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„Und er glaubt an ein mögliches Wunder…“

Mit seinen 77 Jahren übertrifft er jeden Jugendlichen. In allen Bereichen. Sowohl in der Malerei, als auch in der Poesie und beim Tischgespräch zeigt sich Toiwo Rjannel talentiert und unermüdlich.

Und dabei ist das Schicksal mit ihm keineswegs behutsam umgegangen: 1931 wurde die finnische Bauern-Familie Rjannel nach Sibirien verschleppt, zur ewigen Ansiedlung. Und fast das ganze Leben verbrachte der Volkskünstler Russlands in der Verbannung (die Rehabilitation als Staatsbürger fand erst 1993 statt). In den letzten Jahren lebt Rjannel in Finnland, besucht aber ziemlich oft Krasnojarsk. Und auch dieses Mal gelang es ihm während seines Aufenthalts eine Menge zu tun: er organisierte eine Ausstellung mit neuen Bildern im Restaurant „Vernissage“, feierte im Freundeskreis seinen Geburtstag, veranstaltete einen poetischen Abend im Literatur-Museum. In nächster Zeit soll im „Platina“-Verlag sein neues Memoiren-Buch „Der ungebetene Gast“ erscheinen.

Während ich das Buch mit Gedichten Rjannels „Wie eine Flamme leuchtete der Feuervogel“ durchblätterte, musste ich ganz unfreiwillig an Puschkin denken: „Und nennt mich in seiner Sprache einen stolzen Enkel sowohl der Slawen, als der Finen…“ (zu Puschkins Zeiten wurde das Wort „Finne“ mit nur einem „n“ geschrieben). Ja, hier kommt man offensichtlich ohne Puschkin nicht aus. Und der finnische Junge beherrschte nicht nur die russische Sprache, sondern konnte sich und seine Seele auch in einem russischen Gedicht ausdrücken:

Ich segne den ehrlichen Kampf –
Soll das Duell entscheiden.
Ich schieße besser als Puschkin,
Wenn das Ziel die Kugel wert wäre…

- Wann sind Sie Aleksander Sergrejewitsch zum ersten Mal begegnet?

- Das war bereits in Sibirien, als ich in die russische Schule kam. Anfangs machte ich schrecklich viele Fehler – und die Kinder lachten mich aus. Das ertrug ich ja noch,,, aber wenn sie über meine abgetragenen Schnürschuhe lästerten, dann war das für mich unverzeihlich – ich schlug demjenigen sofort auf seinen „Schweinerüssel“. Sehr bald begriff ich, dass ich überhaupt nichts wusste, und da begann ich wissensdurstig alles zu lesen, was ich in der Schul- und Bezirksbibliothek finden konnte. Gerade Puschkin half mir dabei, die russische Sprache zu empfinden und lieben zu lernen. Unendlich lange konnte ich die kristallenen Mosaike aus äußerst präzise gewählten Worten anschauen: „…und die Tanne grünt durch den Raureif, und das Eis am Flüsschen glänzt!“ Ich las - und nahm den Geruch des ersten Schnees wahr! Es schien, als ob die Natur selbst zur Poesie würde. Ich war glücklich, dass ich da sehen konnte, - und ich glaubte fest daran, dass ich mir die russische Sprache zu Eigen machen würde.

- 1937 beging das ganze Land den 100. Todestag Puschkins. Doch dieses Jahr ging in die Geschichte auch als blutigstes Jahr des Stalinistischen Terrors ein… Erinnern Sie sich alle noch an jenes Puschkin-Jubiläum?

Bereits ein Jahr vor dem Jubiläum, im Jahre 1936, gab man mir in der Schule ein „Puschkin-Album“ in Auftrag. Ich bemühte mich sehr, aber natürlich war ich ein unerfahrener Illustrator – und meine Zeichnungen schienen naiv und oberflächlich. Nachdem ich die Arbeit an dem Jubiläumsalbum beendet hatte, begriff ich, dass ich die Seele von Puschkins Werken schlecht verstand. So konnte ich beispielsweise den tiefen Sinn seiner „Bösen Geister“ nicht verstehen. Und die Prämie in Höhe von 50 Rubel, die ich bald darauf auf der Ausstellung für dieses Album erhielt, erfreute mich nicht. Umso mehr, als es in demselben Jahr zu zahlreiche anderen, nicht sehr angenehmen Ereignissen kam… Ich meine damit die Verhaftungen von nahestehenden und verwandten Personen. 1938 erfuhr ich, dass mein Brüderchen erschossen worden war, der übrigens ein hervorragender Poet war. Auch einer meiner gutem Bekannten, der letzte aus dem Geschlecht der Heerführer Buxhoeveden, wurde Opfer der Repressionen – er hatte mir dabei geholfen, den „Boris Godunow“ zu verstehen… Und seit der Zeit, wenn ich - egal bei welchem Wetter oder welcher traurigen Minute – Puschkin aufschlage, zerstreut sich der Kummer.

- Seit wann schreiben Sie selber Gedichte?

- Ich habe schon in der Kindheit angefangen zu schreiben, auf Finnisch. Meine Kameraden baten mich irgendwie, Aufschriften in Versform für die weißen Bänder auf den Trauerkränzen zu entwerfen – und ich führte diese Bestellung aus… Später, bereits in den 50-er Jahren, als ich ein bekannter Künstler war, schrieb ich (auf Bestellung, für ein Fässchen Oliven) Gedichte in russischer Sprache auf einem metallenen Denkmal. Na ja, und wenn ich ganz ehrlich bin, dann schreibe ich eigentlich schon seit langem Gedichte, hielt mich aber nie für einen echten Dichter. Wie kann man auch davon reden, wenn es um uns herum – Puschkin gibt!... Alles, was mit Puschkin im Zusammenhang steht, übte einen kolossalen Einfluss auf meine Formierung als Bürger des Russischen Staates aus. Wenn Puschkin übrigens 1937 am Leben gewesen wäre, hätte man ihn auf jeden Fall verhaftet und gehörig „ausgeklopft“.

- Und wenn Puschkin urplötzlich im heutigen Russland auftauchen würde – könnte er uns dann heute helfen?

- Das könnte er – denn er hatte auch von Wirtschaft Ahnung, und er war überhaupt ein kluger Mann. Doch das Elend liegt darin, dass damals wie heute niemand auf Dichter oder Schriftsteller hört. Auf Solschenizyn haben sie nicht gehört! Ja, ich wusste, dass wir den „wilden Westen“ durchlaufen mussten, aber ich hätte nicht gedacht, dass der Weg so schwierig sein würde. Und Puschkin bewertete die russische Wirklichkeit sehr nüchtern, doch verbarg zu der Zeit niemals seinen Stolz auf Russland, glaubte stets an das „junge, unbekannte Geschlecht“…

- Welche Haltung nimmt man im heutigen Finnland gegenüber Puschkin ein?

- Er ist dort der am meisten übersetzte russische Dichter. Für einen der besten Übersetzer Puschkins, den berühmten Dichter Eino Leino, hat man in Helsinki ein Denkmal errichtet.

- Welches der Werke Puschkins steht ihnen als Künstler am nächsten?

- Das Gedicht „Kaukasus“ – es enthält sehr malerische Beschreibungen. Im Großen und Ganzen mag ich all seine Gedichte, besonders den „Ehernen Reiter“. Aber das Größte sind für mich „Die Geschichten des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin“ und „Kleine Tragödien“. Das ist mit nichts zu vergleichen! Puschkin war drei Köpfe größer als all seine Zeitgenossen. Und auch heute gibt es seinesgleichen nicht. Vielleicht kommt höchstens Twardowskij mit seinem „Wassilij Tjorkin“ etwas näher an ihn heran.

- Haben Sie jemals versucht, Puschkin auf Leinwand oder Papier darzustellen?

- Mehrfach. Ich besaß ein Porträt von Puschkin als Schüler des Lyzeums mit einer Feder in der Hand. Und dann malte ich ihn noch vor dem Hintergrund der Petersburger Überschwemmung…

- Wo befinden sich diese Arbeiten?

- Keine Ahnung (lacht). Meine Archive sind über ganz Sibirien verstreut!...

Nach unserer Unterhaltung wieder zu Hause angekommen, nahm ich aus dem Regal das Büchlein mit Gedichten Toiwo Rjannels und las diese Zeilen noch einmal durch, die einen unversiegbaren Optimismus ausstrahlen:

… Und an die Möglichkeit eines Wunders glauben,
Dass ich die Sonne wiedersehen werde
Und mit mir ewig sein werden
Die Kunst, Tränen und Liebe!

Eduard Russakow

Auf dem Foto: T.W. Rjannel

„Krasnojarsker Arbeiter“, 1998


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