Menschliche Schicksale
Die Familie Altergot wurde Ende August / Anfang September 1941 unfreiwillig aus ihrem heimatlichen Nest geworfen. In dem Dörfchen Schwedt, Gebiet Saratow, nahe der Stadt Engels, lebten die Altergots in einer deutschen Siedlung und führten, wie die Mehrheit der Menschen, eine gesunde Hofwirtschaft, in der sie rechtschaffen arbeiteten. Mit Beginn des Krieges brach das Unheil über sie herein – sie wurden repressiert, politisch verfolgt. Leute kamen zum Haus und sagten, dass sie sich auf ihren Umzug vorbereiten, jedoch nichts mitnehmen sollten; andere kamen, die offenbar Mitleid mit den Zwangsumsiedlern hatten, und gaben ihnen zu verstehen, dass sie wenigstens das Allernötigste zusammenpacken sollten; und wiederum Dritte flüsterten ihnen zu: „Nehmt so viel mit, wie ihr tragen könnt!“ Was sollte man für die lange Reise ins Ungewisse mitnehmen? Und so fuhren Jelena Christianowna, Andrej Andrejewitsch und seine Mutter Maria sowie die Kinder Emma, die älteste Tochter in der Familie, die zu dem Zeitpunkt vierzehn Jahre alt war, die zwölfjährige Emilie, die sechsjährige Dorothea (Jewdokia), die dreijährige Amalie und der vier Monate alte Viktor im Grunde genommen als Vertriebene aus ihrer angestammten Heimat fort, wo bereits seit der Zeit Katharinas II die Grundsteine für Großdörfer gelegt worden waren, welche Jahrhunderte überdauern sollten.
Jene Gegenden, so erinnert sich Emilia Andrejewna Jegorowa, die in Bolschoj Uluj wohnt, heute, waren das Gelobte Land. Seit früher Kindheit wusste jeder in der Familie Altergot, dass der Acker ihre Nährmutter, ihre Ernährerin war. In den Wolga-Steppen wurden die Kinder von klein auf daran gewöhnt, in den Obst- und Gemüsegärten mitzuhelfen. Emilia Andrejewna erinnert sich, wie die Saratower Tomaten, die gestreiften Wassermelonen heranreiften und die herrlich duftenden Äpfel von den Bäumen fielen. Die Kolchose litt keine Not. Damals bekamen die Leute für die geleisteten Tagesarbeitseinheiten Früchte, Gemüse, Fleisch und Milch. Und wenn alle in der Familie fleißig mit anpackten und die Hände nicht im Schoß ruhen ließen, dann wussten sie – im Herbst würde das Korn ein wahrer Leckerbissen sein.
Die Umsiedler wurden in sperrigen, für diesen Zweck völlig ungeeigneten Waggons nach Sibirien gebracht, in denen sonst Vieh, Holz oder Kohle transportiert wurde. Das war im goldenen September. In den Waggons herrschte drückende Hitze. Die Menschen waren eng zusammengepfercht – wie „Heringe in der Konservenbüchse“. Während der Fahrt starben Kinder, aber auch viele Erwachsene hielten dem Hunger und der stickigen Enge nicht stand. Trotzdem gab es dadurch in den Waggons nicht mehr Platz – an den Bahnstationen mussten neue Vertrieben zusteigen. Wie Jelena Christianowna, Andrej Andrjewitsch und Großmutter Maria Altergot die fünf Kinder durchbrachten – das weiß allen der Allmächtige.
In Atschinsk wurden sie von Pferdefuhrwerken erwartet. Sogleich teilte man ihnen mit, dass sie nun in das Dorf Nowonikolsk im Bolscheulujsker Bezirk kämen. Nachdem sie an ihrem neuen Wohnort eingetroffen war, fügte sich die deutsche Familie ergeben in ihr Schicksal und nahm die dort vorhandenen Bedingungen an. Das halbe Dorf war zusammengelaufen, um sich die Deutschen anzuschauen: was waren das für welche? Erst später begriffen die Sibirjaken, dass die Neuankömmlinge ganz gewöhnliche Menschen waren – fleißig und unendlich geduldig; nur Russische verstanden sie nicht sehr gut.
Die beiden ältesten Mädchen – Emma und Emilie, wurden zusammen mit Vater, Mutter und Großmutter sofort zum Arbeiten in der Kolchose eingeteilt. Sie wurden gezwungen, alle anfallenden Arbeiten zu verrichten. Niemand murrte – denn sie besaßen ja nichts. Sie liefen die Höfe der einzelnen Dorfbewohner ab – und die bezahlten ihre Leiharbeiter mit Kartoffeln. Wie sehr hungerten und froren Kinder wie Erwachsene in diesem ersten Herbst in fremden Gefilden! Der Vater wurde schon bald darauf zur Holzbeschaffung in das Gebiet Kirow mobilisiert. Und ein paar Monate später brachten sie auch die älteste Schwester Emma fort – auch sie sollte an der Arbeitsfront helfen. Fast fünf Jahre lang lebte das Mädchen in Baschkirien. Aber schließlich kehrte sie doch nach Nowonikolsk zurück. Aber vom Vater trafen nur ein paar Briefe ein, er kam in der Holzfällerei ums Leben.
In der Kolchose blieb vom einstigen großen Familiennest der Altergots nur ein kleiner Teil zurück, der dort arbeitete – Mutter, Großmutter und Emilia … SO gut wie Jelena Christianowna und Oma Maria konnte niemand im ganzen Dorf Sachen stricken, genau so wenig wie kunstvolle Decken nähen. Dieses Nebengewerbe half schließlich auch dabei, sie vor dem Hungertod zu bewahren. Was für eine Menge Arbeit bedeutete das für sie? Vom frühen Morgen an schufteten sie auf dem Kolchoshof, und am späten Abend spannen sie Schafwolle, strickten und steppten Decken. Immer hofften sie auf helle Mondnächte. Bei hellem Mondschein konnte man viel mehr stricken … Die Finger der müden Hände beeilten sich, hielten die feinen, kunstvollen Handarbeiten näher ans Fensterchen heran, aber der Mond war schnell, viel zu schnell wieder verschwunden. Viele Nowonikolsker jener Jahre trugen Wollschals, Strümpfe und Strickjacken, die Jelena Christianowna und Oma Maria angefertigt hatten.
In der Familie reichte das tägliche Brot nicht. Die Altergots begaben sich mit Zittern in den Laden in Bolschoj Uluj, dem die Repressierten zugeteilt worden waren, aber s8ie hegten auch Hoffnung: vielleicht gelingt es ja, ein wenig mehr Brot zu kaufen?! Dort arbeitete eine gute russische Frau namens Nina, die Jelena Christianowna ab und an eine etwas größere Ration zukommen ließ. Gleich neben dem Laden befand sich das Kriegskommissariat, in dem Kommandant Tronin in seinem Ledersessel saß – ein schlechter Mensch. Merkwürdigerweise sah er grundsätzlich, wenn an der Verkaufstheke zu ungewohnter Stunde Jelena Christianowna stand. Einmal bemerkte er sie, wie sie zusammen mit Emilia dort stand. Völlig aufgebracht und nachdem er sein Pferd gesattelt hatte, hetzte er die Mutter mit ihrem Kind fast ganze bis nach Baschenowka. Und so kamen sie im Laufschritt zu Hause in Nowonikolsk an, ohne das Stückchen Brot, das Nina für sie zurückgelegt hatte….
Aus Baschkirien trafen Briefe von Emma ein. Sie litt Hunger. Sie bat darum, ihre Pakete zu schicken. Was konnte man für die Tochter hineinlegen? Da gingen Mama und Emilia los und baten in den umliegenden Bauernhöfen um Almosen. Dabei führte der Weg sie nach Turezk, Listwjanka, Nowaja Elowka. Manch einer gab den Bettelnden von seinen eigenen Lebensmitteln, was er selber erübrigen konnte, andere sprachen Kränkungen aus, beleidigten durch ihre Worte oder ließen scharfe Hunde auf sie los. Man begegnete ihnen auf ganz unterschiedliche Weise. Beim Bolsche Ulujsker Postamt wurden Pakete von Deutschen nicht angenommen. Ob sie es einfach nicht wollten oder ob es einen entsprechenden Befehl der lokalen Führung gab, war nicht bekannt? Um das Paket trotzdem an die Tochter senden zu können, brachte Emilias Mutter es mit dem Schlitten nach Atschinsk. Sie fuhr von Dorf zu Dorf und legte immer wieder Pausen ein. Nachts kam sie bei gutmütigen Menschen unter. Insgesamt war Jelena Christianowna drei-vier Tage unterwegs. Im Winter kehrte sie halb erfroren zurück. Was war das nur für ein schmaler Weg zwischen den Wäldern, den sie mutterseelenallein zurücklegen musste? Als sich der Sieg abzeichnete, fingen sie endlich an, Pakete auch in Uluj anzunehmen. Das Leben wurde etwas leichter. Die Altergots bekamen ein Grundstück mit Kartoffeln zugeteilt, und obwohl die Rinder aus dem Dorf in der ersten Saison, gleich nach dem Pflanzen, die zukünftige Ernte niedertrampelten – stürzte das die Nowonikolsker nicht ins Elend.
Die Kinder wuchsen heran. Als Emma zurückkehrte, gingen sie und Emilia gemeinsam los, um dünne Espenstämme zum Bau eines eigenen Hauses zu beschaffen. Unermüdlich trugen die Mädchen auf ihren wunden Schultern einen Stamm nach dem anderen nach Hause. Später halfen sie den anderen Dorfbewohnern. Und ihrer erste kleine Kate in sibirischer Verbannung errichteten die Altergots mit Hilfe der Nowonikolsker. B8is zum heutigen Tage ist Emilia Andrejewna den Menschen dankbar, die ihnen damals Verständnis entgegengebracht haben, die mit ihnen im Kriege ein kleines Stückchen Brot geteilt haben. Nicht umsonst wird gesagt, dass es die Welt nicht ohne gute Menschen gibt.
Später, zu Beginn der 1950er Jahre wurde das Leben dann schon leichter. Dorothea, das heißt die mittlere Schwester Jewdokia, ging als Melkerin auf die Farm für Milchprodukte, und auch Amalia, die Jüngste, fing an zu arbeiten. Und ihr Bruder Viktor half dem Kinomechaniker bei seiner Arbeit. Später wechselte er als Fahrer in die Hofwirtschaft, und diesen Beruf übt er auch heute noch aus. Er lebt in Bolschoj Uluj.
Die fünf Kinder der Familie erfreuen sich nach Kräften einer guten Gesundheit und leben in der Bezirksstadt, mit Ausnahme von Amalia Andrejewna; sie hat sich in Sutschkowa niedergelassen. Aus jedem von ihnen sind Kinder hervorgegangen und inzwischen auch Enkel und Urenkel. Und so ist das große Geschlecht der Altergots etstanden. Jelena Christianowna starb vor zwölf Jahren im Haus von Emilia Andrejewna Jegorowa. Sie wurde 84 Jahre alt. Jelena Christianowna ging einen langen, beschwerlichen Lebensweg auf dieser Erde, nachdem sie ihre geliebte Schwiegermutter in Nowonikolsk begraben hatte, die ebenfalls in ihren achtziger Lebensjahren starb.
Als ich mich von Emilia Andrejewna verabschiedete, fragte ich:
- Sie haben so viel durchgemacht. Sie sind ursprüngliche Deutsche; haben Sie denn nicht den Wunsch, ins gelobte heutige Deutschland auszureisen?
- Aber wozu denn? – fragte die Frau verwundert. – Unsere Heimat – ist die Gegen um Saratow. Wir sind dort geboren, genau wie unsere Väter und Großväter. Nein, nach Deutschland wollte ich noch nie. Aber die Wolga würde ich mir gern noch einmal ansehen. Als Zwölfjährige bin ich von dort fortgefahren. Mit einer Fähre überquerten wir den Fluss. Man erzählt, dass es heute eine schöne Brücke dort gibt. Wie gern würde ich wenigstens mit einem Auge diese heimatlichen Gefilde noch einmal sehen. Ich könnte ja ganz umsonst dorthin fahren, aber mein Mann benötigt Geld für die Fahrt. Und außerdem habe ich einen kranken Großvater – Michail Pawlowitsch.
Mit Eintreffen des Mannes, das heißt Michail Pawlowitsch Jegorows in der Familie Altergot – das war noch Ende der 1950er Jahre in Nowonikolskoje – ging es ihr merklich besser. Denn außer dem noch minderjährigen Viktor gab es keine weiteren helfenden Männerhände in der Familie.
Heimat … Unsere liebe, riesige, reiche und vor ihren Söhnen und Töchtern sündig gewordene Heimat! Warum wurden menschliche Schicksale zu Mehl, Staub und Asche zermahlen? Die Erde ist doch sowieso für alle gleichermaßen da, aber das Vaterland – das einzige, das man hat, das muss einen schützen und seine Kinder behüten – so wie eine Mutter es tut.
Vor der Standhaftigkeit der mir unbekannten Jelena Christianowna Altergot – verneige ich mich. Sie umfing ihre Kinder mit Liebe und ließ es nicht zu, dass auch nur eines von ihnen zerbrach. Heute führen sie ein einfaches, offenherziges Leben. Und im Gedächtnis der ältesten Kinder dieser Familie ist bis heute die Erinnerung an die ersten Tage der Vertreibung geblieben.
Nadeschda Stefanenko
„Nachrichten“, N° 139, 18.11.1997