Brief an die Zeitung
Ich sitze am Tisch, vor mir steht eine hohe Vase, und darin steht ein Weiden-Zweiglein, ein Bote des Frühlings. Die liebkosende Sonne erwärmt von Fenster her angenehm meinen Rücken. In meinem Herzen ist es still und hell.
Braucht ein alter Mensch viel? Ein freundliches Wort, ein wenig Aufmerksamkeit, selbst ein einziges Blümlein mit einem gutmütigen Lächeln oder so ein kleines Geschenk, wie dieses Weiden-Zweiglein. Nun, was hat es also mit diesem wunderbaren Weiden-Zweiglein auf sich? Es ist eben – ein Wunder. Ich sehe es an und denke: wie winzige, flaumige Küken sehen die runden Bällchen aus, welche das Zweiglein bedecken. Was für ein Liebreiz.
Geschenkt hat mir dieses schöne Zweiglein plus gute Laune mein ehemaliger Schüler – inzwischen bereits ein grauhaariger Mann, ein guter, bemerkenswerter Mensch – Kolja Tischtschenko. Er war am Flussufer entlang gegangen, hatte die blühende Weide gesehen und für seine alte Lehrerin ein Zweiglein abgebrochen: „Hier – ein bescheidenes Geschenk mit den allerbesten Wünschen!“ Wir, die Alten, bekommen so wenig Aufmerksamkeit und Güte geschenkt und gegenwärtig fühlt man das ganz besonders.
Mein Mann und ich können ohne weiteres sagen, dass das gesamte 20. Jahrhundert – unser Jahrhundert ist, unser Leben. Ein langes, 80 Jahre währendes Leben. Von frühester Kindheit an herrschten in unseren großen Familien Hunger und Leid. Im Land loderten Brandstätten – Intervention, Banden. So vergingen die 1920er Jahre. In den 1930er Jahren –Kollektivierung, Gemetzel, der schwierige, mühsame Wiederaufbau der Wirtschaft. In den Dörfern bekam man für geleistete Arbeit Tagesarbeitseinheiten angerechnet. In den Städten – Schaufel, Schubkarre und Spitzhacke – Wiederaufbau von Fabriken und Werken, Bau von Kanälen und des Dnjepr-Wasserkraftwerks. Erneut Hunger und Not, erneut Erschießungen, Verhaftungen. 1934 waren wir Studenten. Wir lebten in einem Wohnheim, in kalten Zimmern, litten Hunger. Aber wir studierten fleißig - wenn auch ohne Lehrbücher und häufig auch ohne Schreibhefte. Ein Stipendium gab es nicht, dafür eine Hilfswirtschaft, aber die nannte sich nur so. Nachdem wir drei Jahre studiert hatten, legten wir 1937 unsere Examina ab und waren dann Lehrerinnen. Und gleich danach absolvierten wir noch ein Fernstudium am Institut. Wir erhielten für unsere Berufsausübung eine Zuweisung aufs Land. Was erwartete uns? Ein geringes Gehalt, leere Regale in den Läden, aber die Achtung der Bevölkerung und eine bemerkenswerte Disziplin in der Schule. Ich unterrichtete Russisch an der deutschen Schule, trat der Komsomolzen-Organisation bei. Nicht zu vergessen, wie man mich 1938 zur Deputierten in den Obersten Sowjet wählte.
Der Sekretär des Bezirkskomitees, der eine Rede hielt, nannte mich ein „Kind der Revolution“ und lobte mich, und dann wählten sie das Kindchen zur Abgeordneten.
1939 heirateten wir. Es kamen Kinder. Der älteste starb, der zweite wurde geboren. Sie holten meinen Mann zur Armee. Wieder Elend und Not. Ich hatte noch nicht einmal etwas, woraus ich für das Kind Windeln hätte herstellen können. Nur gut, dass es in Moskau ein Geschäft für Deputierte gab, aber ums Geld war es schlimm bestellt. Auf dem Lande – die Anrechnung von Tagesarbeitseinheiten und Armut.
19471, es ist Krieg. Die Umsiedlung der Deutschen von der Wolga. Viehwaggons. Sibirien. Sonder-Kommandantur. Das Lernen am Institut musste abgebrochen werden. Kein Schritt aus dem Dorf hinaus. Kränkungen und Demütigungen. Hunger, Kälte. Lager. Sie arbeiteten in schlechter Kleidung und ungeeignetem Schuhwerk. Es ist schrecklich, sich an all das zu erinnern. Aber wir ertrugen es.
Das Joch, das Stalin uns angelegt hatte, nahm man uns erst 1956. Wir atmeten ein wenig Freiheit. Aber wieder gab es nur leere Regale, Not und Sorgen. Ich schaue mich um und stelle fest – das Leben ist vorüber gegangen. Das Jahrhundert ist zu Ende. Und was haben wir Schönes in diesem 20. Jahrhundert gesehen? Was meinen Sie? Und jetzt höre und lese ich, dass unser Land kämpft und kämpft. Afghanistan und Tschetschenien – viele unserer jungen Burschen sind gefallen, viele hat das Leben zu Krüppeln gemacht. Und dann war da auch noch der Finnische Krieg, die Kämpfe im Baltikum, in der West-Ukraine, Chalchin-Gol, Millionen erschossener GULAG-Häftlinge.
Das alles entfiel auf unser Los. Vielleicht erinnert sich manch einer nicht, aber wer sich erinnert, wird sagten: „Ja, es ist eine Freude, wenn du eine gute Familie hast, gute Kinder und Enkelkinder, und wenn du Aufmerksamkeit geschenkt bekommst und solche Weiden-Zweiglein“. 34 Jahre habe ich der Schule geopfert, den Kindern, und offensichtlich haben sie mich nicht vergessen – das ist eine große Freude.
Meine lieben Leute, ihr alle habt Eltern; sie haben es schwer. Kränkt sie nicht, erfreut sie mit lieb gemeinten Worten, einem Lächeln oder so einem Weiden-Zweiglein. Seid glücklich.
A. Schultheiß, Ortschaft Atamanowo
„Land-Leben“ (Suchobusimskoje), 10.04.1997