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Mit Erlaubnis des Kommandanten

Persönlich war ich von der Trudarmee nicht betroffen. Aufgrund meines Alters gehörte ich nicht zu denen, die einberufen wurden. Aber mein Vater und mein Bruder (er ist fünf Jahre älter als ich) gerieten dorthin, und ungefähr ein Jahr später, als sie auch damit anfingen Frauen und Mädchen ab 16 Jahren zu mobilisieren, wurde auch meine Schwester zur Arbeitsarmee geholt...

Papa war Buchhalter. Mein Bruder lernte am Maschinenbautechnikum, meine Schwester an der pädagogischen Fachschule. Wir wohnten in Marxstadt, in der Republik der Wolga-Deutschen. Urplötzlich wurde die deutsche Bevölkerung aus ihren angestammten Wohnorten herausgerissen und nach Sibirien abtransportiert - angeblich zur vorübergehenden Ansiedlung. Am 2. Oktober 1941 trafen wir im Bezirk Irbej ein. Ich war damals 13 Jahre alt. Wir wurden am Bahnhof in Empfang genommen. Man fragte uns aus, wer welchen Beruf hatte, und dann verteilten sie uns mit Fuhrwerken auf die umliegenden Dörfer, Unsere Familie gelangte in das Dorf Taloje: „Dort, in der Maschinen- und Traktorenwerkstatt brauchen sie einen Buchhalter“. Insgesamt kamen noch 15 weitere Familien dorthin. Man brachte uns in einer Gemeinschaftswohnung für Mechanisatoren unter. Der Bruder fand eine Arbeit in der Werkstatt, und auch meine Schwester (drei Jahre älter als ich) begann zu arbeiten. Und ich ging in die Schule: auf Anraten des Direktors sollte ich die fünfte Klasse wiederholen, denn bis dahin hatte ich an einer deutschen Schule Unterricht gehabt, während hier auf Russisch unterrichtet wurde.

Bereits im Januar 1942 wurden Vater und Sohn mobilisiert. Alle Männer zwischen 16 und 60 Jahren wurden, ohne Ausnahme, in die Arbeitsarmee geholt. Sie gerieten ins „Kraslag“ – Postfach 265, wo eigentlich Häftlinge gehalten wurden. In so einer Nachbarschaft mußten sie leben. Unsere Deutschen arbeiteten ebenfalls in der Waldwirtschaft, und im Frühjahr mußten sie das Holz über die Taiga-Flüsse nach Kansk abflößen. Sie lebten separat in der Siedlung Schedorba, ungefähr vierzig Kilometer von Taloje entfernt, weit abgelegen in der Taiga.

Ringsherum gab es nur Taiga; etwa alle fünf Kilometer war ein Lager eingerichtet worden. Anfangs arbeiteten unsere Leute ohne Wachbegleitung. Aber als sich die Situation an der Front verschlechterte, verschlimmerten sich auch die Haftbedingungen der Trudarmisten.

Das ist mir bekannt, weil ich häufig mit Paketsendungen dorthin ging. Auf jeden Fall einmal im Monat. Die Unterstützung von Verwandten war vonnöten – die Menschen wurden miserabel verpflegt. Vater und Bruder gerieten in ein- und dasselbe Lager. Wir suchten zuhause alles zusammen, was an Kleidung infrage kam und tauschten sie in den Dörfern gegen Mehl und andere Lebensmittel. Mama backt noch ein paar Semmeln, und dann bringe ich alles hin. So konnten sie überleben. Und was das für ein Brot war, das sie da buken: 20 Prozent Mehl, der Rest – Kartoffeln. Allen ging es so. Es kam vor, daß die Frauen bei grimmigem Frost ihren Trudarmisten Pakete mit dem Schlitten brachten, und dabei versagten ihnen ihre Beine doch vor lauter Hunger selbst den Dienst. Es gab niemanden, der irgendetwas Überflüssiges besaß... Nach etwa zwei Jahren wurden Vater und Bruder nach Nischnjaja Pojma geschickt.

Irgendwann vor Kriegsende wurde der Vater aufgrund von Krankheit erlassen: er wurde von Rheumatismus geplagt. In einer am Wegesrand gelegenen Baracke, in der die Briefträger die Postsendungen zwischen der Bezirksstadt und dem Dorf und umgekehrt austauschten, begegnete mir ein Freund und berichtete, daß er gesehen hätte, wie mein Vater nach Hause gehumpelt sei. „Lauf los, dann triffst du ihn . Er kann kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Sie zu, daß du ein Fuhrwerk für ihn findest“. Und ich sage sofort zu Mutter – „Versuch ein Fuhrwerk ausfindig zu machen oder wenigstens ein Pferd!“ – und dann rannte ich los, um dem Vater entgegenzulaufen.

Als ich ihn sah, zog sich mein Herz zusammen: er war kaum in der Lage sich vorwärts zu bewegen. Ich nahm ihm den kleinen Koffer ab; Papa schaffte es noch etwa einen halben Kilometer weiter, dann brach er völlig entkräftet zusammen. Ich hob ihn auf meine Schultern und bezwang auf diese Weise die restlichen 6 Kilometer bis zum Nachbardorf. Wir kamen in der Nacht dort an, bei strömendem Regen. Und am Morgen kam Mama mit einem Pferd herbei. Wir setzten Vater darauf und brachten ihn nach Hause.

Aber die Behörden ließen ihn nicht in Ruhe. Mehrfach ließen sie ihnen vor einer ärztlichen Untersuchungskommission erscheinen. Schließlich erkannten sie ihn als arbeitsunfähig an, und er konnte zuhause bleiben ...

In unserem Dorf gab es lediglich eine Acht-Klassen-Schule, die ich mit Erfolg beendete – obwohl ich gleichzeitig arbeitete, mitunter sogar bis in die tiefe Nacht hinein. Um eine weitere Ausbildung zu machen, mußte man in die Bezirksstadt fahren. Aber der Kommandant läßt einen nicht – es gibt niemanden, der sonst die Arbeit macht. Schließlich haben sie die Frauen auch alle in die Trudarmee geholt. Allerdings ist Mama aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht mobilisiert worden. Als sie die anderen Frauen noch ein Stück begleiteten, schlug der Wirtschaftsleiter Mama vor, mich bei sich arbeiten zu lassen (damals ging ich noch zur Schule): „Sonst werdet ihr Hunger leiden. Und so gibt es wenigstens die Arbeiter-Ration.Ihr habt eine Kuh, und mit Heu und Brennholz helfen wir euch aus“. Wir erklärten uns einverstanden.

Die Maschinen- und Traktoren-Werkstatt besaß ihre eigene große Wirtschaft, darunter 12 Pferde. Dort brachten sie mich unter: ich sollte Brennholz und Heu transportieren. Es kam die Zeit, daß ich meine Schwester in den Schlitten setzen mußte, um sie nach Kansk zu fahren, zur Trudarmee. Es herrschte ein derart klirrender Frost, daß wir dachten, wir würden es nicht schaffen und nie dort ankommen; wir waren sicher wir würden unterwegs erfrieren. Es war schon gut, daß ich vorsorglich eine Menge Heu geladen hatte. Wir verkrochen uns darin und retteten auf diese Weise unser Leben.

Vom Fuhrmann lernte ich bald darauf zum Schlosser um. Es gab niemanden, der Schlosserarbeiten verrichten konnte – alle waren doch an der Front oder in der Arbeitsarmee. Als Drechsler arbeitete ein Krüppel bei uns. Mit meinem ersten Auftrag mühte ich mich die ganze Nacht ab, und am nächsten Morgen rannte ich zur Schule. Das Ganze war so geregelt: so lange du die gestellte Aufgabe nicht zuende gebracht hast, darfst du die Werkstatt nicht verlassen. Und so kam es , daß ich mitunter mutterseelenallein des Nachts in der Werkstatt arbeitete. Das ging etwa ein Jahr so. Ich hielt durch.

Als Werktätiger erhielt ich 800 Gramm Brot – Mama, als nichtverdienendes Familienmitglied, zwischen 200 und 500 Gramm. Davon lebten wir. Und dazu brachten wir es auch noch fertig die Unseren davon zu ernähren, indem wir Sachen gegen Lebensmittel eintauschten.

Die Schwester geriet nach Burjatien/Mongolei. Dort arbeitete sie all die Jahre in den Schachtanlagen als Normsachbearbeiterin, und es war für sie nicht mehr ganz so schwer. Als der Krieg zuende war, wurde die Truppe, in der sich der Bruder zuletzt befand, aufgelöst, und die Trudarmisten wurden in alle Ecken der Sowjetunion fortgeschickt. Den Bruder schickten sie nach Mittel-Asien. Dort arbeitete er längere Zeit in irgendwelchen Schachtanlagen.

Offiziell gab es keinerlei Mitteilung über die Auflösung der Trudarmee. Die zur Zwangsarbeit dorthin verschleppten Menschen wurden nach und nach zu freien Arbeitern, einige wurden sogar entlassen. Aber die meisten von ihnen wurden nicht fortgelassen, denn sie hatten sowieso nicht das Recht, ihren Aufenthaltsort zu verlassen, den die Behörden ihnen zugewiesen hatten. Sie wurden nun schon nicht mehr bewacht, aber die ihnen gewährte Bewegungsfreiheit war beschränkt auf die Grenzen des für sie zuständigen Meldebezirks.

Erst Mitte der 1950er Jahre wurde diese Ordnung abgeschafft. Die Erinnerung daran ist ziemlich gruselig, denn den deutschen Sondersiedlern war es verboten, sich ohne Erlaubnis der Kommandantur (bei der wir uns jeden Monat einmal melden mußten) weiter als drei oder fünf Kilometer über die Grenzen der Ortschaft hinaus zu entfernen. Sonst galt dies als Fluchtversuch, der mit einer Strafe von 20 Jahren Zwangsarbeit bestraft wurde – und zwar ohne Rücksicht auf das Alter des Gesetzesbrechers.

Die Mittelschule befand sich im Bezirk Irbej, 30 km von Taloje entfernt. Und da verkündete mir der Kommandant, als er mich auf dem Weg in die Bezirksstadt einholte: „Bleib’ du mal schön zuhause. Für dich gibt es keine Schule. Und wenn du nicht hörst, dann kriegst du 20 Jahre Zwangsarbeit“. Trotzdem beharrte ich mit allen Mitteln auf meinem Vorhaben, denn ich wollte unbedingt weiter zur Schule gehen. Irgendwann hatte der Kommandant Mitleid mit mir und beschloß, niemandem von meinen Eigenmächtigkeiten Bericht zu erstatten. Wir verstanden uns deswegen dann nachher auch ziemlich gut.

Mein älterer Bruder kehrte 1958 aufgrund familiärer Umstände zu uns zurück. Meine Schwester kam mit ihrer Tochter zu uns, als wir bereits in Krasnojarsk lebten. Und ich zog 1947, mit Erlaubnis des Kommandanten, nach Krasnojarsk um, damit ich dort weiterlernen konnte. Nachdem ich die Zehn-Klassen-Schule in Irbej beendet hatte, immatrikulierte ich am Sibirischen Forsttechnischen Institut – heute die technische Universität. Ich wurde Ingenieur-Technologe, besitze den akademischen Titel eines Doktors der technischen Wissenschaften. Jetzt bin ich bereits in Rente.

Natürlich haben mein Bruder, meine Schwester und ich eine derartige Jugend nicht haben wollen, aber ... aus einem Lied kann man nicht einfach die Strophen herausstreichen.

Richard FINK, Kandidat der technischen Wissenschaften

Veröffentlicht in: Freundschaftsbund N° 4, 1998


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