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Man kann unmöglich vergessen

Oskar BESGANZ – Vorstandsvorsitzender der deutschen nationalen und kulturellen Autonomie, Jurist:

- Ich wurde 1937 geboren, genau in dem Jahr, das so traurige Berühmtheit erlangte. Meine Eltern lebten zusammen mit ihren drei Kindern auf der Krim; sie waren recht wohlhabend, besaßen eine gesunde Wirtschaft, und da, im August 1941, als der Krieg begann, transportierten sie uns, die Deutschen, alle in den Kaukasus. Sie sagten uns, daß es nbicht für lange sein würde, zwei Monate vielleicht, so lange die Faschisten angriffen. Mit uns nahmen wir nur ein Minimum an Sachen, nur das Allernötigste. Einen Monat später trieben sie uns auf einen Güterzug; ohne weitere Erklärungen mußten wir in Viehwaggons einsteigen und wurden nach Nord-Kasachstan deportiert, wo der Schnee einem bis zu den Knien reichte, und wir hatten doch nur leichte Schuhe an. Und damit begann dann auch unser lustiges Leben. Den Vater holten sie sofort von zuhause ab; er kam nach etwa einem Monat irgendwohin zur Arbeitsarmee, und wir drei blieben mit unserer kranken Mutter zurück, um fortan ein kümmerliches Dasein zu fristen. Ich war der älteste in der Familie. Die Erinnerung an all das ist schrecklich. Als ich das erste Mal zur Schule ging, war ich bereits 10 Jahre alt; ganz einfach deswegen, weil ich keine Kleidung besaß, in der ich hätte zur Schule gehen können. Und festes Schuhwerk hatte ich überhaupt nicht. Nur so komische Bastschuhe – und das war’s.

Anfangs wohnten wir im Badehaus, später in einer Scheune, wir aßen alles, was uns unter die Finger kam. Ich mußte um Almosen betteln, auf der Straße um Essensreste bitten, um nur nicht vor Hunger zu sterben. Und im Frühjahr ging ich aufs Feld, um dort verfaulte Kartoffeln zu sammeln, die sie im Herbst vergessen hatten. Und gerade zu der Zeit fuhr der Vorsitzende auf der Anhöhe vorbei; er kam sogleich zu mir herübergefahren, fing an mit seiner Peitsche zu schlagen, und schlug damit den ganzen Weg, bis wir ins Dorf zurückkamen, während ich versuchte vor ihm davonzulaufen. Dort verlor ich dann das Bewußtsein. Wie es dazu kam, dass er mich nicht totgeschlagen hat – das vermag ich nicht zu sagen.

Nachbarn gaben der Mutter den Rat sich beim Kommandanten zu beschweren, aber sie tat es nicht. Dem Vorsitzenden war daran gelegen, die Sache zu vertuschen; deswegen brachte er einen Sack Weizen. Anschließend setzten wir uns hin und mahlten diesen Weizen auf Mühlsteinen, buken Fladen und waren zufrieden. Es ist ganz schrecklich an all das zurückzudenken.

So quälten wir uns bis zum Jahr 1947 herum, und erst dann kehrte der Vater aus der Trudarmee zurück. Wir zogen in die Bezirksstadt um, bauten uns eine Erdhütte, kauften ein Lämmchen, dessen Milch wir tranken. Später wurden noch drei Kinder geboren. Dass sie überlebten und sogar eine Ausbildung machten, darüber kann man sich heute nur wundern.

Wir bekamen unsere Strafe in erster Linie deswegen, weil wir Deutsche waren, und das Wort „Faschist“, mit dem sie mich damals beschimpften, tönt so lange in meinem Ohr, bis ich endlich gelernt hatte Prügel auszuteilen und zurückzuschlagen. Natürlich fühlten wir uns wie Aussätzige unter den anderen Leuten.

Niemandem möchte man die Wiederholung eines Schicksals wünschen, wie es uns ereilt hat.

Olga RAN, Solisten am Krasnojarsker Opern- und Ballett-Theater

Es gab nicht eine einzige deutsche Familie, die nicht von der Deportation, anderen Arten der Verfolgung oder der Trudarmee berührt war. Unsere Familie bildete da keine Ausnahme. Großvater starb in einem Lager der Arbeitsarmee bei Tscheljabinsk an Ruhr. Dort bauten die Trudarmisten ein Metallhüttenwerk. Dort blieb der Großvater auch. Dort blieb auch Mamas jüngster Bruder, der gerade erst 15 Jahre alt geworden war. Damals war ich noch nicht auf der Welt. Mir ist dieser Alptraum nur aus den Erzählungen der Eltern bekannt. Unsere Familie wurde mit hunderten anderen von der Krim nach Kasachstan verschleppt. Die kleinen Kinder starben vor Hunger, Kälte und dem plötzlichen Klimawechsel. Es ist schwer sich vorzustellen, wie die Deutschen dort lebten. Es war also ob sie auf der Straße wohnten. Nebenan befand sich ein Getreidespeicher. Dort arbeiteten sie. Wenn ein paar Getreidekörnchen zwischen die Falten der Kleidung geraten, braten sie sie später zuhause eine Zeit lang und kochen dann Suppe daraus. So ging es den ganzen Krieg hindurch – und auch danach, bis 1950. Ich glaube 1948 herrschte allgemein großer Hunger.

Ich wurde in Kasachstan geboren. Nach Krasnojarsk bin ich vor 20 Jahren umgezogen. Vorher beendete ich das Uralsker Konservatorium, arbeitete 5 Jahre am Akademischen Operntheater in Swerdlowsk. Man lud uns, ein paar Leute, ins gerade neu errichtete Operntheater in Krasnojarsk ein. Ich bin hier also schon seit Beginn der allerersten Saison. zur Eröffnung des Theaters sang ich den Kontschakow aus „Fürst Igor“.

Meine Eltern sind 1993 aus Kasachstan fortgegangen und leben jetzt in Deutschland. Papa ist dort gestorben. Mama und ich sehen uns jedes Jahr einmal. Ich besuche sie dort, oder sie kommt nach Krasnojarsk. Aber es ist dort schwer für sie – in moralischer Hinsicht. Sie ist dort ganz allein. Irgendwie sitzen dort eben nicht alle Lieben beisammen. Und nun wird sie noch von dem Grab ihres Mannes dort festgehalten.

Mama wurde auf der Krim geboren, Papa stammt auch von dort. Zur Zeit des Krieges waren beide noch Kinder; sie wurden zusammen mit ihren Eltern nach Kasachstan deportiert. Mama kann die Sprache für den Alltagsgebrauch. Im Urlaub fahre ich für ein par Monate zu ihr und sehe: zu dieser Zivilisation finden wir einfach keinen Zugang. Das ist ein Problem. Ein sehr großes Problem. Eine vollkommen andere Welt. Die Kinder tauchen allerdings ziemlich schnell darin ein. Den Rentnern geht es dort gut. Sie sind materiell ausreichend versorgt. Auch Mama; sie ist es sogar, die uns hilft. Aber vom seelisch-moralischen Unbehagen, das sie empfindet, kann sie sich nicht loslösen.
Dort nenne sie uns Russen. Es spielt keine Rolle, ob du Russe oder Deutscher bist,: sobald du aus Rußland kommst, bist du ein Russak. Wenn ich nach Deutschland komme, bin ich dort nur mit Freunden, Bekannten, Verwandten zusammen. Mit der gewöhnlichen Bevölkerung ergibt sich einfach kein Kontakt.

Aleksander POPP, Mitglied der Künstler-Vereinigung Rußlands

Ich wurde 1947 geboren. Man kann sagen, dass ich genau in dem Augenblick das Licht der Welt erblickte, als sie meinen Vater aus einem eingestürzten Schacht herauszogen. Er war in der Trudarmee und arbeitete in den Leninsker Schachtanlagen im Gebiet Nowosibirsk.. Sie brachten den Vater nach Nowosibirsk, versuchten ihn zu retten, aber alle Bemühungen waren erfolglos. Meine lieben Schwestern starben alle noch früher, während des Krieges, ebenfalls in Nowosibirsk. Dorthin wurde unsere Familie 1941 aus Saratow, zusammen mit vielen anderen deutschen Familien, deportiert.

So blieb ich mit meinem mamachen allein zurück. Wie wir zurechtkamen? Wie alle anderen auch. Ich erinnere mich an die Erdhütte, in der wir lebten, das kleine Dörfchen. Das war im Gebiet Nowosibirsk.

Jetzt wohne ich schon 20 Jahre in Krasnojarsk. Ich bin damals hierher gekommen, um an der Surikow-Fachschule für Kunst zu studieren; ich habe dort den Abschluß gemacht. Die ganze Region habe ich mehrmals bereist, vom Sajan-Gebirge bis nach Dickson. Ich bin mit dem Flugzeug geflogen, anstatt mit Flußdampfern zu fahren, und dann einfach zufuß, nur mit meinem Skizzenblock bewaffnet. Manchmal reiste ich allein, manchmal zusammen mit anderen Künstlern. Ich arbeite viel und gern. Ich habe eine ökologische Serie angefertigt, insbesondere Ansichten vom Jenisej. Dazu gehören hunderte von Arbeiten. Ich habe auch den großen Zyklus „Steine Sibiriens“ realisiert und eine ganze Galerie von Portraits geschaffen.

Ich konzentriere mich sehr auf meine Arbeit. Die Künstler schätzen mich. Ich empfinde keinerlei Voreingenommenheit wegenmeiner Nationalität. Selbst in meiner Kindheit hat mich niemand als Faschist bezeichnet, geschweige denn heute. In sozialer Hinsicht fühle ich mich gut.

Ob ich Interesse an der Geschichte der Meinen in der Trudarmee habe? Ich möchte so antworten: ich bin einfach nur Deutscher. Meine ganze Genetik ist deutsch. Somit reagiert mein Herz auf alles Nationale. Allerdings kann ich meine Muttersprache nur schlecht sprechen. Irgendwann hat Stalin uns in seine hohle Hand genommen und fortgeschleudert, uns wie mit einem Fächer in den riesigen Weiten des Landes verstreut. Woher soll ich die Sprache können? Zudem hatten die Eltern furchtbare Angst mir ihre Sprache beizubringen.

Veröffentlicht in: Freundschaftsbund N° 4, 1998


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