Kürzlich erhielt Andrej Davidowitsch Christ, Einwohner der Bezirksstadt, von der Verwaltung für innere Angelegenheiten der Regionsverwaltung die Bescheinigung über die Rehabilitation seines Vaters. Der Text war standardmäßig aufgesetzt, und auch das Formular selbst war ein Standardvordruck. Darin hieß es, dass David Friedrichowitsch Christ, geb. 1900, wohnhaft in der Ortschaft Schwed, Bezirk Krasnojar, Gebiet Saratow, im September 1941 von den NKWD-Organen ausgesiedelt wurde. Es folgt die nicht wenige stereotype Begründung für die Anwendung der Repressionsmaßnahmen – die Ukase des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 28. August 1941 und 26. November 1941. Neu ist lediglich eines: jetzt taucht in der Bescheinigung der Begriff „aufgrund nationaler Merkmale“ auf. Und das bedeutet, dass absolut alle Deutschen, die im Wolgagebiet lebten, ausgesiedelt wurden, unabhängig von Alter, Geschlecht, Glaubensbekenntnis und sogar Parteizugehörigkeit. Das Elend ging an niemandem vorbei, einschließlich kleinen Kindern und schwachen, kraftlosen Alten.
Es sieht so aus, als ob David Friedrichowitschs persönliche Aktemit der Nummer 24262 bis heute im Archiv der regionalen Verwaltung für Inneres aufbewahrt wird, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass er posthum rehabilitiert wurde. Und darin befand sich, zusammen mit anderen Dokumenten, ein Foto, das man nun dem Sohn zurückgegeben hat. Dies war auch der Anlaß für das ausführliche Gespräch mit Andrej Davidowitsch.
Die Familie Christ war, wie viele andere Wolgadeutsche auch, sehr kinderreich. Vater David Friedrichowitsch und Mutter Emilia (Emilie) Genrichowna zogen sechs Kindchen groß – David, Amalie (Amalia), Genrich (Heinrich – er ist derjenige, der heute Andrej heißt), Gottlieb, Emma und Friedrich. Alle acht Familienmitglieder wurden, zusammen mit anderen Bewohnern ihres Dorfes, auf einen Zug verfrachtet und nach Sibirien geschickt. Der Zug mit den unfreiwilligen Passagieren, bewacht von Begleitsoldaten, ratterte über die Schienen, und jedesmal, wenn sie an einen großen Bahnhof kamen, wurden ein paar Waggons abgekuppelt. Die Familie Christ mußte in Atschinsk aussteigen. Und dann kamen sie in das Dorf Baschenowka.
Die fleißigen Männer und jungen Burschen, aber auch einige Frauen, wurden bald darauf zum Arbeitseinsatz geholt. David Friedrichowitsch geriet in die Stadt Kirow und arbeitete dort von Januar 1942 bis Januar 1944. Der älteste Sohn David starb 1943 aufgrund der alle Kräfte übersteigenden Arbeit und einer Erkrankung.
Nach dem Ende des Krieges keimte eine gewisse Hoffnung auf, dass man den Deutschen vielleicht erlauben würde in ihre Heimat, das Wolgagebiet, zurückzukehren. Aber ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Und die Familie Christ ereilte wenig später noch ein weiterer großer Kummer – am 1. August 1946 ertrank der elfjährige Gottlieb in einem Flüßchen.
Im Februar 1956 geschah ein lang ersehntes Ereignis – die Abschaffung der Meldepflicht in der Sonderkommandantur für alle Wolgadeutschen. Aber man erlaubte ihnen nicht nach Hause zu fahren. 1961 beschließt die Familie Christ nach Kasachstan umzuziehen, wohin die Verwandten sie eingeladen haben. Und nur Heinrich, den man zu jener Zeit nach russischem Brauch in Andrej umbenannt hatte, blieb auf ulujsker Boden zurück.
In fremder Umgebung, in dem Dorf Michajlowka, das im Dschambulsker Gebiet liegt, starb 1968 Amalie, die damals gerade das 41. Lebensjahr vollendet hatte. Am 31. Oktober 1977 verschied David Friedrichowitsch und am 7. Mai 1980 Emilie Genrichowna. Jetzt sind nur noch Emma und Friedrich am Leben, die beiden jüngsten Mitglieder der Familie Christ. Beide leben in Deutschland. Emma hat für Andrej bereits alle Formalitäten für die Einladung erledigt, und er trifft Vorbereitungen, innerhalb des nächsten halben Jahres nach Deutschland zu reisen.
W. Uskow
Auf dem Foto: David Friedrichowitsch Christ während der Verbannung, als er in dem Dorf Baschenowka lebte. Die Aufnahme datiert vom 20. März 1951.
Das Foto stammt aus dem Archiv der Behörde für innere Angelegenheiten der Regionsverwaltung.
„Nachrichten“, N° 20 (6438), 17.02.1998