Etappen einer großen Reise
Iwonna Bowar wurde 1902 in der Schweiz geboren. Hätte ihre Mutter, die Hausfrau namens Marmilon-Josefina, es vorhersehen können, daß auf ihre Tochter ein derart tragisches Leben wartete?
Über Iwonnas Kindheit wissen wir wenig – nur, daß sie neun Schulklassen an einem College absolvierte und im Alter von 16 Jahren als Stenotypistin in die Dienste des Lotteriekontors Dupont trat. Gleichzeitig lernte das Mädchen Geigespielen zund gab im Jahre 1922 seinen vorherigen Beruf auf, um eine professionelle Geigerin zu werden.
Das kleine Privat-Orchester spielte im „Kino“, wo es Stummfilme mit Musik begleitete, die der Stimmung entsprachen, und alles wäre auch wunderbar gewesen, wenn es den technischen Fortschritt nicht gegeben hätte. Ab 1927 tauchten in den Kinosälen neben Orchestern auch Radiolas auf, und als es schließlich im Kino nur noch Tonfilme gab, vergaß man die musikalische Begleitung vollends. Für die Dauer von fünf Jahren kehrte Iwonna daraufhin zu ihrer vorherigen Arbeit zurück, aber es waren weder die längsten, noch die schwierigsten, wie sich später herausstellen sollte.
1932 passierte ihr ein verspätetes und, da werden Sie sicher zustimmen, unglückseliges Ereignis, das ihr gesamtes weiteres Leben zerbrechen ließ: Iwonna verliebte sich in einen Kommunisten. Eigentlich war der Pole Mark Schalks gar kein Parteimitglied, aber er nahm in aktivster Weise an dem teil, was man damals üblicherweise als Arbeiterbewegung bezeichnete: Zusammenkünfte, Demonstrationen mit Proklamationen und ähnlichem Drumherum.
Kaum hatten sie die bürgerliche Ehe geschlossen, schoß die Polizei in Genf eine Massendemonstration nieder (13 Tote und 60 Verletzte – wobei ich aber zugeben muß, daß ich von einer Massen-Arbeiterbewegung in der Schweiz noch nie etwas gehört habe). Der junge Schalks war einer der Organisatoren der Demonstration, und die Regierung verwies ihn als unerwünschten Ausländer des Landes. In der Heimat zurück blieb – Iwonna! – aber sie folgt dem Geliebten. 20 Jahre später schreibt sie in ihrer Autobiographie: „Das Nomadenleben begann. Wir lebten in Frankreich, Portugal und Spanien, aber nirgends konnte mein Mann eine Arbeit finden. Ich hatte einen kurzseitigen Arbeitsplatz in einer französischen Export-firma, an der Französischen Universität in Madrid usw.“ Aber auch das wird noch nicht die schlimmste Zeit in ihrem Leben sein.
Die Erschießung im Jahre 1932 bewegte offensichtlich die schweizer Gesellschaft, und ein Jahr später kam im Kanton Genf eine sozialistische Regierung an die Macht. Mark wandte sich mit der Bitte an sie, zurückkehren zu dürfen, und erhält dazu die Genehmigung, aber die föderale Regierung in Bern widersprach: es stellte sich heraus, daß Schalks für immer des Landes verwiesen worden war. Iwonna kehrte allein in die Heimat zurück! – aber sie geht den Weg mit ihrem geliebten Mann bis zuende.
Offenbar war Mark Schalks in bestimmten Kreisen als Mensch ziemlich bekannt, dann an seinem weiteren Schicksal hatte der bekannte französische Schriftsteller und Kommunist Jean-Richard Blok besonders regen Anteil. Er verbürgte sich für Mark vor der Regierung der UdSSR, und er wurde als sowjetischer Staatsbürger anerkannt. Iwonna fuhr zu ihren Eltern in die Schweiz, aber nicht für lange: „Eine Frau gehört zu ihrem Mann“, selbst wenn sie in wilder Ehe mit ihm leben, - fügen wir noch hinzu. Im Jahre 1936 reist sie Mark mit Hilfe der MOPR (Internationale Hilfsorganisation für Revolutionäre; Anm. d. Übers.) nach Moskau nach.
Was sind dagegen schon die Shakespearre’schen Leidenshcaften! Das ist – Liebe!
In Moskauer unterrichtete Mark Französisch am Fremdsprachen-Institut, während Iwonna Bowar ihren gewohnten Beruf als Maschinenschreiberin in der französischen Redaktion des Radiokomitees ausübte. Die Jeschow- und später die Berija-Leute, peinigten das Land, wo es nur ging, aber das Leben des ausländischen Ehepaares blieb zunächst glücklich. Wie sich dann jedoch herausstellte, nur bis zu einer bestimmten Zeit. Mark wurde im Oktober 1940 verhaftet, Iwonna – einen Monat später. Wir wollen hier nicht den Versuch unternehmen uns vorzustellen, was sie in diesem Monat alles durchmachen mußte. Sie schwebte nicht auf einer Wolke, um zu begreifen, was genau seit einigen Jahren in der UdSSR vor sich ging. Sie sah doch, wie ihre Bekannten spurlos verschwanden, las von den Schauprozessen, und war sich wahrscheinlich auch über die Abkürzung TschSIR (Familienmitglied eines Vaterlandsverräters; Anm. d. Übers.) im klaren. Sie litt wegen Mark und wartete natürlich auf ihre eigene Verhaftung; möglicherweise war sie sogar erleichtert, als man sie schließlich abholte.
Ein Sonder-Kollegium des NKWD verurteilte unsere Geigerin und Maschinenschreiberin zu acht Jahren Lagerhaft mit der für die zivilisierte Welt vollkommen unwahrscheinlichen Formulierung „Verdacht der Spionage und der antisowjetischen Agitation“; man schickte sie ins Nord-Kusbas-Lager, OLP N° 1, an der Bahnstation Jaja, in der Nähe von Kemerowo. Ihre Invalidität bewahrte sie vor der alle Kräfte übersteigenden Schwerstarbeit im Lager. Iwonna erwarb sich dort die Fähigkeiten zu einer Spitzenklöpplerin, Strickerin und Stickerin allerfeinster Arbeiten. Die ganzen langen acht Jahre hindurch war sie bemüht, wenigstens irgendeine Kleinigkeit über das Schicksal ihres Ehemannes herauszubekommen. Schließlich erfuhr sie: er starb 1942 im Dalstroj – wenngleich es keinesfalls als sicher gelten kann, daß es sich dabei um die Wahrheit handelte.
Im November 1948 ging Iwonna Bowars Haftzeit zuende. Sie machte sich auf den Heimweg, aber auch dort hatte man sie inzwischen nicht vergessen. Im Lager traf ein Einschreibebrief des schweizer Gesandten ein, in dem er mitteilte, daß Iwonna Mutter immer noch in Genf in der Emien-Dupont-Straße wohnte und um das Schicksal der Tochter sehr besorgt sei. Auf ihre Bitte hin, hatten die schweizer Behörden dem Gesandten befohlen, Bowar ausfindig zu machen, herauszufinden, wo sie sich aufhielt und dann sicherzustellen, daß sie nach Hause zurückkehren konnte, sofern dies auch ihr eigener Wunsch war. Ach! Ob sie zu ihrer alten Mutter zurückkehren wollte – nachdem sie ihren Mann verloren und im Lager so viel Leid durchgemacht hatte? Ärgerlicherweise traf der Brief zu spät ein; man hatte ihn erst im Januar 1949 abgeschickt, als seine beabsichtigte Empfängerin sich schon längst nicht mehr im Lager befand. Aber vier Monate zuvor hatte der Gesandte an die gleiche Adresse ein Telegramm mit einer bezahlten Rückantwort unter einer Überweisung in Höhe von 300,- Rubel an die gleiche Adresse geschickt, aber die Gefangene hatte weder die Mitteilung, noch dasGeld erhalten. Und dabei hatte man ihr im Telegramm vorgeschlagen, sich ganz offiziell mit der Bitte an die Behörden zu wenden, ihr einen schweizer Paß auszustellen. Bowar wußte damals nichts von den Bemühungen der Mutter und der Regierung.
Sie wurde kurz vor Ablauf der Haftstrafe „freigelassen“, nach Krasnojarsk gebracht und einen Monat später in die Verbannung geschickt. Die Ortschaft Podtjossowo im Jenisejsker Bezirk, kann man auch heute noch zu den Verbannungsorten zählen, aber wie sah es dort damals, vor 50 Jahren, aus? Es war ein Provinznest, wie es im Buche steht! Iwonna versuchte erfolglos in Erfahrung zu bringen, wie lange sie in der Verbannung bleiben sollte, aber in den Dokumenten, die jetzt vor mir liegen, ist diese Verbannungsdauer überhaupt nicht erwähnt. Es gab sie auch gar nicht. Wenige Monate nach Iwonna traf Ariadna Efron, die Tochter von Marina Zwetajewa, über Krasnojarsk kommend, in der turuchansker Verbannung ein. Ihr hatte man sogar gesagt: unbefristet. Aber Iwonna quälte sich mit dieser schrecklichen Ungewißheit herum.
„Im Lager hatte ich mir einen zweiten Beruf erworben – das kunstvolle Sticken.
Aber auch in Jenisejsk braucht man eine derartige Tätigkeit nicht, so daß ich
ständig Absagen bekomme …
Was soll ich als verbannte, einsame Ausländerin ohne jegliche Hilfe und
Unterstützung tun!? Ich bitte beharrlich darum, mir die Situation ein wenig zu
erleichtern, indem man mir erlaubt, an einem anderen Ort, einer etwas
bedeutungsvolleren Stadt zu leben, als ausgerechnet in Jenisejsk, wo ich dann
wenigstens die Möglichkeit hätte, mir meinen Lebensunterhalt so zu verdienen,
wie meine Kräfte und Fähigkeiten es mir erlauben“. Sie werden es nicht glauben,
aber Iwonna bat darum, sie nach - Norilsk zu schicken. ... Sie fand dort erst
nach fünf Monaten eine Arbeit, als Sanitäterin im Krankenhaus, aber wovon sie
sich die ganze Zeit über ernährte, das weiß nur Gott allein – ja, es werden wohl
gute Menschen gewesen sein, die ihr geholfen haben, denn beide Ufer des Jenisej
Richtung Norden waren schließlich Verbannten-Regionen. Später mußte die
schweizer Geigerin dann auch als Haushaltshilfe in verschiedenen Haushalöten der
Siedlung Podtjossowo arbeiten.
Man muß noch anmerken, dass Iwonna innerhalb einer relativ kurzen Zeit – so etwa 13 Jahre – die russische Sprache in ihrer ganzen Vollkommenheit erlernte. Wenigstens zeugt ihre handgeschriebenen Autobiographie davon: ein guter literarischer Stil, fehlerfrei; nun ja, das Leben im Lager mag dazu beigetragen haben. Dafür schrieb der operative Bevollmächtigte, der in Jenisejsk für sie zuständig war: „In Übereinstimmung mit dem Original“.
Man muß wohl doch in einem freien Land geboren sein, um selbst nach einer achtjährigen Haftverbüßung im GULAG so für sich zu kämpfen, wie Bowar es getan hat. Sie schreibt an das Ministerium für Staatssicherheit in der Region Moskau und verlangt, dass man ihre die Sachen zurückgibt, die man ihr bei der Verhaftung fortgenommen hatte. Man antwortet ihr: da es nicht möglich war, die Sachen in Verwahrung zu nehmen, wuren sie an den Staatsfond übergeben. Sie stellt ein Gesuch, mit der Bitte, ins Ausland reisen zu dürfen, aber auf Rückfrage der Krasnojarsker MGB-Verwaltung kommt aus Jenisejsk die Antwort: ein derartiges Gesuch haben wir nicht erhalten. Stattdessen muß Iwonna 1952 durch ihre Unterschrift quittieren, dass man sie davon in Kenntnis gesetzt hat: jeder Fluchtversuch aus dem Ort der Zwangsansiedlung wird mit 20 Jahren Zwangsarbeit bestraft.
Und da stirbt Stalin. Die Kriminellen werden amnestiert, aber auch die politischen Häftlinge haben Grund zu der Hoffnung auf eine Besserung ihres Schicksals. Bereits im April schreibt Iwonna einen Brief an den Vorsitzenden des Obersten Sowjets der UdSSR, Klimentij Woroschilow: lassen Sie mich in die Heimat ausreisen, und im Juni, nachdem sie eine positive Antwort erhalten hat, richtet sie ein weiteres Schreiben an den Minister für Innere Angelegenheiten, Lawrentij Berija: „Ich wende mich mit der Bitte an Sie, mich aus der Verbannung freizulassen und dafür eine entsprechende Anweisung ..... an die zuständigen MWD-Organe zu schicken. Ich bitte ferner darum, mir die Mittel für die Fahrt nach Moskau zur Verfügung zu stellen. In Moskau rechne ich dann mit der Hilfe der Schweiter Botschaft“. Aber zu der Zeit hatte Berija mit ihr schon nichts mehr zu schaffen, denn er war selber bereits „ausgewechselt“ worden. Zu der Zeit erfuhr die schweizer diplomatische Mision endlich durch das Auslandsministerium Iwonnas Adresse, schickte ihr einen Fragebogen für die Ausstellung eines schweizer Passes zu, woraufhin sie erneut an das Ministerium für Innere Angelegenheiten schreibt: verzeihen Sie, wie kann das angehen – selbst Woroschilow hat mir die Erlaubnis erteilt auszureisen; also erledigen sie die kleine Formalität und ... entlassen Sie mich aus der Verbannung! Die Antwort vom Ministerium des Innern traf schnell ein: „Es gibt keinen Grund, die Verbannung aufzuheben“.
War es das? Nein! Iwonna Bowar empfand nun die Unterstützung seitens ihrer Landsleute und bombardiert nun beinahe wöchentlich alle nur möglichen Instanzen mit Briefen und Telegrammen, erhält widersprüchliche Antworten ; aber – sie bringt damit auch die Beamten durcheinander. Schließlich, im September, erhält sie einen schweizer Paß,und im Oktober – oh, welch langersehntes Wunder! – bekommt der Leiter der MWD-Behörde in der Regioon Krasnojarsk aus Moskau die Anweisung: „Zur Vorlage bei der Bowar ... schweizer National-Paß ... ist aus der Verbannung freizulassen. Darf in die Heimat ausreisen!“ Einem halben Monat später wurde Iwonna Bowar freigelassen und ihre Vorstrafen getilgt. Sie kehrte nach Genf zurück, wo sie im Alter von 82 Jahren verstarb.
Ein ungewöhnliches Schicksal, aber auch damit ist die Geschichte noch nicht zuende. 1997 erhielt der Vorsitzend der krasnojarsker „Memorial“-Organisation, Wladimir Sirotinin, einen Brief. Darin befand sich die Mitteilung, dass durch die Bemühungen des schweizer Journalisten Daniel Künzli und des moskauer Kinematographen Radij Kuschnerowitsch Bowar – die einzige schweizer Staatsbürgerin, welche in die Mahlsteine des NKWD geriet, rehabilitiert worden sei. Außerdem enthielt das Schreiben die Bitte, in Jenisejsk einen Film über Iwonna drehen zu dürfen. Selbstverständlich half Sirotinin dem Schweizer.
Aber auch hier gibt es eine ethische Kollision, eine Befremdlichkeit. Wozu bedurfte es für den Journalisten der Rehabilitierung Iwonnas – und dazu noch posthum? Um der Nachfahren willen? Aber, erstens, starb sie als vollkommen einsamer Mensch; zweitens – verschönert doch die antisowjetische Agitation eher die Biographie eines Menschen, als dass sie sie verdirbt. Schließlich und endlich bedeutet das Verlangen nach Rehabilitation unbedingt, wenn auch indirekt, die Anerkennung der Legitimation des stalinistischen Regimes im allgemeinen - und seiner Gerichtsbarkeit in Teilbereichen. Na ja, für Euch, Ihr gesetzestreuen Europäer, ist das etwas Erkennbares, aber Iwonna selbst – ist es bereits ganz gleichgültig.
Anatolij Ferapontow
In dem Artikel wurden Materialien aus dem Archiv des krasnojarsker „Memorial“
verwendet.
„Komsomolskaja Prawda“, 21.08.98