Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Es gibt keine zwei Heimaten

MEINEN DIE DEUTSCHEN AUS KRASNOJARSK, DIE DIE DEPORTATION MITERLEBT HABEN

Die ersten Misserfolge der Roten Armee im Krieg gegen das faschistische Deutschland trugen zur Verschärfung der politischen Situation in zahlreichen Bezirken des Landes, einer gewissen Destabilisierung in den internationalen Beziehungen bei. Hier zeigten sich auch Resultate der zielgerichteten Propaganda-Aktivitäten des Gegners, die die Absicht hatten, Feindschaft, Misstrauen unter den Nationen und Völkerschaften des Landes zu säen. Die Regierung beschloss, auf neue Aktionen zur Deportation zurückzugreifen, um der Situation die Anspannung zu nehmen und die entstandenen Konflikte zu bereinigen. Jetzt waren nicht mehr nur einzelne Bevölkerungsgruppen oder eine fremde Nationalität der Zwangsmigration ausgesetzt, sondern ganze Völker.

Am 12. August 1941 wurde die gemeinsame Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR und des Zentralkomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) ¹ 2060-935 (streng geheim) verabschiedet, auf deren Grundlage am 23. August das Dekret "Über die in den Wolgagebieten lebenden Deutschen" veröffentlicht wurde. "Sie müssen umgesiedelt werden, — schrieb in einem Bief an die NKWD-Behörde der Republik der Wolgadeutschen der Volkskommissar L.P. Berija, — Städter — in Städte, Landbewohner — mittels Umsiedlung vollzähliger Kolchosen in existierende Kolchosen und Sowchosen". Ebenso wurde vorgeschrieben, "mit der Verschickung und Abfahrt der Züge mit den Deutschen am 3. September zu beginnen".

In den Zeugnissen über die Deportation der Deutschen wird darauf hingewiesen, dass gegen Ende Oktober 1941 bereits 856.168 Personen ausgesiedelt wurden. In den Jahren 1941— 1942 wurden insgesamt 1.209.430 Deutsche umgesiedelt. Ein bedeutender Teil von ihnen kam nach Kasachstan. Laut Plan sollten 75000 in der Region Krasnojarsk untergebracht werden. Die Familien, deren Oberhaupt kein Deutscher war, wurden nicht ausgesiedelt.

Man erlaubte den Umsiedlern, Dinge des alltäglichen Gebrauchs, kleinere Haushaltsgegenstände und Geld (Summe und Wert waren nicht begrenzt) mitzunehmen, aber das Gesamtgewicht sollte eine Tonne nicht überschreiten. Platzraubende Gegenstände durften nicht mitgenommen werden. Es wurde ein bestimmter Zeitraum für das Packen persönliche Sachen zur Verfügung gestellt, die verbleibenden Dinge unterlagen einer Inventarisierung durch Vertreter der sowjetischen Organisationen, wobei den Umsiedlern erklärt wurde, dass ihr Besitz — landwirtschaftliche Ausrüstungen, Naturalien (Getreide, Tierfutter) sowie Vieh, mit Ausnahme der Pferde, — der örtlichen Kolchose, dem Kolchosbauern oder Alleinbesitzer anhand von Quittungen gehöre, die bei der Bestandsaufnahme ausgestellt worden seien, abzüglich der vollen Deckung für der Pflichtabgaben für das Jahr 1941 und rückständiger Lieferungen aus den Vorjahren.

Für jeden Zug wurde ein Leiter aus den Reihen des Führungspersonals der NKWD-Truppen sowie eine aus 21 Mann bestehende Wachbegleitung eingeteilt. An den Tagen, an denen die Operationen durch die NKWD-Organe durchgeführt wurden, wurden Angehörige des Milizschutzes an die Wegkreuzungen entsandt, um die Personen festzunehmen, die sich der Umsiedlung entziehen wollten.

Am 18. September 1941 trafen in Krasnojarsk, Bogotol, Kansk und Uschur 7 Züge ein. Von dort wurden die Menschen in die Bezirke Minussinsk, Abakan, Bogotol, Atschinsk, Uschur, Kuragino und Bolshaja Murta gebracht. Unterwegs kam es zu Änderungen, und die Leute wurden an Stellen ausgesiedelt, die ursprünglich nicht geplant gewesen waren. So wurden beispielsweise aus Mangel an geeigneten Orten im Sowjetischen Bezirk Menschen nach Kasatschinsk und Pirowskoje gebracht. Alle Operationen wurden von Mitarbeitern des NKWS geleitet.

Jakob Birich,Traktorist der Kolchose "Roter Stern" aus dem Gebiet Saratow, war 19 Jahre alt. Er lebte in einem rein deutschen Dorf, in dem nur Deutsch gesprochen wurde — sowohl in der Schule als auch im Club und in der Kirche. "Nichts, was man dort rühmen könnte, ein ertragloser Ort, wo hart gearbeitet wurde".

Im September mussten sie ihre Kuh und ihr Schaf abgeben, erhielten darüber eine Bescheinigung, und die aus 9 Personen bestehende Familie wurde, zusammen mit den anderen, auf einen Viehwaggon verladen. 3 Wochen waren sie bis nach Abakan unterwegs, anschließend ging es mit einem Lastkahn weiter auf dem Tuba-Fluß bis Schalobolino. Sie wurden in einem einzelnen Haus in dem Dorf Sidorowo einquartiert. Die Menschen dort begegneten ihnen auf unterschiedliche Weise, manche waren freundlich, andere nicht. Die Deutschen wurden sofort mit zum Einbringen der Ernte und sonstige Arbeiten herangezogen. Die Nichtkenntnis der russischen Sprache stellte nun eine große Erschwernis im Leben dar.

Am 21. Januar 1942 wurde Jakob Fjodorowitsch, ebenso wie die meisten anderen arbeitsfähigen Umsiedler, in die Trudarmee geschickt. Zusammen mit seinem ältesten Bruder geriet Birich ins Kirowsker Gebiet. 4 Monate fällten sie Bäume. 10-Stunden-Schichten, und wenn man das Plansoll nicht erfüllte, dann konnten es auch 12 – 15 Stunden werden. Die Baracke, in der vor ihnen Gefangene gehaust hatten, war bewacht. 600 Gramm Brot und ein Zusatz in Form von Fischsuppe — das war ihre Essensration.

Im Juni verlegten sie ihn ins Molotowsker Gebiet nahe der Stadt Solikamsk. Dort war es noch schlimmer; anfangs lebten sie ohne Baracken. Schließlich wurden welche gebaut, doch die Menschen starben aufgrund der unzureichenden Ernährung. Eine Kommission aus Moskau traf ein, um die Gründe für die Todesfälle zu ermitteln und erteilte den Befehl, die Trudarmisten zu verpflegen. Man verwendete abgestandene Grütze und Mehl, doch davon aßen die Menschen zu viel und starben infolgedessen in noch größerer Anzahl. Außerdem gingen sie an Ruhr zugrunde.
Erst 1946 wurde es ein wenig leichter, denn dann wurden sie in die Kategorie der Zivilarbeiter eingetragen. Sie konnten auf kommerziellem Weg Brot erwerben, und auch Geld bekam eine Bedeutung. 1948 erlaubte man ihnen zu den Verwandt en nach Sidorowo abzureisen. Hier heiratete er, erhielt einen Ausweis, fand in der Milch-Sowchose Arbeit als Schmied und blieb dort bis zur Rente tätig.

An die Trudarmee erinnert sich Jakob Fjodorowitsch bis heute. Er weiß noch, wie er darum bat, an die Front geschickt zu werden. "Aber wie soll die Front stehen, wenn im Hinterland niemand mehr arbeitet?" — lautete die Antwort. Skorbut, vor dem ihn auch die sommerliche Handvoll Beeren nicht bewahrte, die Demütigungen durch die auch nach dem Krieg gestellten Forderungen bezüglich der Gesetzeslage von Sonderumsiedlern, als man sich ohne Erlaubnis des Kommandanten nicht aus der Siedlung entfernen durfte, nicht einmal ins Nachbardorf, die Notwendigkeit, alle Veränderungen der Familie mitzuteilen (Geburt eines Kindes, Tod eines Familienmitglieds) — kann man das etwa vergessen? Bei Verletzung der Bestimmungen — eine Geldstrafe in Höhe von 100 Rubeln oder Inhaftierung für die Dauer von 5 Tagen und Nächten.
August Philippowitsch Raichel (Reichel?), Einwohner der Ortschaft Baidowo, wurde ebenfalls im Oktober 1941 aus dem Gebiet Saratow umgesiedelt und arbeitet ab dem 4. Juni 1942 im Jamal-Nenzen-Kreis. Er erinnert sich auch an die Fahrt nach Sibirien und wie sie aus Turuchansk Boote 10 km weit auf dem Landweg zogen – und auch daran, wie gut der Brigadier Pjotr Kitkin, der Nationalität her Selkupe, zu ihm war, mit dem er 2 Jahre in demselben Tschum lebte, mit dessen Hilfe er zwei lokalre Sprachen erlernte. Gemeinsam fischten sie, schliefen im Schnee, aßen rohen Fisch. Dort heiratete er auch.

Aber in Jamala-Nenjetzkij kam er nicht in eine Baracke und auch nicht in ein Haus — er lag auf blankem Schnee und erfror sich sogleich seine Fersen. Es herrschte Frost unter minus 60 Grad. Selbst der Vertreter des NKWD wunderte sich, wie man dort so mit den Umsiedlern verfahren konnte. Rentierfelle und Lagerfeuer retteten sie vor dem sicheren Tod. Es gab noch nicht einmal Äxte, um Brennholz zu hacken. Mit einem Netz fingen sie Fisch unter dem Eis. Die Länge des Netzes betrug im Winter 120 Meter, im Sommer 350. Zwei Burschen und drei junge Mädchen — das war die ganze Brigade. Einen der Sonderumsiedler tauschten sie gegen ein Rentier ein.
Raichel hat 45 Arbeitsjahre hinter sich gebracht, er hilft der Sowchose auch heute noch. Und den anderen Dorfbewohnern ist er auch behilflich — die Kuh melken, einen Ratschlag erteilen, einen Verstorbenen für seinen letzten Weg zurecht machen. Für die Kinder hat er ein Haus gebaut, für sich selbst auch. Das schwierige Leben hat ihn nicht erzürnt und verbittern lassen – August Philippowitsch ist ein gutherziger und gesprächiger Mann.

Dutzende Russland-Deutsche reisen nach Deutschland aus, aber er hat nicht die Absicht. "Sie haben zu viel des Guten, kein einziger armer Mensch ist dorthin aufgebrochen. In Russland herrscht zurzeit keine Ordnung, sondern Totalausfall, aber die Probleme im Land — sind die Probleme des ganzen Volkes", — meint er. Ein Verwandter schreibt ihm aus Deutschland: "Setz‘ dich hin, rühr‘ dich nicht von der Stelle, ich flehe dich an". Und so sitzt August Raichel und fährt nirgendwohin; egal wie Russland auch sein mag – es ist seine Heimat. Hier leben seine Kinder, hier wird Onkel August von allen gebraucht, und zum Reichtum zieht es ihn nicht hin, wenn er nur gesund bliebe. Auch Lidia Jakowlewna, seine zweite Ehefrau, hat keine Eile, fortzufahren, sie hat ebenfalls in der Trudarmee im hohen Norden Fisch gefangen.

Jakob Fjodorowitsch Birich ist der Ansicht, dass Deutschland in den Russland-Deutschen billige Arbeitskräfte sieht. "Jelzin hat alle Gauner entlassen, aber die Familie muss man in Ordnung halten. Gott hat allen einen Willen mitgegeben, aber jeder muss arbeiten.", — sagt er über das aktuelle Leben. Er träumt nicht davon, dass die Kommunisten wieder an die Macht kommen, es braucht auch kein stalinistisches Regime, aber die derzeitige Unordnung im Lande muss ebenfalls beendet werden. Die Schuld für seine persönlichen Erlebnisse und Notlagen sieht Birich im Krieg und in den Faschisten. Er ist ein tief religiöser Mensch, und es vergeht kein Tag, an dem er nicht in religiösen Büchern liest.

Die schrecklichen Deportationen der fünfziger Jahre machen sich auch heute bemerkbar. Man kann das nicht mit neuen Konflikten lösen, sondern nur durch Frieden. Es wäre schön, wenn unsere Politiker das begreifen würden. Vielleicht sollten sie häufiger mit so einfachen und bescheidenen Menschen reden, die nicht die Absicht haben, ins großartige Deutschland auszureisen, sondern die vielmehr an ein großartiges Russland glauben und geduldig auf Ordnung warten.

Olga NIKANOROWA
«Krasnojarsker Arbeiter», 16.09.95


Zum Seitenanfang