Die Jubiläumsfeierlichkeiten anläßlich des 375. Jahrestages des „Vaters aller sibirischen Städte“ liegen hinter uns. Aber es treffen weiterhin Briefe mit Liebeserklärungen an diese Stadt ein. In ihnen kommt das schwere Leben der Sibirjaken zum Ausdruck, wie es übrigens auch bei allen anderen Russen der Fall ist. Aber aus ihnen spricht auch jene lebhafte, liebende Seele, dank der wir bis zum heutigen Tage existieren konnten – ungeachtet aller Schicksalsschläge und schlechten Erfahrungen. Die offiziellen Feiern zu diesem Jubiläum sind als beendet. Doch die Rubrik „Unsere Heimat – Jenisejsk“, die wir vor fünf Jahren begonnen haben, wird bleiben, denn sie ist die ebenfalls lebhafte, gute und liebende Seele unserer Zeitung.
Am 8. Oktober 1941 wurden wir, Deutsche von der Wolga, mit einem Lastkahn von Krasnojarsk in das Dorf Marlowzewo im Bezirk Jenisejsk gebracht. Hinter uns lagen 18 Tage und Nächte einer Fahrt in die ewige Verbannung, die mit schrecklichem Hunger und dem Tod naher Angehöriger verbunden war. Es starb Tante Amalia (Amelie) Wolf, die fünf Waisen hinterließ. Der älteste Sohn, Karl, war damals erst neun Jahre alt. Amalies Kinder leben heute in Krasnojarsk, Jenisejsk und im Gebiet Tscheljabinsk. Aufgewachsen sind sie in einem Jenisejsker Kinderheim, denn den Vater hatte man in die Trudarmee geholt (so nannte man die Lager für die inhaftierten Deutschen), wo er später verhungerte. Weitere sechs Verwandte kehrten ebenfalls nicht zurück.
Von Jenisejsk aus wurden wir mit Pferden in die verschiedenen Dörfer des Bezirks gebracht. Wir überlebten, machten sogar eine Ausbildung. 1943 wurde in Marilowzewo eine Schule eröffnet. Uns unterrichtete eine junge, sympathische Lehrerin namens Elisaweta Nikititschna Marilowzewa und später Sofia Fedorowna. Die fünfte Klasse absolvierte ich in der Jenisejsker Schule N° 45, die direkt neben dem Markt lag. In der großen Pause liefen wir immer hinüber, um dort Bekannte aus den anderen Dörfern zu treffen. An den freien Tagen und in den Ferien gingen wir alle zusammen die 30 Kilometer zufuß nach Hause – die Marilowzews (Wasilij, Aleksander, Grigorij und Petr), Naria Ustinowa und Fedja Wereschagin aus dem Dorf Tscherkassy.
Im Winter lernten wir, im Sommer arbeiteten wir ab dem 10. Lebensjahr in der Kolchose – für 500 gr Brot und die Anrechnung von Tagesarbeitseinheiten, für die wir zwischen 200 und 500 gr Brot und 6 Kopeken Lohn erhielten. In der 7. Klasse, daran kann ich mich noch ganz besonders erinnern, unterrichtete uns in Mathematik Wasilij Silin. Er brachte es fertig, innerhalb einer einzigen Unterrichtsstunde jeweils 15 Schüler zu befragen und dann auch noch neues Unterrichtsmaterial zu erklären.
In all den Schuljahren hatte ich in Geometrie, ohne mich groß vorzubereiten, immer ein „sehr gut“. Nach der Schule folgten die Examina an der pädagogischen Fachschule. Und dann kamen Wasilij Marilowzew und ich ans Krasnojarsker Technikum für Erfassungs- und Planwesen; und inzwischen ist es bereits 40 Jahre her, seit wir unsere Diploma bekommen haben.
Der Direktor des Technikums mochte die deutschen Jungs nicht besonders. Ich schnitt stets mit „sehr gut“ ab, benahm mich mustergültig, und trotzdem ließ er mich am Ende des vierten Kursus „hängen“. Er erteilte mir schlicht und einfach einen Verweis dafür, dass ich Weta Pustowalowa bis zum Eingang des Wohnheims gebracht hatte. Gemäß einer Anweisung durfte sich nach 9 Uhr abends keine fremde Person mehr auf dem Gelände aufhalten, und ich war dort wohl ein wenig später herumgelaufen. Trotzdem machte ich mein Diplom mit der Note „sehr gut“.
Ich erinnere mich noch an den Verbannten Wasilij Michailowitsch Barkow, einen ehemaligen Dozenten aus dem Polytechnischen Institut in Kiew. Er unterrichtete bei uns Physik, Chemie, Elektrotechnik (später wurde er vom Direktor zum Arbeiten in der Schmiede versetzt). Als mich ein Angehöriger der Miliz aus dem Physikunterricht holte, weil ich mich in der Sonderkommandantur melden sollte, beruhigte Wasilij Michailowitsch mich. Ich kehrte gesund und munter aus der Kommandantur zurück, aber dafür mit Tränen in den Augen, denn ich hatte unterschreiben müsen, dass ich die Androhung „Bei Flucht – 20 Jahre“ zur Kenntnis genommen hatte. Danach mußte ich mich jeden Monat zweimal in der Kommandantur melden und registrieren lassen. Wie alle anderen auch, wollte ich 1952 gern der Komsomolzen-Organisation beitreten, aber beim Stadtkomitee in Jenisejsk sagten sie uns: „Solche wie euch nehmen wir nicht...“. Einen Ausweis bekam ich 1956, als ich bereits 22 Jahre alt war.
Und weiter schwammen wir zu siebt auf dem Raddampfer „Spartak“, in einer Kabine vierter Klasse, für 80 Rubel, den Jenisej flußabwärts nach Dudinka und Norilsk. Zu dem Zeitpunkt waren wir 20 Jahre alt. Mit mir waren Sascha Aleksandrow, Tamara Rosenbaum, Ljusja Kolsina, Tonja Denisenko, Galja Sedlak und Mascha Mesenzewa. Wir hatten alle einen hölzernen Koffer bei uns, einen Becher, einen Löffel, ein paar Bücher, eine gesteppte Wattejacke und Stiefel aus grobem Schweineleder.
Die Nacht verschwand, die Taiga war bereits in Tundra übergegangen, als wir in Dudinka an Land gingen. Bis zu den Knien im Schlamm gingen wir neben einem Leiterwagen her, bis wir den Bahnhof erreichten. Und weiter ging es nach Norilsk mit seinen qualmenden Fabrikschloten, seiner zeitgenössischen Architektur, den eisigen Frösten und Schneestürmen. Wir arbeiteten mit viel Enthusiasmus im hohen Norden.
Aber ich möchte noch etwas über Jenisejsk sagen, über die Stadt, die mir so lieb und teuer ist, und die noch viel schöner wäre, wenn nicht die Kirchen zur Zeit der Sowjetmacht zerstört worden wären. Wären sie nicht zerstört worden, dann wären die Seelen der Menschen viel ruhiger. Ich wünsche mir von Herzen, dass man die Gotteshäuser wieder aufbaut. Diese Stadt hat das verdient. Hier lebten einst viele Verbannte. Und es gibt nicht einen unter ihnen, dem ich irgendetwas schlechtes nachsagen könnte. Es waren alles kluge, ordentliche Leute. Ich wünche mir für Jenisejsk Aufschwung und Entwicklung. Oft bin ich dorthin gefahren, fast jedes Jahr. Auch jetzt habe ich wieder Sehnsucht. Es ist schon gut, dass ich in Jenisejsk geboren bin. Möge der Stadt Friede und Güte beschieden sein.
W. Schnaider (Schneider), Stadt Hasarowo
„Krasnojarsker Arbeiter“, 03.09.1994