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Für heldenhafte Arbeit

Wie der Mehrheit der Deutschen geriet auch die Familie Wigel (oder Wiegel) nicht freiwillig nach Sibirien: im Jahre 1941 wurden alle Ausländer deuschen Ursprungs aus dem Gebiet Saratow in die Tiefen Rußlands verschleppt. Und sie wurden nicht nur verschleppt, sondern ausgewiesen und von der Erde fortgejagt, auf der schon ihre Groß- und Urgroßväter seit de Zeit Katharinas der Großen gelebt hatten. Die Geschichte ihres leidvollen Lebens hat Dorothea Heinrichowna Wigel aus Nowonikolska erzählt. Wie zwei Tropfen Wasser spiegeln sich in ihren Berichten die Ereignisse und die Lebensrealitäten tausender anderer deutscher Familien aus Kasachstan und dem Wolgagebiet wider. Sie stalinistischen Repressionen jener Zeit berührten übrigens nich nur die Deutschen. Auch Letten, Esten, Litauer, Inguschen, Tataren erfuhren am eigenen Leib den ganzen „Liebreiz“ der Umsiedlung für immer.

Bis heute erinnert sich Dorothea Genrichowna and den Tag, als ihre aus zahlreichen Mitgliedern bestehende Familie, es waren 13 Personen, aus dem kleinen Dorf nahe Saratow fortfahren mußten. Es war der 17. September. Am Morgen waren alle zum Dorfsowjet bestellt worden, wo man ihnen die bevorstehende Verbannung mitteilte, und abends wurden sie bereits auf Fuhrwerke geladen und ... ab ging es zum Bahnhof. Ein paar wenige Sachen durften sie mitnehmen, Kleidung und Lebensmittel für unterwegs. Emma Gottliebowna, Dorotheas Mutter, sah unzählige Male die Kinderkleidung und das Geschirr durch, völlig unschlüssig darüber, was sie am besten mitnehmen sollten, damit die Begleitpersonen ihr später beim Einsteigen in den Waggon nicht das wegnahmen, was ihrer Meinung nach überflüssig war. Die Männer bemühten sich, sämtliche Kleidung, die sie in ihrer einfachen Garderobe besaßen, übereinander anzuziehen. Dem Vater gelang es, ein kleines Ferkel zu schlachten. Nachdem sie es kräftig eingesalzen hatten, wickelten sie es in ein Leinentuch und hingen es gleich im Eisenbahn-Waggon an einen Haken. Und dann aßen sie es wie Pökelfleisch. Aber im Hof blieben eine Kuh, Gänse, Enten, Schafe, Hühner, Schweine und ein großes, solides gebautes Haus zurück. Sie kehrten nie mehr dorthin zurück.

... In Baschenowka ließen sie sich bei einer alleinstehenden Frau namens Tatjana Kornienko nieder.

- Wir lebten in der „guten Stube“ des Hauses – erinnert sich Dorothea Genrichowna. – Der Vater schleppte Stangen aus dem Wald heran und errichtete von Wand zu Wand Schlafbänke. Und wer dort keinen Platz fand, der schlief auf dem Boden. Andrej und ich waren jung (D.H. Wigel heiratete vor dem Krieg) und schliefen auf dem Boden und Manjascha, unser Töchterchen, in einer Holzkiste, die aus verschiedenen Brettern zusammengenagelt war.

So lebten die Zwangsumsiedler bis zum Frühjahr, wobei sie nach und nach all ihre Habseligkeiten verkauften, damit sie dafür nur etwas zu essen beschaffen konnten: Kleidung, einfache Gerätschaften. Und falls es den Ausspruch „Arm wie eine Kirchenmaus“ tatsächlich gibt, dann traf er auf unsere Lieben zu. Auch unsere Familie wurde kleiner: sie schickten Dorotheas Ehemann Andrej, den Schwiegervater, die Schwägerin, den Schwager und die Nichte zur Arbeitsfront nach Baschkirien. Mit den Verbliebenen zog Heinrich nach Nowonikolsk. Sie ließen uns nicht vor Hunger sterben ... da waren ja die Kühe. Die Nowonikolsker stellten die Verschleppten ein, um die Herde des Dorfes zu hüten. Anfangs nahmen sie nur das Familienoberhaupt, aber später half auch Dorothea mit.

- Fünf Jahre habe ich die Kühe gehütet, dann wurde ich zu einer anderen Arbeit versetzt. Niemand fragte mich, ob ich das wollte oder nicht. Eines Tages kam ein Milizionär und brachte mich auf eine Schafsfarm. Ich bedeute ihm, daß ich kein Russisch sprechen kann; wie sollte ich denn mit der anderen Frau in der Zweierbrigade zusammenarbeiten, aber er zeigte mir nur seine Nagan-Pistole; du mußt dich fügen – bemerkte meine Gesprächspartnerin ironisch.

Seit der Zeit kann D. H. Wigel nicht ohne Schaudern den Anblick von Militäruniformen ertragen, da ihr Leben während der Kriegs- und Nachkriegsjahre streng von den Organen kontrolliert wurde, welche die Ehre und Würde des Menschen unterdrückten.

Der erste Brigadekamerad, also keine Frau, war Onkel Kolja, mit Spitznamen Rasseja. Er war es auch, welcher der schweigsamen Deutschen die ganze Hirten-Wissenschaft beibrachte: sie hüteten von den ersten Frühlingstagen bis zum Herbst eine große, bis zu 500 Kopf zählende, Schafherde, und im Winter – habe ich immer vierundzwanzig Stunden gearbeitet und dann 24 Stunden frei gehabt - Wachdienst im Schafstall; ich war dafür zuständig, daß die kleinen Lämmer durchkamen. Später hütete Dorothea Heinrichowna zusammen mit Emma Altergot und Praskowja Schpak die Tiere, aber hauptsächlich mit Tatjana Filippkina, die ihre zur guten Freundin und Helferin wurde.

Der Krieg ging zuende, es kam bereits das Jahr 1949, und Andrej, der Ehemann von D.H. Wigel war immer noch in Baschkirien. Endlich wurde Dorothea in die Kreisstadt bestellt: man hatte darüber entschieden, daß sie zu ihrem Mann fahren konnte. Drei lange Monate lang lebte sie mit den Kindern in Uluj, wo sie auf die Erlaubnis einer Zusammenkunft wartete. Und dann kam das OK, sie fahren nach Atschinsk, wo sie zusammen mit anderen Umsiedlern auf die Weiterfahrt nach Baschkirien warten.

Maria Andrejewna, die Tochter, erinnert sich:

- Wir, und noch eine weitere Familie, wurden in einen Raum gerufen, in dem eine strenge Frau saß. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und zeigte mit dem Finger auf die anderen: "Sie fahren, die anderen - nicht". Mama stieß einen Schrei aus und sank zu Boden ...

So kam es nicht dazu, daß sie ihren Ehemann wiedersah. Andrej heiratete dort, lebte lange Zeit in Baschkirien, und dann verlor sich seine Spur. Dorothea heiratete erst Ende der 1960er Jahre, im Alter von 46 Jahren.

- Meine besten Fraunjahre habe ich nur mit Arbeit verbracht, - sagt Dorothea Heinrichowna, - das ist wohl mein Schicksal. Von den Schafen kam ich im Jahre 1957 zu den Kühen. 15 Jahre habe ich auf der Farm gearbeitet.

Und wie sie gearbeitet hat! Als damals noch Arbeitstage wegen hervorragender Leistungen angerechnet wurden, waren D.H. Wigel davon nicht weniger gutgeschrieben, als bei einem Mechanik-Bestarbeiter. Der Milchertrag machte bis zu 2800 Kilogramm Milch pro Jahr aus - und das von einer einzigen Kuh.

Nach den Worten der Rentnerin mochte sie nicht langsam arbeiten und mit den ihr aufgetragenen Aufgaben hinterherzotteln. Sie hat die Kühe gehegt und gepflegt, so gut sie es vermochte.

- Es ist lustig, wenn man heute daran zurückdenkt, aber sogar nachts bin ich heimlich zur Farm gerannt und habe meine Herde zusätzlich gefüttert - erzählt Dorothea Heinrichowna.

1972 widerfuhr der Melkerin ein Unfall: die Kuh trat ihr mit dem Huf gegen das kranke Bein (D.H. lahmte seit ihrer Kindheit). Das Knie schwoll an, sie hatte höllische Schmerzen, aber man ließ sie nicht von der Arbeit fort. Als sie einmal schon nicht mehr melken konnte, ließ man Dorothea Heinrichowna die Räumlichkeiten saubermachen. Mit Krücken unter dem Arm, einem Schabeisen in der Hand - und so ging sie zur Arbeit.

Als die Schmerzen nicht mehr auszuhalten waren, begab sich D.H. Wigel ins Kreis-Krankenhaus. Von dort schickte man sie sofort nach Krasnojarsk, wo sie zeitlebens für die

2. Invaliditätsgruppe eingestuft wurde. Für ihre Lebensarbeit erhielt Dorothea Heinrichowna Wigel Medaillen, darunter auch Jubiläums- und Belobigungsurkunden. Was ihr auch sagt, "ruhmreich" belohnt der Staat für die unfreiwillige Zwangsarbeit und Sklaverei, die mit den Füßen zertretene Würde, das Familienglück und die Gesundheit. Sie denkt nicht an all die erfahrenen Kränkungen, die 76 Jahre alte Frau; sie lebt, freut sich über ihre Enkel und Urenkel, bringt ihnen ein wenig deutsches Gerede, deutsche Lieder und Gedichte bei.

G. Ilina
in der Zeitung "Westi", B.-Uluij, 23.12.1997


Auf dem Foto: Dorothea Heinrichowna (links) 
mit Tochter Maria Andrejewna Sidorowa und Urenkeln
Foto aus dem Familienarchiv


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