktes, aber immer noch grandioses, Pantheon. Es liegt etwas Gruseliges in diesem regelmäßigen begangenen Festtag. Bei Pop-Musik über dem dunklen Wasser.
Die Touristen vergnügen sich. Aber die Ortsbewohner... Sie belohnten unlängst eine Heimatkunde-Expedition mit dem Diwan, auf dem Stalin 80 Jahre zuvor ein oder zwei Nächte im Hause der Burzews verbrachte, in der kleinen Siedlung Pupkowo. Der Diwan wurde ans Krasnojarsker Museum gegeben. In der Stadt, in der bis heute Menschen in Straßen namens Diktatur des Proletariats, Dserschinskij, Lenin, Uritzkij, Revolutionär Perenson, Weinbaum oder Majertschak geboren werden und sterben — sind unzählige flammende Namen, verewigt und zu erhalten. Auch heute noch begegnest du in den Zeitungen Lobreden auf Stalin.
Es scheint nur so, als sei viel Wasser hinabgeflossen, seit jenen Tagen, als auf dem Jenissei Lastkähne mit Trotzkisten und Bucharin-Anhängern, Bauern und Vertretern der Intelligenz in die nördlichen Lager unterwegs waren. In Werchneimbatsk (in der Region Turuchansk), riefen wir, nachdem wir eine Hütte am Ufer betreten und mit den Hausherren über das Leben und den Alltag geredet hatten, Großvater Sascha nach draußen, um uns fotografieren zu lassen. Und als wir das Objektiv einstellten, ertönte ein Klicken, der Großvater hatte plötzlich irgendeine Erscheinung— er drehte sich mit dem Gesicht zur Wand, führte die Hände auf den Rücken und begann zu weinen. Wir waren hier Fremde und er, ei9n wenig angetrunken, sprach lange über Stalin, Gefängnisse, die mit «Baumstämmen» bepackten (so nannten sie diejenigen, die unter ständiger Wachbegleitung standen).
Der Krasnojarsker Künstler Wladimir Meschkow versuchte in einer Faktorei im Hohen Norden das Porträt einer jungen Ureinwohnerin zu skizzieren. «Erlaubst du mir, dich zu zeichnen?» Sie rannte in ihren Tschum und kroch im selben Augenblick mit dem Gewehr ihres Mannes in den Händen wieder heraus. Nach langem Hin und Her stellte sich schließlich heraus: das Wort zeichnen («sarissuyu») hatte die Frau als verhaften («arestuyu») wahrgenommen.
Hier am großen sibirischen Fluss wurden so viele Tränen vergossen, dass irgendetwas mit der Zeit nicht stimmen kann. Unsere Beschleunigungen, Demokratisierung, Reformen und Putsche haben das bleierne Gewässer nicht in Aufruhr versetzt. Die ganze Perestroika unter Gorbatschow ist den ortsansässigen Männern in Erinnerung, jeden falls denen, die nicht dem Wodka verfielen. Und es sieht aus, als ob erst gestern die Führer des Welt-Proletariats – Lenin, Stalin, Swerdlow…, auf dem Jenissei vorübergeschwommen wären. Uljanow verbannten sie an einen gesegneteren Ort – den Minussinsker Talkessel. Seine Gefährten hatten weniger Glück. Sie gerieten in Turuchansker Gegenden. Hier mögen die Leute auch heute noch über Stalin tratschen.
Boris Filippowitsch Saltykow, Einwohner von Werchneimbatsk, erzählte mir von seiner entfernten Verwandten: Lidia Platonowna Davidowa war «ortsansässige Ehefrau» Stalins, von ihm bekam sie zwei Kinder. Eines davon verstarb als Kleinkind. Das andere — Sohn Schura — wuchs auf, und außer ihm hatte Lidia noch 17 weitere Kinder.
«Stalin ernährte sein eigenes Kind und auch die fremden Kindern, fur mit dem Boot hinaus zum Fischen. Als er abreiste, wollte Lidia ihn wegen der Zahlung von Alimenten verklagen. Er sagte „nein, schick‘ ihn nach Moskau; dort werde ich ihm helfen“. Es kamen Pakete von ihm, Malenkow kam hierher... Und Schura wurde Postbote; er schickte Briefe aus Turuchansk. Ich achte Stalin, Swerdlow war schlimmer. Er lehrte mich Gemüse anzubauen».
Die Männer aus Werchneimbatsk lauschten Saltykow mit Zustimmung...
Wie Sie verstehen, mangelt es hier an Nahestehenden und Entfernten, an Söhnen und Halbgeschwistern Kobas nicht. Saltykows Geschichte ist — typisch. Eine andere Variante besagt, dass Stalins zweiter Sohn, Pjotr, als Kapitänsgehilfe auf dem Jenissei fuhr.
Doch in Turuchansk bekräftigte die wissenschaftliche Oberassistentin des Museums, Swetlana Rostomaschtschwili, — die einzige, die, wie sie selbst sagt, die Wahrheit über das einheimische Leben Stalins kennt —, dass Lidia Platonowna Davidowa tatsächlich die offizielle Ehefrau Dschugaschwilis war. Damals hieß sie noch Pereprygina. Davidow heiratete sie erst später. "«Nach allen Dokumenten, Briefen, Erinnerungen, war Stalin bis 1916 ein ordentlicher Mensch, — sagt Swetlana. — Der Sohn? Er erkannte den Vater nicht an. Er studierte am Politechnikum. Er starb in Nowokusnezk. Über ihn weiß hier niemand etwas».
Am Stadtrand von Turuchansk, in einer armseligen Baracke, wohnte eine Großmutter – die Tochter der Davidows...
"Die Ortsansässigen sagen: hier hat Stalin seine glücklichsten Jahre seines Lebens verbracht. Immer noch gehen Erzählungen darüber, wie fröhlich er war, wie er die Lesginka (kaukasischer Tanz; Anm. d. Übers.) tanzte, viel trinken machte ihm nichts aus.
Ich habe nicht versucht genau herauszufinden und zu unterscheiden, was an dem Gehörten nun der Wahrheit entspricht und was ausgedacht ist. Das ist Sache der Historiker, Archiv-Mitarbeiter usw. Mich interessierten lediglich die Metamorphosen der menschlichen Erinnerung, Überlieferungen und Legenden über den Tyrann aus den Quellen konkreter Menschen, die im Turuchansker Bezirk lebten.
Es sind Märchen, in die winzige Teilchen Wahrheit eingefügt sind, Märchen, in die kommunistische und Volksideale verflochten sind, und viele sprechen von den Trägern des Mythos selbst, von ihren Lebensanschauungen. Erzählungen darüber, wie Josef Lidias 17 Kinder ernährte, wie meisterliche er Fische fing, was für ein guter Mensch er war... (Wenngleich sicher die «aufrichtig gemeinte Freigebigkeit» des damaligen Koba bekannt ist: um Geld für Wodka war es ihm nie schade_— und eine Flasche Schnaps kostete in Kureika fünf Rubel, — aber seinen kranken und besitzlosen Kumpels in der Verbannung opferte er gerade einmal 50 Kopeken). Beinahe unglaublich — wie erhielt sie sich? — diese Selbstachtung: der Sohn verweigerte die Anerkennung eines solchen Vaters, zerschlug seine Portraits, die Ehefrau verlangte die Einforderung von Alimenten vom «Vater aller Völker»...
Mit diesem ganzheitlichen und in sich ruhenden Mythos lohnt sich das Streiten nicht. Die Erinnerung kennt keine Fehler. In diesen Märchen liegen — sowohl Würde, als auch ruhige Weisheit. In den Hauptstädten scheint es so, als ob die Zeit irgendwohin fließt, die Geschichte sich schrittweise entwickelt. Aus Werchneimbatsk, Kureika, Turuchansk sieht man etwas anderes: im Leben, im Wesen kann kaum etwas sie verändern. Und alles wiederholt sich in regelmäßigen Abständen. Wenn im Oktober hier die Lastkähne mit «Baumstämmen» vorüberziehen, wundert man sich hier nicht: hier erinnert man sich.
Nach einer sibirischen Legende, ist Lenin, wenn der Monat jung ist, als Sichel am Himmel hängt — ein junger Mann, wie Milch und Blut. Aber wenn der Vollmond sich nähert, der Mond sich zu runden beginnt, ist Ilitsch alt und wird zum Großvater.
Ilitsch und Koba sind hier, sie sind nicht verschwunden.
In der kleinen Polarsiedlung Ust-Port leben zahlreiche Deutsche. Ich sah die Begegnung einer jungen Journalisten aus Deutschland mit ihnen. Eine betagte Frau, die sich um die Kinder im Internat kümmerte, sprach gut Deutsch. Das Schiff ließ bereits die Sirene zum Abschied ertönen, aber sie stand immer noch mit Uta - so hieß die deutsche Journalistin — zusammen, und beide umarmten sich. Die Frau, die ihre Heimat, die ihr vertrauten Menschen verloren hatte, die an den Rand der Welt verschleppt worden war, strich Uta über den Kopf, weinte, klopfte ihr auf die Schulter und flüsterte ihr etwas zu. Sie blieb als kleiner Punkt am Ufer zurück. So wird sie hier auch sterben.
Dort, wo die Erinnerung an Geistererscheinungen stärker ist, als der Glauben an Veränderungen, die sich im fantastischen, fernen Moskau vollziehen.
Aleksej Tarassow, «Iswestija»
REGION KRASNOJARSK.
Auf den Fotos: Großvater Sascha aus Werchneimbatsk. Kureika. Stalin-Pantheon.
Fotos: Boris SOLOWJEW.
Iswestija. 26.10.1993