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Wir sind Menschen geblieben

Ihnen schreibt eine Rußland-Deutsche, deren Vorfahren, die beiden Brüder Friedrich und Johann Petri (geboren in der Nähe von Zürich), als Kanoniere unter Suworow dienten. Offenbar müssen die Brüder ihr Handwerk meisterlich verstanden und Katharina II mit ihnen sehr zufrieden gewesen sein, wenn sie sie aufgrund ihres Monarchenwillens mit Titeln, Auszeichnungen und Land an der Wolga belohnte. So wurden wir, die Abkömmlinge heldenhafter Kanoniere, russifiziert.

Meine Mutter stammt aus Kiew, ich wurde dortin die Familie des roten Kommandanten Fjodor Petri (einem Wolgadeutschen) hineingeboren, der mit 17 Jahren zu seinem älteren Bruder Karl, einem Berufsrevolutionär, nach Moskau flüchtete, um dort bei der Revolution mitzumachen. Karl wurde 1936 als Verwandter der Adelsfamilie Petri erschossen. !937 und 1938 wurden auch ihre fünf weiteren Abkömmlinge erschossen, und jedes seiner Kinder kam für 15-20 Jahre in Lagerhaft. So findet sich in unserem Geschlecht ein gut gemixter Cocktail von deutschem, ukrainsichem, russischem, holländischem, französischem und vielleicht sogar noch anderem Blut. Und der Nationalismus ist für mich ein politischer Brennpunkt.

Meine Großmutter war die Urenkelin eines Schöpfers der siebensaitigen russischen Zigeunergitarre und Autor des ersten eigens für dieses Instrument geschriebenen Lehrbuchs – Ignaz von Helda, ein deutscher aus Böhmen. Über ihn (als Gitarristen) kann man in Pikuls Roman „Der Favorit“ etwas lesen, was in Wirklichkeit gar nicht so geschehen ist, aber interessant ist es trotzdem. Wenn man berücksichtigt, dass die Umsiedlung der Wolga-Deutschen laut geheimem Ukas aus dem Jahre 1941 in aller Eile (unter unter schrecklichen Umständen) durchgeführt wurde und die Menschen all ihren Besitz für andere zurücklassen mußten – geh nur hinein und nimm dir, was du willst – wieviele Geheimnisse sind dann wohl aus Großmamas umfangreicher Bibliothek und ihrer für uns verbotenen, eisenbeschlagenen Truhe verschwunden..... Übrigens erdreistete ich mich, aus eben dieser Truhe für meine in der 8. Schulklasse stattfindende erste Neujahrsfeier (1940, Schule N° 136 in Engels) ihr Ballkleid zu entnehmen. Das politische Bad im Büro der kommunistischen Jugendorganisation werde ich meinen Lebtagnicht vergessen. Ich hatte das Glück, dass zwei meiner Tanten ein langes Leben hatten, und ich erfuhr manches, was sie in ihren reifen Jahren aus Angst nicht ausgesprochen hatten: wieviel grausame Wahrheit nämlich die ältere Generation aus lauter Furcht vor dem NKWD und dem KGB mit sich ins Grab genommen hatte.

Ich selbst wurde im Alter von 16 Jahren dank des oben erwähnten Ukas zur „deutschen Spionin“. Ich durchlief Lager und die Sonderansiedlung; mit 17 kam ich zur Erdölförderung nach Ischimbaj. Dort starben im Winter 1942 jede Nacht 10-15 Gefangene. Ich hatte Glück. Unsere Einheit (250 Personen) wurde zur Ziegelfabrik in Sterlitamak verlegt, wo ich Lehm, Zement und Sand mit Wasser verkneten mußte; ich stellte einen feuerfesten Werkstoff für den Bau von Erdbunkern und Erdhütten her – nachts, ohne jegliche Kraft und furchtbar hungrig und unter dem lauten Geschrei der Überwacherin der Kontrolltafel mit dem Engelsgesicht und dem Namen Naja: „Beweg dich, Faschistin, du schaffst deine Norm nicht!“ Daher stammt meine Polyarthritis; zum Glück kann ich mit zwei Fingern der rechten Hand den Kugelschreiber halten. Übrigens: mit den verbogenen Fingern setzte ich mich mitunter sogar ans Klavier. Aber ich will weitererzählen ... Uns, die KGB-Deutschen, bewahrten russische Baptisten, die ebenfalls verfolgt wurden, vor dem Hungertod. Und ein tatarischer Arzt ohne Beine, er hatte sie an der Front verloren, rettete mir als 17-jähriger eines meiner Beine: das Pferd Ignaschka, das genau so hungrig gewesen war wie ich, brach zusammen und stürzte auf mich. Das Bein schwoll an, begann zu faulen – amputieren und fertig! Aber er heilte es in aller Heimlichkeit mit einem damals seltenen Streptozid. Selbst unter diesen unmenschlichen Bedingungen blieben wir Menschen.

Nun bin ich auch zum Kernpunkt meines Schreibens gekommen – gute Menschen gibt es immer und überall, auch in Gefangenenlagern. Wie wir wissen, mußten die Lagerinsassen später noch die Zwangsansiedlung über sich ergehen lassen, meist an dem Ort, an dem sich auch das Lager befand. Mein Mann und ich (er ist ebenfalls Rußland-Deutscher, Arzt von Beruf, aber im Lager war er Schachtarbeiter; er erkältete sich die Nieren und ließ mich im Alter von 30 Jahren als Witwe mit drei Kindern zurück) – also, mein Mann und ich, wir begegneten uns in der Taiga im Schacht „Woltschanka“, wie ich bereits sagte – die Blüte der Intelligenz. An viele kann ich mich noch erinnern. Direktor des Kulturpalastes der Schachtarbeiter in der Siedlung (mehr als 5 km von der Siedlung durfte man sich nicht entfernen!) war A.I. Solowjow, der 10 Jahre absitzen mußte; er war Künstler am Akademischen Kunsttheater in Moskau gewesen und hatte während eines Konzerts im Kreml irgendeinen geistreichen Witz gemacht. Ich kann mich auch noch an seine Frau erinnern, die auch 10 Jahre absaß, eine Sängerin aus dem Bolschoj-Theater. Und an viele, viele andere....

Oft denken wir an den Krieg, der eine so jähe Wende ins Leben ganzer Völker brachte. Ungeachtet dessen, daß Stalin uns verriet, kämpften die Rußland-Deutschen auch gegen den Faschismus. Bei Tula wurde 1941 mein Kusin, Oberleutnant Jurij Schmid, schwer verwundet. Nach seinem Krankenhausaufenthalt zog es ihn sofort wieder an die Front, aber bei der Entlassung hieß es plötzlich, er solle nach Hause fahren, und zwar aus irgendeinem Grund nach ... Sibirien. Er wußte nicht, dass, während er im Hospital lag, seine russische Frau Nina und der vier Monate alte Sohn nach Sibirien umgesiedelt worden waren, weil sie die Ehefrau eines Wolgadeutschen war. Der kleine Junge starb unterwegs. Bei seiner Ankunft wurde Jurij sogleich unter KGB-Aufsicht gestellt und kam 1942 in die Schachtanlagen des Primorje-Gebiets. Im Sommer 1943 floh er, zusammen mit einem anderen Leutnant, dem ehemaligen Künstler Nikolaj Wolf, aus dem fernen Bergbaugebiet, nachdem sie zuvor vorsorglich ihre Nachnamen in den Militärpässen (Nikolaj war diesbezüglich äußerst talentiert) in Schmeljow und Wolkow abgeändert hatten. Sie bewegten sich in Richtung Eisenbahnmagistrale, auf einen Truppenzug zu: sie blieben wohl hinter dem Regiment zurück und begaben sich geradewegs an die Front. Nina wußte das alles, aber sie berichtete mir davon erst 1972. Jura Schmid (Schmeljow) starb jenseits seiner Heimat in der Nähe von Budapest, aber wo sich sein Grab befindet ist unbekannt. Es gibt unter unseren Verwandten auch einen Helden der Sowjetunion – Nikolaj Leonow, ein Deutscher aus der Stadt Balzer (heute Krasnoarmejsk). Er war in seiner Kindheit, noch vor der Revolution, verwaist. Der Vater gab ihn und seine drei Brüder an ein russisches Kindermädchen namens Nastja Leonowa. Sie zog die Brüder groß, und nach dem Tode des Vaters nahm Nikolaj den Familiennamen von „Mama“ Nastja an. Weder er noch die Tante wurden von der Wolga umgesiedelt, denn in ihren Pässen stand „russisch“. Nikolaj Nikolajewitsch kämpfte bei Stalingrad, später bei Leningrad, wo er den Heldentod starb.

Und nun zu mir. Ich bin Gesangslehrerin und Chormeisterin von Beruf und kann inzwischen auf 35 Jahre Berufsleben zurückblicken. Ich habe meine Kinder allein erzogen und es geschafft, ihnen eine höhere Ausbildung zukommen zu lassen. Wie sie meine Skizzen aufnehmen werden, weiß ich nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie verstehen werden ...

Walentina SIMENS (PETRI)
Ost-West-Dialog N° 11/1997 (die Zeitschrift wird in Deutschland herausgegeben)


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