Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Die BAM, aber nicht dort

Selten findet man einen Reisenden, dem es gelingt, in diese Gegenden zu gelangen und hier ein Bild ähnlich der Apokalypse zu sehen. Hunderte Kilometer ziehen sich die Gleise, Bahndämme und Brücken in die Ferne. Auf den Abstellgleisen – alte Lokomotiven, Waggons. An den Bahnanlagen stehen Signal-Zeichen, daneben – Stationsbauten, ein wenig weiter entfernt – Häuser, Baracken… Und das alles bei völliger Menschenleere.

Noch war der Krieg nicht zu Ende, als das Arktische Naturwissenschaftliche Forschungsinstitut, wie man damals sagte, „dir Praxis der Nutzung des Nordmeer-Seewegs“ auswertete und zusammenfasste, auf die Notwendigkeit „der eilig-dringenden Schaffung einer Zwischenstation für Meeres-Kommunikation in einem der Bezirke der Polarmeerküste Sibiriens“ hinwies. Der neue Hafen sollte auch zur Unterbringung der Haupt-Kräfte der Nordmeer-Kriegsflotte genutzt werden. Besonders befürwortet wurde dieses Projekt von dem bekannten Polarforscher und Konteradmiral I. Papanin. Die Pläne für den Neubau im Polargebiet wurden Stalin persönlich vorgelegt und gingen dem Führer sehr zu Herzen.

Lager mit „anschaulich-übersichtlicher Agitation“

Mit geheimer Anweisung des Ministerrats, N° 1255 – 331 Seiten, vom 22.04.1947, war der Bau des großen See-Hafens in der Ob-Bucht vorgesehen, in Kamenny Mys. Man plante, eine Eisenbahnlinie dorthin zu verlegen, welche von der damals bereits existierenden Petschora-Magistrale (aus dem Bezirk Workuta) kommen sollte. Mit den Arbeiten beauftragt wurde die Hauptverwaltung der Eisenbahn-Lager (GULSchDS), welche zum GULAG-System gehörte. Der Beginn der Bauarbeiten erfolgte unter äußerst schwierigen Bedingungen – ewiger Frost, Sümpfe, Unwegsamkeit des Geländes… Als Ersatz für fehlende Traktoren benutze man alte BT-Panzer mit abgebauten Türmen. Dafür gab es billige Arbeitskräfte in Hülle und Fülle: einigen Angaben zufolge waren beim Bau der Bahnlinie etwa 40.000 Gefangene aktiviert, vor allen Dingen „politische“.

Aufgrund all dieser Bemühungen war die 192 Kilometer lange Strecke des Abzweigers Tschum – Labytnangi Ende 1948 fertiggestellt. Und bei Kamenny Mys waren die Vorbereitungen für den Bau des Seehafens und der Schiffswerft in vollem Gange.

In eben diesem Jahr 1948 geschah in einigen Lagern an der Trasse das, was in offiziellen Dokumenten als „Massen-Selbstbefreiung“ von Gefangenen bezeichnet wird. Ein Teil von ihnen entwaffnete die Wachen und machte sich auf den Weg nach Workuta, in der Hoffnung, dort auch die Häftlinge des Workutlag zum Kampf zu bewegen. Andere begaben sich an die Ob-Bucht, in der Absicht dort auf ein Schiff zu gelangen und weiter im Osten, irgendwo am grenzenlosen Ufer des Eismeers unterzutauchen.

Der Aufstand wurde grausam niedergeschlagen, wobei man erklärte, dass hier „Handlanger der Faschisten“ aufbegehrten, mit denen man kein Mitleid haben dürfe. An den kleinen Bahnstationen der benachbarten Lager hielten Züge mit „anschaulichem Material“: auf den Waggonplattformen lagen aufgestapelt die Leichen von Teilnehmern des Aufstandes. Und in den Nächten transportierten sie in geschlossenen Waggons die getöteten Soldaten und Offiziere des NKWD ab.

Allerdings konnten die Bauleiter zwar die Rebellen überwältigen, aber mit der Natur kamen sie nicht zurecht. Auf dem Höhepunkt der hektischen Arbeit gelangten Spezialisten aus dem Institut Arktis-Projekt“ zu dem unwiderruflichen Entschluss: der Bezirk Kamenny Mys ist für die Verwirklichung des ausgedachten Plans ungeeignet. Der dortige Untergrund hätte dem großen Produktionsgelände und den Nebenbauten nicht standgehalten, und die geringe Wassertiefe hätte es Seeschiffen unmöglich gemacht, nahe ans Ufer heran zu kommen. Das Schwungrad des gigantischen Baus drehte sich, wie sich herausstellte, ins Leere.

Durch Schneesturm und Sumpf

Ende Januar 1949 wurde auf einer Konferenz bei Stalin beschlossen, den Standort für die See-Basis im Polargebiet zu ändern: man entschied sich nun für Igarka. Von Salechard sollte eine neue Eisenbahnlinie dorthin führen – mit Fährüberfahrten über den Ob und den Jenissei. Di Magistrale in ihrer Länge von 1300 km sollte durch absolut menschenleere Weiten führen, wo ungefähr eineinhalb Dutzend winzige Siedlungen verloren gehen würden.

Der Bau und die Nutzung einer solchen Bahnlinie unter den Bedingungen des ewigen Frostes, noch dazu in einem Land, welches sich gerade erst von den Folgen des schrecklichen Krieges erholt hatte, war eine äußerst schwierige Angelegenheit. Allerdings konnten keinerlei vernünftige Argumente die Realisierung des Projekts verhindern, welches der Generalsekretär höchstpersönlich überwachte. Über auf Eis gebaute Winterstraßen, welche Bulldozer durch die Wildnis geschlagen hatten, begann man technisches Gerät, Lebensmittel und die „Hauptdarsteller“ – Gefangene – heranzuschaffen. Nach ungefähren Schätzungen erreichte ihre Zahl in der angespanntesten Bau-Periode 100 – 120 Tausend Mann.

Zwei Bau-Verwaltungen, die sich innerhalb des Systems der Hauptverwaltung der Lager für den Bau von Eisenbahnstrecken formiert hatten – die Obsker N° 501 und die Jenisseisker N° 503 – verlegten ihre Schienen aufeinander zu. Die Bedingungen hier waren keineswegs leichter, als auf dem Abschnitt Tschum – Labytnangi: es herrschte Winter – mit Frösten unter .50 Grad, und im Sommer – war es in den Sümpfen stickig und heiß und es gab Schwärme von Stechmücken… Auf Anordnung des Generalsekretärs wurde die Durchführung der Arbeiten „ohne genauere Pläne, Kostenvoranschläge und Projektaufgaben“ geduldet“.

In Moskau erörterte man indessen Varianten für die Verlängerung der Bahnlinie. Letztendlich sollte dabei eine hypergigantische Transpolar-Magistrale herauskommen, die den Ural mit Tschukotka verbinden würde.

„Tufta“ – der ständiger Begleiter des Baovorhabens

Um den Häftlingen einen Arbeitsanreiz zu geben, wurde ein „Anrechnungssystem“ eingeführt: bei Erfüllung der Norm zu 125% zählte ein Tag für zwei, bei 150% - drei. Das variierte in Abhängigkeit von der Arbeitsleistung und der Brotration. Es kam auch folgendes vor: die Begleitwachen maßen eine feste Anzahl an Metern für die zukünftige Trasse aus (höher als die Norm) und stellten ans Ende dieses Bahndamm-Segments einen Tisch mit diversen Dingen – Schnaps, Brot, Wurst, Machorka… Das hieß dann: nun baut mal schön – dafür gibt’s eine Belohnung.

Übrigens gab es auch ein anderes Mittel, um die Erfüllung der Aufgabenstellungen zu gewährleisten – wenigstens in Worten. Wie überall im GULAG wurde von den Gefangenen „Tufta betrieben“. Sie rollten beispielsweise in den Bahnkörper einen Baumstamm und Baumzweige, schütteten Erde darüber, was der Brigade ein innerhalb ihrer Arbeitsschicht scheinbar gehöriges Maß an geleisteter Arbeit verlieh. Einige Zeit später stürzte ein derartiger Bahndamm ein, doch das wurde der Einwirkung des ewigen Frostes zugeschrieben. Eine neue Brigade traf ein, und alles begann wieder von vorn.

Häftlinge, die im Steinbruch beim Verladen von Kies schufteten, fuhren oft mit halbleeren Fahrzeugen. Dem aus den Reihender Freien angestellten Fahrer, der nach der Anzahl der unternommenen Fahrten abrechnete, war es egal, wie viele Tonnen sie in seinen Wagenkasten geladen hatten, und der Gefangenen-Buchführer fügte getrost noch ein Pünktchen hinzu: als ob ein weiterer Lastwagen abgefahren wäre.

Die Ingenieure und Wirtschaftsfachleute, die am Bau beschäftigt waren, versuchten mehrmals, aufgrund der Massenfälle von „Tufta“ Alarm zu schlagen. Aber die Lagerleitung hielt sich fern; sie begründete das damit, dass die Kontrolle der Arbeitsqualität nicht zu ihren unmittelbaren Pflichten gehöre. Außerdem hing das materielle Wohlergehen der Wachen schlichtweg von der geleisteten Arbeit der Häftlinge ab: je mehr Arbeitseinsatz, wenn er auch nicht „echt“ war, sichtbar wurde, umso größer war die Essensration bei den gewöhnlichen Wachmannschaften, und für das Offizierspersonal gab es sogar Prämienrationen.

Der Zusammenbruch des „großartigen Bauvorhabens“

Zum Frühjahr 1953 waren ungefähr 700 Kilometer der Magistrale gebaut – auf den westlichen und östlichen Abschnitten. Auf dem 400 km langen Teilstück von Salechard bis zum Fluss Cheta fuhren bereits Passagierzüge. Der berufsmäßige Verkehr wurde auch im Osten eröffnet, von der Siedlung Jermakowa zum Fluss Bolschoi Blundoi. Zu bewältigen blieb nur noch das Mittelstück zwischen Pur und Tas, was man in zwei Jahren hätte schaffen können – und dann wäre die Polarbahn vollendet gewesen.

Aber… es kam der März des Jahres 1953. Mit dem Tod des Führers brauchte niemand mehr das geliebte Kindchen. Die Fabrik und der Hafen in Igarka standen zum größten Teil nur noch auf dem Papier zurück, und „urplötzlich“ begriff man oben, dass es überhaupt nicht nötig war, irgendetwas auf der Magistrale zu befördern. In Wahrheit hatte auch Stalin selbst in seinen letzten Lebensjahren das Interesse an Eisenbahn-Projekten verloren: ein erheblicher Teil der Kräfte und Mittel war in die Atom-Industrie verlagert worden.

1953 wurde der Bau eingestellt und 1954 offiziell liquidiert. Ein Großteil der Technik und Materialien wurde in den Tiefen des Polargebiets zurückgelassen. Die Lagerstädtchen leerten sich. Nach Augenzeugenberichten konservierten MGB-Mitarbeiter, welche das politische Tauwetter für ein Missverständnis hielten, sorgfältig die Lager und versiegelten die Zonen-Tore mit besonderen Plomben: vielleicht könnte ja alles noch einmal von Nutzen sein…

Spuren des grandiosen Bauprojekts sind bis heute erhalten geblieben. Der kapriziöse ewige Frost verunstaltete die hölzernen Brücken zu phantastisch-bizarren Gebilden: einige ragen schief aus dem Bahndamm auf, andere sehen wundersam verbogen aus. Die verlassenen Lager und Siedlungen der damals Freien sind in der von allen Seiten heranwuchernden Taiga versunken. Direkt inmitten des Bahndamms schießen Bäume in die Höhe. Aus dem einstigen Lokomotiven-Depot am Stadtrand von Salechard ist ein Autohof entstanden.

Nach einigen Berechnungen wurden für den Bau der „Todesstrecke“ nicht weniger als vier Milliarden Rubel nach damaligen Preisen verausgabt. Die Zahl der Menschen, die in den Sümpfen hinter dem Polarkreis den Tod fanden, lässt sich nur schwer schätzen.


Die „Todesstrecke“. Der Bau der Polar- Eisenbahnlinie Salechard – Igarka mit einer Länge von 1263 Kilometern (mit mutmaßlichem Abzweiger bis nach Norilsk) begann mit der Arbeitskraft von Gefangenen im Frühjahr 1949 gleichzeitig an verschiedenen Stellen. Die Bahnlinie stellte die erste Etappe der von Stalin ausgedachten Großen Transpolar-Magistrale aus dem europäischen Teil des Landes durch das gesamte nördliche Sibirien dar, mit einer direkten Fährverbindung über die Bering-See nach Alaska. Später musste das Vorhaben auf die Strecke bis nach Tschukotka beschränkt werden – mit Abzweigern nach Kolyma und Kamtschatka. Nach Stalins Tod im Jahre 1953 wurde der Bau zunächst stillgelegt (zu dem Zeitpunkt waren 911 km fertiggestellt) und bald darauf stillgelegt.

Angelegt wurde die Bahnlinie von zwei Bau-Behörden der Hauptverwaltung der Lager für den Bau von Eisenbahnstrecken des MWD der UdSSR: N° 501 – von Salechard bis zum Fluss Pur, N° 503 – Vom Pur bis nach Igarka. Über hunderte von Kilometern zogen sich durch Taiga und Tundra ganze Kolonnen von Lagern dahin. Die Kolonnen, in denen zwischen 1000 und 1400 Gefangene und jeweils 250 Wachmänner untergebracht waren, standen alle 50 Kilometer entlang der Trasse.

Gebaut wurde die Bahnlinie eingleisig, anhand einfacher technischer Gegebenheiten, mit 28 Stationen, die jeweils 40-60 Kilometer voneinander entfernt waren, sowie 106 Ausweichstellen im Abstand von je 9-14 Kilometern. Im Großen und Ganzen arbeitete man per Hand, mit Brechstange und Spitzhacke, Schubkarre und Spaten, wenngleich in den Steinbrüchen auch einige wenige Bagger in Betrieb waren. Zum Übersetzen über den Ob und Jenissei wurden im Ausland zwei Eisenbahnfähren bestellt.

Es fehlte an Vielem – Material, Technik, finanzielle Mittel. Und das Verlegen eines einzigen Kilometers kostete durchschnittlich 2,3 Millionen Rubel (in alter Währung). Ja, und woher hätten sie nach dem verheerenden Krieg auch die Ressourcen nehmen sollen? Daher bauten sie den größten Teil „am lebendigen Faden“, mit allerletzter Menschenkraft. Denn das, woran kein Mangel herrschte – waren Sklavenarbeiter. Ungeachtet der hohen Sterblichkeitsrate der Gefangenen, stellte Berijas Behörde immer neue „Kontingente“ auf.

Dafür bauten sie schnell, stets bemüht etwas berichten zu können. Im August 1952 wurde der Arbeitsverkehr der Züge von Salechard nach Nadym eröffnet, zum Jahr 1953 auch auf dem östlichen Abschnitt: von Jermakowo am Jenissei bis nach Janow Stan am Fluss Turuchan. Von Igarka in den Süden wurden etwa 65 Kilometer Strecke zur Bahnstation Jenisseiskaja verlegt. Es schien, dass man nun nur noch ein-zwei Jahre benötigte – dann wäre der Kreis der Bahnlinie geschlossen gewesen.

Der Bau der Eisenbahnlinie etablierte sich als absolute Notwendigkeit der Entwicklung der Produktionskräfte des sibirischen Nordens. Der Polar-Magistrale fiel die Rolle des ganzjährigen Ersatzes für den Nördlichen Seehafen zu. Doch es gab nichts und niemanden zu befördern….

Alles wurde in der Tundra im Stich gelassen. Zurück blieben hunderte Kilometer eingestürzter Bahndämme und schiefer Gleise, Brücken, Siedlungen, Kommunikationsleitungen, Depots, Loks, Schienenfahrzeuge… Die Gleise in den nahegelegenen Abschnitten wurden entfernt, andere rosten bis heute vor sich hin. Wie die Zeitung „Gudok“ (Pfeifen (eines Zuges); Anm. d. Übers.) am 12.03.88 schrieb, wurden an der Trasse nicht weniger als 60.000 Tonnen Metall zurückgelassen, in der Hauptsache Schienen und Befestigungsmaterialien. Nach einigen Jahren wurde die im Stich gelassene, nicht zu Ende gebaute Bahnstrecke abgeschrieben. Die unmittelbaren Verluste des Staates machten nicht weniger als 42 Milliarden 100 Millionen Rubel aus (nach altem Wertmaßstab).

So wurde die Bahnlinie zur „Todesstrecke“.

In den 1960er Jahren kam mit der Entdeckung großer Gas- und Erdöl-Fundstätten in West-Sibirien jäh das Transport-Problem auf. Es ertönten Stimmen, die die unverzügliche Fertigstellung der „Toten Strecke“ forderten. Die Antwort lautete: wir haben dafür keine finanziellen Mittel, keine Zeit… (für die BAM, die Baikal-Amur-Magistrale, fanden sich Geldmittel. Das Ministerium der Gas-Industrie der UdSSR stellte auf eigenes Risiko in den 1970er Jahren den isolierten Abschnitt von Nadym bis nach Nowyj Urengoi, mit einer Länge von 240 Kilometern, wieder her und baute ihn fertig. Mit der Ausfahrt nach Nowyj Urengoi der Bahnlinie von Surgut wurde dieser Abschnitt mit dem Eisenbahnnetz des Landes verbunden.

Und alles andere? Riesige Geldmittel und materielle Werte, die gigantische Arbeit von hunderttausenden von Menschen liegen in der Tundra begraben. Zurück blieben zehntausende namenlose Gräber.

In Salechard, an der Anlegestelle am Fluss Ob, an der die eintreffenden Häftlinge ausgeladen wurden, hing ein riesengroßes Plakat: „Es lebe der Große Stalin – der Führer des Weltlagers!“
Die Losung - r eine makabre Zweideutigkeit…

Aleksander Dobrowolskiy

AIF 25.09.1996


Zum Seitenanfang