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Unfreiwillige Sibirjaken

Aus Zeitmangel haben wir es nicht geschafft, diejenigen Umsiedler zu treffen, die heute in den Scharypowsker Bezirk kommen. Dafür ist uns eine Begegnung mit der Familie von Iwan Jakowlewitsch und Emma Andrejewna Maisner (Meissner?) gelungen – Wolgadeutsche, die vom Vater aller Völker nach Sibirien verschleppt wurden. Sie leben in der Hauptstraße von Nowaja Altatka. Als wir ans Tor klopften, ertönte uns als Antwort das freundliche Gebell mehrerer Hunde entgegen. Der größte von ihnen, ein Collie, lag an der Kette. Für die Augen eines Stadtbewohners ist das ein ungewöhnliches Bild, und so wollten wir auch herantreten und das Tier streicheln: „Ruhig, Dummchen, du brauchst dich nicht gleich so aufzuführen…“. Die Hauswirte indessen erwiesen sich als überaus gastfreundlich und gesprächig.

Beide sind gebürtig aus Engels, beide befinden sich bereits – jenseits der achtzig. In der Heimat arbeiteten sie in einer Kolchos, Iwan Jakowlewitsch als Brigadeführer der Traktoristen, seine Ehefrau auf der Dreschmaschine oder bei anderen Tätigkeiten. Sie waren nicht reich, aber es ging ihnen gut. Im Jahre 1941 nahm das Leben für sie nicht nur aufgrund des Krieges eine jähe Wendung: sie wurden fortgejagt und in fremde Gefilde verschleppt. Sie siedelten die Umsiedler (etwa ein Dutzend Familien) in Glinka an, einem Dorf, das nicht weit von Altatka entfernt gelegen ist. 1942 wurde Iwan Jakowlewitsch in die Trudarmee mobilisiert. Emma Andrejewna bewahrte ihre Schwangerschaft davor, aber im allgemeinen holten sie alle, die für den Dienst an der Front aus gesundheitlichen oder ideologischen Gründen nicht geeignet waren. Darunter auch die deutschen Frauen.

An die Trudarmee erinnert Maisner sich wie an einen schrecklichen Traum. Zuerst hielt man sie in Krasnaja Sopka fest, später in Uschur und anschließend brachte man sie in das Gebiet Kirow zur Holzfällerei. Verpflegt wurden sie wie im Lager – mit 50 Gramm Brot pro Tag. Viele starben deswegen den Hungertod. Als Kleidung trugen sie das, was sie hatten oder was ihnen unter die Finger kam: Schnürstiefel stellten sie aus den alten Reifenmäntel von Fahrzeugen her, Hosen und Wattejacken wurden ebenfalls aus Abfällen genäht.

Anfangs arbeiteten sie gänzlich ohne freie Tage, später bekamen sie aus lauter Großzügigkeit drei freie Tage pro Monat zugeteilt.

Streng verfuhren die Behörden nicht nur mit Erwachsenen, die eine „falsche“ Nationalität hatten, sondern auch mit ihren Kindern. Kleine Kinder, deren Eltern in der Arbeitsarmee gegen Hunger und Kälte ankämpften, wurden anderweitig in Obhut gegeben. Und diejenigen, die das zehnte Lebensjahr vollendet hatten, sollten selber für ihre Ernährung sorgen …

An den Maisners ging dieser Kelch vorüber, alle sechs Kinder sind am Leben und gesund. Nur Deutsch können sie nicht, und sie wollen es auch nicht lernen, wenngleich die Eltern auch heute noch in ihrer Muttersprache miteinander reden; Russisch können sie immer noch nicht besonders gut.

1946 kehrte Iwan Jakowlewitsch aus der Trudarmee zurück. Zu der Zeit war von 18 Arbeitstrupps in der Holzfällerei nur noch einer übrig geblieben, die anderen waren, nach seinen Worten, aufgrund der alle Kräfte übersteigenden Arbeit und anderer unglücklicher Umstände ums Leben gekommen. In jedem Trupp waren 2500 bis 3000 Mann gewesen …

Danach folgte die Arbeit in der Sowchose. Als die Zeiten sich änderten, hörte man auf sie als Volksfeinde anzusehen, - sie begannen ein neues Leben, und das taten sie nicht schlechter als die anderen. Sie zogen nach Altatka um, wo man ihnen eine Behausung zuteilte. Als sie in Rente gingen, waren sie angesehene Leute, und Iwan Jakowlewitsch bekam sogar eine Gedenkmedaille als Veteran der Arbeit. Somit hatte alles seine gute Ordnung gefunden…

Wir fragten – und wir kamen nicht umhin dies zu tun -, ob die beiden nicht den Wunsch gehabt hätten, nach Deutschland auszureisen, als dies endlich möglich wurde, so wie viele andere Wolgadeutsche es getan haben. Fort aus dem Land, welches sie als seine Feinde hingestellt hatte, fort von Menschen, die fremdes Leben nach ihrer eigenen Manier hatten zuschneiden wollen. Nein, sagen sie, der Gedanke ist uns nicht gekommen. Weshalb denn auch jetzt noch ausreisen …

Iwan Jakowlewitsch und Emma Andrejewna danken Gott für den guten Direktor, der ihnen immer Getreide und etwas Schrot kostenlos überlässt – so dass sie ihre kleine Landwirtschaft erhalten können.

Sie dankten auch uns, den ungebetenen Gästen. Danke, sagen sie, dass sich irgendjemand dafür interessiert, wie wir gelebt haben und wie es uns jetzt geht. Man hätte sich nur schon ein wenig früher für uns interessieren sollen …

„Krasnojarsker Komsomolze“, 11.06.1995


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