EHRENBÜRGER DES BEZIRKS
Die feierliche Versammlung, gewidmet dem 70. Jahrestag der Gründung des Balachtinsker Bezirks, näherte sich dem Ende. Das stellvertretende Oberhaupt der Administration W.W. Dolgich verliest die Verfügung über die Verleihung des Titels «Ehrenbürger des Balachtinsker Bezirks». Diejenigen, die ihn verdient haben, betreten die Bühne, sie bekommen rote Bänder über die Schulter gehängt und man verleiht ihnen die Urkunden. Als letzter auf der nicht sehr langen Liste war der Direktor der Landwirtschafts-GmbH «Krasnenskoje» Genrich (Heinrich) Genrichowitsch Schmidt aufgeführt. Er betrat die Bühne in ungewöhnlich ergriffener und sogar ein wenig fassungsloser Weise, aber nach der Zeremonie, der Aushändigung des Bandes und der Überreichung der Urkunde, trat er, immer noch aufgeregt, ans Mikrofon. Seine Rede war kurz, ein wenig konfus, aber warm und aufrichtig:
— Ich wurde eine Woche nach dem Beginn des Großen Vaterländischen Krieges
geboren, und im August desselben Jahres, als ich gerade erst einhalbes Jahr alt
war, siedelte man, entsprechend der bekannten Anordnung des Präsidiums des
Obersten Sowjets der UdSSR die Wolgadeutschen ins tiefste Sibirien, nach
Kasachstan und Mittel-Asien um. Es bedeutete für sie, unter ihnen meine Eltern,
eine Tragödie. Die Mutter war so erschüttert, dass sie mich in die Wolga werfen
wollte, damit ich nur in heimatlichen Gefilden bliebe. Aber natürlich tat sie
das nicht, und so wurde Sibirien für mich zur zweiten Heimat, der Daurische und
später der Balachtinsker Bezirk. Ich wuchs in dem Dorf Krasnij Klutsch auf, hier
lernte ich auch die ersten Freuden des Lebens kennen und den ersten salzigen
Schweiß der Arbeit. Ich wurde erwachsen, machte eine Ausbildung wurde Leiter
einer starken Wirtschaft, was bedeutet, dass ich auf dieser Erde nützlich war.
Ich bin den Genossen und Kollegen sehr dankbar, die ihre Erfahrungen mit mir
teilten, mir halfen, die Leitung zu übernehmen — es handelt sich im die
Sowchosen-Direktoren Schestakow, Chrenow, Jewdokimenko. Ich bin den ehemaligen
ersten Sekretären des Bezirkskomitees der Partei dankbar, die mich anleiteten
und prinzipiell forderten, meine Fehler korrigierten und mich die richtigen,
aussichtsreichen Entscheidungen schwieriger Wirtschaftsfragen wissen ließen —
das waren Welitschko, Abramenko, Samura. Ich bin dem Kollektiv der Wirtschaft
dankbar — die tägliche gewissenhafte Arbeit der Viehzüchter und Mechanisatoren,
der Spezialisten und gewöhnlichen Arbeiter stellte die Wirtschaft auf stabile
Füße, was bedeutet, dass auch die Leiter an Autorität gewinnt. Unser Kollektiv
besteht aus zahlreichen Nationalitäten, aber wir leben alle in einem
freundlichen Miteinander, und das ist besonders wichtig in der heutigen Zeit,
wenn am Rande Russlands ethnische Konflikte ausbrechen. Die einfachen
Werktätigen brauchen solche Konflikte nicht, und wir werden umso stärker und
reicher, je freundschaftlicher wir miteinander leben, indem wir einander
respektieren und unterstützen. Ich bin glücklich, dass ich unter russischen
Menschen meinen Platz im Leben gefunden und als Mensch und Vorgesetzter Bestand
habe.
Gute Worte, und ich weiß, dass dies keine Hommage an den Augenblick ist. Mit
Andrej Andrejewitsch (so hat man ihn schon lange nach russischer Art «umgetauft»
— es ist bequemer für Sprache und Ohr) habe ich nicht nur einmal lange Gespräche
führt, und diese Worte habe ich von ihm ebenfalls häufig gehört. Es ist die
Position des Bürgers eines multinationalen Landes, und sie ist klug und bestimmt.
Über die Wirtschaft «Krasnenskoje», der Andrej Andrejewitsch nun schon seit zweiundzwanzig Jahren ununterbrochen voransteht, wurde in den vergangenen Jahren eine Menge berichtet. Nach unseren Bezirksstandards nicht sehr groß, hat die Krasnensker Sowchose ständig die führenden Ränge, sowohl bezüglich der Ertragsleistung des Viehs als auch bei den Erträgen an Getreide und Futterkulturen eingenommen. Von Jahr zu Jahr stiegen die Wirtschafts- und Produktionsindikatoren — vielleicht nicht so schnell und beeindruckend, dafür jedoch beharrlich, und darin lag zweifellos der große Verdienst des Direktors. Viel Aufmerksamkeit wurde der Entwicklung der sozialen Sphäre gewidmet: es wurden Wohnungen gebaut, es gab eines der besten Dienstleistungszentren im Bezirk, man errichtete Geschäfte und eine Kantine, erhöhte das Niveau für den sozialen Schutz der Rentner. Die Krasnenzer erwarben PKWs und Motorräder, Möbel-Einrichtungen und Farbfernseher — der Lohn machte dies möglich. In Besjasykowo wurde ein neues Schulgebäude errichtet, in Krasnoj entstand eine Wasserversorgung. Natürlich wurden auch Produktionsobjekte gebaut: eine große Garage für Traktoren und Automobile mit einem Reparatur-Block, ein Kuhstall und Lager-Räumlichkeiten. In den Plänen des Direktors gab es auch den Bau einer neuen Schule und die Umwandlung der Schule in eine Mittelschule, die Entstehung eines neuen Kulturhauses und sogar die Asphaltierung der Dorfstraßen. Und man darf nicht daran zweifeln, dass diese Pläne einmal Wirklichkeit werden — die Sowchose macht solide Gewinne, die Rentabilität hat die 50% überschritten, Geld ist für Vieles vorhanden.
Alles brach mit dem Aufkommen unseres wilden, hässlichen «Marktes». Jäh öffnete sich die Preis-«Schere» für industrielle und landwirtschaftliche Produkte, führte die Gewinne gen Null, und schließlich geriet die Sowchose in die Schuldenfalle. Dazu trug auch in keinem geringen Maße die «weise» Politik der regierenden «Radikal-Reformer» bei: nämlich die Wirtschaften nicht für die an den Staat abgegebene Produktion zu bezahlen. Das heißt, man versuchte durch unmittelbare, schamlose Ausplünderung der Bauern die entfesselte Inflation zu stoppen. Wie alle Menschen mit gesundem Menschenverstand, verflucht Andrej Andrejewitsch diese destruktiven «Reformen», aber gleichzeitig auch seine Naivität.
Ja, er hat sich ebenso wie die Mehrheit der Sowjetmenschen mit Bereitschaft gegenüber der Idee der Perestroika geäußert. Mit Verspätung, wie wir alle, hat er dann begriffen, dass es einfach überhaupt keine Ideen gab. Stattdessen gab es ohne Ende papageienhafte Ausrufe des ersten und letzten Generalsekretärs und Präsidenten: «Perestroika», «Demokratisierung», «mehr Sozialismus». Ja, die Perestroika war notwendig — jedem die seine. Für ihn, A.A. Schmidt, dem erfahrenen, vernünftigen und tüchtigen Geschäftsführer, war die Perestroika wie eine Befreiung vom Weg der bürokratischen Allmächtigkeit, als jeder Schritt des Leiters mit einem Dutzend «übergeordneten» Instanzen übereinstimmen sollte, als Kontrolle eine normale, vernünftige Erscheinung im ökonomischen und wirtschaftlichen Leben war — alles wurde ad absurdum geführt und verwandelte sich ins hirnlose Gegenteil— die Unterdrückung jeglicher wirtschaftlicher Initiativen.
Das Land stand an einer Wegkreuzung. Politische Leidenschaften heizten sich immer mehr auf, tausende Menschen machten sich zu sozialen Aktivitäten auf, die vorher still und friedlich in ihren Büros und Labors gesessen hatten. In den Republiken verschärften sich die Stimmungen zum Separatismus, unter anderem auch in Russland. Andrej Andrejewitsch, der im Leben stets eine aktive Rolle eingenommen hatte, unternahm ebenfalls den Versuch, den großen Weg der politischen Tätigkeit zu gehen. Im Verlauf der Wahlkampagne zur letzten Zusammensetzung des Obersten Rates der Russischen Föderation schloss er sich dem Kampf um ein stellvertretendes Mandat an. Während dieser Zeit veranstalteten die neu aufgetauchten «Demokraten» an allen Kreuzungen großes Geschrei über die demütigende Lage Russlands unter den anderen Republiken, über die Umverteilung des Nationaleinkommens zu ihren Gunsten. Es gab keinen Mangel an Aufrufen, die Gerechtigkeit wiederherzustellen, den Russen ihre Würde wiederzugeben. Äußerlich war alles züchtig, aber wozu es tatsächlich führte, ist bekannt — die Großmacht hörte auf zu existieren.
In jenen Tagen erlag auch Andrej Andrejewitsch der Versuchung mit den demagogischen Losungen der «Eigenmächtigkeit». Doch wer konnte damals erkennen, welche Ziele die obere Etage der partei-staatlichen Nomenklatur tatsächlich verfolgte, die schnell zur Klasse der neuen Bourgeoisie entarte? Es war nicht die Sorge um Russland und die Russen, die sie vorwärtsbewegte, sondern ihre eigenen egoistischen Interessen.
A.A. Schmidt erhielt damals, 1990, nicht das Deputiertenmandat, da er lediglich die dritte Position bei den Wahlresultaten einnahm. Doch die Teilnahme am Vorwahlkampf verlieh ihm eine unschätzbar große Erfahrung, erlaubte ihm, die wahre Stimmung der arbeitenden Menschen, ihre Bedürfnisse und Forderungen zu studieren. Er fühlte, dass ein radikaler Zusammenbruch aller Grundlagen der früheren Lebensweise bevorstand, und darauf musste man sich vorbereiten.
Dan gab es den August und den Dezember 1991, den Januar 1992 und andere Meilensteine einer scharfen Wende zum Kaptialismus. Die Gesellschaft zerbrach, weit auseinander drifteten die Grundinteressen ihrer verschiedenen Gruppen und Schichten. Man musste wählen — mit wem man mitlaufen wollte. Andrej Andrejewitsch traf seine Wahl, ohne zu zögern — mit seinem Arbeitskollektiv, und das bedeutet, mit der Mehrheit des Volkes, denn er selbst — ist ein untrennbares Teilchen dieses Volkes.
Jetzt ist es für den Chef sehr schwierig zu arbeiten: er steht da mit einer Vielzahl schwer lösbarer Probleme. Ihn erdrücken die Preise, die Steuern, die Bankzinsen für Kredite, Zahlungsausfälle, Probleme mit dem Absatz der Produkte. Aber mehr als je zuvor schaut man mit Hoffnung und hohen Ansprüchen auf den Leiter seines Kollektivs: finde einen Weg zum Überleben! Andrej Andrejewitsch gelingt es. Trotz allem ging der Viehbestand nur auf 200 Kopf herunter, und der Milchertrag machte im vergangenen Jahr durchschnittlich 3840 Kilogramm Kuh aus — der vierte Indikator im Bezirk! Und die Bautätigkeiten wurden auch nicht vollständig eingestellt — dieses Jahr werden drei Wohnhäuser fertiggestellt. Aber das Wichtigste ist — bei all den Schwierigkeiten erhalten die Leute regelmäßig ihren Lohn, und um den ist es gar nicht so schlecht bestellt — durchschnittlich 100—120 Tausend Rubel. Im Laden des Wirtschaftsbetriebs können die Arbeiter alle notwendigen Waren erwerben. An Getreide wurden im vergangenen Jahr jeweils 23,3 Zentner pro Hektar geerntet, es gab so viel Heu, dass es noch für die Hälfte der bevorstehenden Überwinterung reicht. Aber wie dem Direktor all das zufällt – das weiß nur er allein.
...Es kam ein Anruf aus Krasnij:
— Am 30. Juni hat unser Andrej Andrejewitsch Geburtstag. Schreiben Sie irgendetwas Schönes in unserem Namen. Er ist so ein … Mensch … Wir wissen nicht, wie wir ohne ihn leben sollten. Wir haben ihn nie mutlos oder trübsinnig gesehen, er zeigt sich immer wohlgemut, energiegeladen, aktiv. Es kommt aber auch vor, dass er «aus der Haut fährt», aber er tut es um der Sache willen, und zehn Minuten später ist er dann wieder freundlich und wohlwollend. Man kann sich mit jeder beliebigen Frage an ihn wenden — er weist einen nicht zurück. Bezüglich der Rentner bekundet er eine besondere Fürsorge, und gegenüber den anderen Arbeitern auch.
Angerufen haben – und das halte ich nicht geheim - wichtige Spezialisten. Doch auch von zahlreichen Arbeitern hat man mehrfache solche Äußerungen gehört.
Ja, heute vollendet A. A. Schmidt sein 53. Lebensjahr. Noch ist es nicht an der Zeit eine Bilanz seines Lebens zu ziehen, aber es ist schon eine Menge getan. Er hat das Vertrauen und die Liebe eines großen Kollektivs gewonnen — gebe Gott, dass er es auch jedem von uns gegeben hat.
W. SKIRDA
„Dorf-Nachrichten“ (Balachta), 30. Juni 1994
Das Material wurde vom Balachtinsker Heimatkunde-Museum zur Verfügung gestellt.