Am besten ist es, die Geschichte nicht anhand von Lehrbüchern zu studieren, sondern mit Hilfe von Augenzeugen. Für diejenigen, die das verstehen, wird die Möglichkeit, Teilnehmern an irgendwelchen historischen Ereignissen zu begegnen, selbst zu einem geschichtlichen Ereignis. Diesen Sommer gelang es mir, mit Iwan Terentewitsch Sidorow zu sprechen. Zweiundfünfzig Jahre hat er in Norilsk gelebt, angefangen vom Jahr 1940. Natürlich geriet er nicht aus freiem Willen in diese Stadt, sondern wurde nach der Kriegsgefangenschaft in Lager verschleppt. In Gefangenschaft geriet er während des Finnischen Krieges.
Die Ereignisse dieses Krieges hinterließen in seiner Seele so starke Eindrücke, daß sie für immer im Gedächtnis haften geblieben sind. Daher kann er auch heute noch, fast sechzig Jahre danach, in kleinsten Einzelheiten über jene kleine Schlacht berichten, nach der er in Gefangenschaft geriet.
- Dieser Krieg wurde auch noch der Winterkrieg genannt, weil er sich von November 1939 bis in den Februar 1940 hinzog. Der danach stattfindende Große Vaterländische Krieg übertraf den Finnischen und stellte ihn damit in den Schatten. Deswegen wissen die Leute heute nur wenig darüber. Aber für mich war er der einzigste und auch der bedeutendste.
Dreihunderttausend Menschen sind in jenem Krieg ums Leben gekommen, und viele erfroren auch – die frostigen Temperaturen erreichten Werte von minus vierzig Grad und darunter. Ich diente als Soldat der Landetruppen, das war damals ziemlich ungewöhnlich für die Rote Armee (übrigens bezeichnete man uns damals nicht als Soldaten, sondern als Rotarmisten). Zu jener Zeit waren wir, als besonders wichtige Kämpfer, sehr gut mit Kleidung versorgt, nur Waffen gab es wenig. In der Hauptsache waren dies Nagan-Pistolen, einige hatten auch Gewehre. Eine Maschinen-Pistole besaß niemand.
Wie man kämpft lernten wir in Borispol vor unserer Verschickung nach Finnland. Wir wurden übrigens darauf vorbereitet, daß wir möglicherweise gegen die Deutschen Krieg führen mußten. Damals hatten sie gerade nur Polen besetzt und beabsichtigten, ihre Truppenbewegungen weiter in Europa auszudehnen. Unsere gesamte Regimentsschule wurde in die Nähe von Leningrad gebracht, wo man uns das Skifahren beibrachte. Anders wäre es nicht möglich gewesen, gegen die Finnen zu kämpfen. Bei denen fahren ja sogar die Großmütter auf Skiern in die Geschäfte, und wir in der Ukraine hatten noch nicht einmal welche zu Gesicht bekommen.
Sie schafften uns in ein niedergebranntes finnisches Dorf, in dem früher einmal eine Zellulosefabrik gestanden hatte. Wir richteten unser Nachtlager her und entfachten Lagerfeuer. In der Nacht begannen die Feuerstellen in die Luft zu fliegen – offenbar ergibt Zellulose in Verbindung mit Masut (Erdölrückstände; Anm. d. Übers.) ein hochexplosives Gemisch. Außerdem waren am nächsten Morgen durch den giftigen Qualm alle Soldaten ihres Augenlichts beraubt. Zwei Tage wurden wir von Ärzten behandelt; danach kehrte das Sehvermögen zurück, und wir setzen unseren Marsch fort. Unsere Aufgabe war es – eine kleine Insel einzunehmen.
Wir waren gerade eben an diese Insel herangeschlichen, als am Himmel auch schon Raketen aufleuchteten und damit begonnen wurde, uns aus Maschinenpistolen zu beschießen. Ringsherum gingen die Soldaten zu Boden, die anderen stürzten mit dem Schrei „Hurra!“ vorwärts. Schreie, Weinen. Und was am stärksten in der Erinnerung geblieben ist: der laute Ruf „Mama!“ Auch mir hatte man bereits ein Bein durchschossen, aber der Knochen war unverletzt geblieben, und ich rannte weiter nach vorn. Das Wichtigste war – vorwärtslaufen, aus irgendeinem Grunde kam es uns so vor, als wenn dort irgendwo der Sieg auf uns wartete.
Als wir auf der Insel angekommen waren, erwartete uns noch eine andere Erfindung der Finnen – „Kuckucks“. So nannten sie kleine Pfeile, die in kleinen Hängevorrichtungen auf einen Baum hochgezogen wurden, von wo aus dann auch das Zielfeuer eröffnet wurde und von wo aus sie, sofern notwendig, selbst herabsteigen und fliehen konnten. Sofort wurde ich am anderen Bein verwundet; diesmal war auch der Knochen betroffen, so daß ich schon nicht mehr aufstehen konnte. Danach tauchten Finnen mit einem Maschinengewehr auf. Sie stellen es uns gegenüber auf, und der Leiter der Komsomolgruppe schreit herüber, daß wir unsere Komsomol-Mitgliedsausweise vernichten sollen. Aber das konnte bereits niemand mehr. Die Gewehrschützen eröffneten das Feuer, und sogleich erhob sich ein unheimliches Geheul der sterbenden Soldaten. Eine Kugel traf mich an der Lunge, aus dem Mund floß Blut, und ich fiel mit dem Gesicht in den Schnee. Das letzte, an das ich mich erinnern kann, waren die deutlich gesprochenen Worte „Mama!“
Ich weiß nicht, wie lange ich dort gelegen habe, aber als sie sahen, daß ich noch am Leben war, luden sie mich auf ein Boot und brachten mich ins Hospital. Dort wurde ich operiert und dann in ein Lager für Kriegsgefangene geschickt. Übrigens, als ich nach der Freilassung ins NorilLag kam, da entdeckte ich erstaunliche Ähnlichkeiten mit den finnischen Lagern. Praktisch ein- und dasselbe.
Hier im echten Lagersystem verbrachte ich ein Jahr. Ich hatte Glück, daß ich von Beruf Bauarbeiter war. Sie schickten mich nach Lama. Dort waren wir nur wenige, die Disziplin war viel lockerer. Deswegen bin ich bis heute der Meinung, daß ich großes Glück gehabt habe. Dort in Lama habe ich auch geheiratet (wobei nur drei Personen der Hochzeit beiwohnten), dort wurde unsere erste Tochter geboren, die jetzt bereits einundfünfzig Jahre alt ist. Mit Lama ist ein großer Teil meines Lebens verbunden.
Ich arbeitete mit Balten zusammen. Aie taten mir aufrichtig leid. Denn von vierzig Mann, die man zum Arbeiten nach Lama geschickt hatte, waren vier Generäle, die übrigen – Oberste und Oberstleutnante. Alle waren bereits betagt, krank, und dann noch dieses psychische Trauma – im Alter in den Norden verschleppt zu werden. Sie starben schnell dahin. Und auch der Skorbut war damals eine Massenerscheinung. Danach habe ich auch ein kleines Denkmal aus Lärchenholz errichtet, auf die ich all ihre Familiennamen schrieb. Für die damalige Zeit war das eine sehr wagemutige Aktion. Etwas später kamen Amerikaner; sie fotografierten das Denkmal und fanden es sehr interessant.
Die glücklichen Zeiten setzten für Norilsk wohl nach dem Jahr 1953 ein. 1953 fand ein Häftlingsaufstand statt. Natürlich gab es ein großes Blutvergießen (viele wurden erschossen), aber es gelang uns, Änderungen des Lager-Regimes zu bewirken. Diese Periode kann man als schicksalssträchtig in der Geschichte der Stadt bezeichnen.
Nach Lama arbeitete ich im Nickelkombinat. Auf einer der Versammlungen trat ich mit einer gewissen Kritik gegenüber der Geschäftsleitung auf, und das war, wenn man es so ausdrücken kann, der Beginn meiner politischen Karriere. Anfangs schoben sie mich in die Gewerkschaftslinie hinein. Dann wurden Dokumente von einer Sitzung unserer Komsomol-Zelle entdeckt, die noch zu Kriegszeiten stattgefunden hatte. Damals hatten wir den Beschluß gefaßt, uns im Todesfall zu den Kommunisten zu zählen. Als das herauskam, wurde ich in die Partei aufgenommen, obwohl dies für einen politischen Häftlinge sehr ungewöhnlich war. Mehr noch, mit der Zeit wurde ich Parteiorganisator meiner Werksabteilung.
Nein, gegen den Staat hege ich keinen Zorn. Ich habe mir mein Schicksal selbst ausgesucht. Schließlich haben mir doch in Finnland, während der Gefangenschaft, ehemalige weißgardistische Offiziere vorgeschlagen, mit ihnen zusammen zu bleiben. Sie versprachen mir eine Ausbildung in Frankreich und England, ein reiches und schönes Leben – aber ich lehnte ab. Mir gefiel und gefällt es hier, und ich liebe Norilsk. Und ich wiederhole noch einmal, daß ich mich für einen glücklichen Menschen halte.
Witalij TOLSTOW
„Sapoljarnaja Prawda“, 17. September 1998, No. 141 (11979)
(Zeitung herausgegeben in Norilsk)