Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Iwonna Bowars Geige

Die Redaktion der Zeitung „Zur rechten Zeit“ und der Autor des Artikels bringen W.G. Sirotinin ihren aufrichtigen Dank zum Ausdruck. Die vorliegende Veröffentlichung in unserer Zeitung wurde erst dank des unermüdlichen Vorsitzenden der Krasnojarsker „Memorial“-Organisation und der wissenschaftlichen Mitarbeit seitens des Museums im Kulturhistorischen Zentrum an der Strelka in Krasnojarsk möglich, die gern bereit waren, Materialien aus verschiedenen Archiven Rußlands zur Verfügung zu stellen.

Auf schweizer Territorium, in einer äußerst bedeutsamen Stadt, genauer gesagt in der Hauptstadt Genf mit ihren respektablen Stadtvierteln, wurde ganz zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Jahre 1902, in der Familie eines Telefonvermittlers eine Tochter geboren, die den Namen Iwonna erhielt. Dieses winzigkleine Wesen war von frühester Kindheit an dafür geeignet, in die Welt der Kunst, die Welt der Musik, vorzudringen, welche sie im aufgeklärten Europa umgab und mit ihrer Rührseligkeit und Ausdrucksfähigkeit die Menschen bezauberte.

Ihre Eltern ließen sich bei der Ausbildung und einer angemessenen Erziehung ihres Kindes nicht lumpen. Die Weltanschauungen, die sie sich als Folge der Reisen nach Frankreich, Deutschland, Belgien und die skandinavischen Länder erworben hatten, definierten ihr Verständnis für Bewegungsfreiheit nicht nur im territorialen Sinne, sondern auch im Hinblick auf Geselligkeit und die Fähigkeit zur Kommunikation mit den unterschiedlichen Schichten der menschlichen Gesellschaft in geistig-moralischen Dingen. Nach dem Abschluß der Mittelschule beginnt Iwonna Bowar im Privatkontor „Dupont“ als Maschinenschreiberin und Stenotypistin zu arbeiten, wo sie insgesamt vier Jahre blieb, d.h. bis 1922. Gleichzeitig beschäftigte sie sich erfolgreich mit dem „Geigenspiel“, wodurch sie auch in ein Streichorchester aufgenommen wurde.

Alle europäischen Länder schwärmten damals für den Sozialismus, die allgemeine Ordnung wurde etwas strenger. Neue Tendenzen ließen nicht auf sich warten; sie spiegelten sich in den kulturellen und musikalischen Aufführungen wider.

„1922 waren in Genf beinahe alle privaten Orchester arbeitslos“, - schreibt Iwonna Viktorowna mehr als 20 Jahre später in ihrer Autobiographie. In die Welt der Musik und der Kunst ist der Sturm der Freiheit eingedrungen – Radio und Kinematograph, die mit der Zeit die lebendigen, organischen Musikorchester verdrängten.

Nun mußten sie sich erneut auf die Suche nach Arbeit machen, und die fand Iwonna auch, wobei sie in mehreren Handelsunternehmen gleichzeitig eine Stelle als Stenotypistin annahm, was auf ihren ungemeinen Fleiß und eine äußerst erfüllte Lebensweise hindeutet.

Aber es ist an der Zeit, auch an ihr Privatleben zu denken. Und da – im Jahre 1932 – begegnet ihr ein energischer junger Mann – Mark Schalks, den sie bald darauf heiratet. Vom Sturm der Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfaßt, nimmt er aktiv an der Arbeiterbewegung teil. Bei einer der Demonstrationen, die mit der Erschießung von Arbeitern endete und bei der es insgesamt 13 Tote und 60 Verwundete gab, war auch Mark Schalks dabei, und er wurde dafür später Repressionen ausgesetzt, Schalks wurde als unerwünschter Ausländer (er war polnischer Staatsbürger) aus Genf ausgewisen. Und, wie Iwonna Bowar anmerkt, „begann nun das Nomadenleben. Wir lebten in Frankreich, Portugal und Spanien. Aber nirgends konnte mein Mann Arbeit finden“.

Iwonna selbst fand kurzfristig Arbeit in französischen Exportfirmen und sogar an der französischen Universität und in Madrid. „Als 1933 im Kanton Genf eine sozialistische Regierung gewählt wurde, beschlossen mein Mann und ich – so schreibt sie -, nach Genf zurückzukehren, aber Mark wurde dort nicht aufgenommen, und die föderale Gesellschaft der schweizer Regierung in Bern ordnete an, ihn für immer aus der Schweiz auszuweisen“.

Da beschließt Mark Schalks nach Moskau umzusiedeln – dem Zentrum des sozialistischen Lagers, wo man seiner Vorstellung nach den Kämpfer für Freiheit und Unabhängigkeit, den eifrig für Ordnung und Prinzipien eintretenden Mann verstehen und respektieren wird.

Hier, in einer Umgebung sozialistischer Ideale, bürgt der bekannte Schriftstellers Blok für ihn, und er erhält gleichzeitig Hilfe von einem französischen Kommunisten aus Frankreich; so nimmt Mark die sowjetische Staatsbürgerschaft an und bekommt einen sicheren Arbeitsplatz.

Ein Jahr darauf, d.h. im Jahre 1936 zieht Iwonna zu ihrem Mann nach Moskau um, was sich für sie allerdings äußerst schwierig gestaltet. Damals existierte die so genannte interntaionale Hilfsorganisation für Arbeiter und alle, die mit sozialistischen Ideen erfüllt waren, kurz –MOPR.

In Moskau wurde Iwonna würdig aufgenommen, und man gewährte ihr einen Arbeitsplatz als Redakteurin und Korrespondentin in der französischen Redaktion des Rundfunkkomitees. Mark Schalks war damals Lehrer der französischen Sprache am Fremdsprachen-Institut.

Endlich also hatte sich das rastlose Paar sein Leben ein wenig eingerichtet. Unbemerkt vergingen vier Jahre. Und dann kam das Jahr 1940, das sich für die bereits gegründete Familie, die endlich ihre Berufung und ihr ständiges Dach über demKopf gefunden hatte, verhängnisvoll auswirken sollte.

Und der Donner begann bereits zu grollen. Im Oktober 1940 wurde Mark Schalks verhaftet. Und erst vier Jahre später erfuhr Iwonna vom Schicksal ihres plötzlich verschollen Mannes, aber das war – wie gesagt – erst später.

Im November, d.h. ein Monat nach Mark Schalks Verhaftung, wird auch Iwonna Bowar festgenommen. Auf Anordnung einer Sondersitzung wurde sie mit der Formulierung „wegen des Verdachts auf .... nach § 58-10“ zu 8 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Bei der Verhaftung konfiszierte man I. Bowars schweizer Paß und ihre Geburtsurkunde.

Oh, allmächtiges Monster! Die mit Hammer und Sichel versehene Zitadelle und das Bollwerk des neuen sozialistischen Lebens sowie das System von KGB und MWD gingen ohne Furcht auch gegen die ausländischen Staatsbürger vor und empfanden davor auch keine Abscheu. Alles lief unter dem Siegel „streng geheim“. Aufgrund nicht vorhandener Möglichkeiten, Besitzgegenstände und Sachen zur Aufbewahrung zu geben, fiel alles an den Staatsfond der UdSSR und unterlag später auch keiner Rückgabepflicht, und die Geburtsurkunde wurde noch nicht einmal im Haussuchungsprotokoll schriftlich festgehalten und nicht als beschlagnahmt vermerkt.

In Sibirien lernte Iwonna Bowar Socken und warme Kleidung zu stricken. Man schickte sie zur Eisenbahnstation „Jaja“ – sie befindet sich im Gebiet Kemerowo. Und hier, sowie in einem weiteren Lager, verbrachte sie acht Jahre – bis November 1948.

Strapazen und Entbehrungen gab es mehr als genug, verschiedene körperliche Arbeiten erschütterten ihre Gesundheit, und während sie wieder auf dem Wege der Besserung war, machte Iwonna Bekanntschaft mit der kunstvollen Welt des Strickens und anderer Handarbeiten. Die stets rastlos tätige Frau zeigte auch hier ihre Neigung zur Fantasie beim Stricken verschiedener, nicht nur warmer Sachen, sondern auch modischer Servietten, Kopftücher und Umhänge sowie bei kunstvollen Stickereien, wodurch sie ihre eigene Trauer, ihre Leiden bezähmte.

bovar_ip.jpg (15201 bytes)Nach Verbüßung der Lagerhaft, die am 30. September 1948 zuende ging, wurde Iwonna Bowar nach Krasnojarsk geschickt, wo sie entsprechend dem Verteilungssystem zur weiteren Verbannung in die Stadt Jenisejsk, in die Arbeiter- und Bauern-Straße Nr. 38, kam. Die sorgfältige Suche nach einem ihrer Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz führten nicht zum erwarteten Erfolg. Und wenngleich sie sich im Lager einen zweiten Beruf angeeignet hatte – wie Iwonna selber sagt, die künstlerische Stickerei – so war dies etwas, was man in jener uralten sibirischen Stadt am grauen Jenisej nicht brauchte. An solchen Spezialisten gab es in den 1940er und 1950er Jahren in Jenisejsk mehr als genug.

Die 47-jährige Iwonna Bowar wird von einem permanenten Gefühl der Hilflosigkeit gequält; sie leidet unter den Entbehrungen und muß ihre ganze Kraft für die Sicherung ihres Lebensunterhalts aufwenden. Auch war ihr nichts darüber bekannt, wie lange sie in der Verbannung bleiben sollte. Da beschließt sie and das Ministerium für Staatssicherheit in Moskau zu schreiben; in dem Brief legt sie ihre Hoffnungen und Erwartungen dar, indem sie von ihrer schwächlichen Gesundheit berichtet und erklärt, dass sie nicht in der Lage sei, schwere körperliche Arbeiten zu verrichten. „Was soll ich denn tun – ich, eine verbannte, einsame Ausländerin, die von niemandem Hilfe erfährt!?“ Und weiter schreibt sie: „Nachdem ich Ihre Aufmerksamkeit auf das oben Erwähnte gelenkt habe, bitte ich inständig darum, mir meine Lage zu erleichtern und mir die Erlaubnis zu erteilen, in eine etwas größere, bedeutungsvollere Stadt als Jenisejsk umziehen zu dürfen, wo ich die Möglichkeit habe, mir meinen Lebensunterhalt nach meinen Kräften und Fähigkeiten zu verdienen (in einem Stickerei-Atelier, einer Schneiderwerkstatt, einer Nähereifabrik). Ich möchte wissen, für welchen Zeitraum ich in der Verbannung zwangsangesiedelt wurde und aus welchem Grund. Warum muß ich, eine ehemalige nichtsowjetische Staatsangehörige, diese Strafe absitzen, nachdem ich bereits 8 Jahre im Lager inhaftiert war“. Dieser Brief wurde am 20. Januar 1949 geschrieben. Aber zuvor, am 15. Januar, hatte sie bereits einen Brief an den Leiter der MGB-Behörde in der Region Krasnojarsk geschrieben, in dem sie verzweifelt darauf aufmerksam machte und dem Empfänger zu vermitteln versuchte, dass sie über keinerlei Mittel verfügte, keine ausreichende Kleidung und Unterwäsche besaß und sie in der UdSSR weder Freunde noch Bekannte habe, die ihr ein wenig hätten helfen können. Und sie bat darum, ihr eine, wenn auch nur geringfügige, materielle Unterstützung zu gewähren.

Die Antwort kam, und man erlaubte ihr, genauer gesagt, man verlegte Iwonna Bowar sogleich in die 26 km von Jenisejsk entfernte Siedlung Podtjossowo, wo sie „in einem Haus an der Oktober-Straße bzw. –Gasse 21, eine Arbeit fand. Dort bin ich als Sanitäterin und Hausbedienstete bei Privatleuten tätig“, - merkt Iwonna Bowar in einem Schreiben an das Ministerium für Auslandsangelegenheiten der UdSSR an.

Man kann Iwonna Bowar um ihre Hartnäckigkeit und Standhaftigkeit nur beneiden, aber man kann sie auch voll und ganz verstehen. Nun erwarb sie sich noch eine weitere berufliche Fähigkeit – die einer schreibenden Fürsprecherin, die ihr Schicksal aus den kalten, eisigen Ketten des Jenisej und dem damaligen „Lager des Weltgendarmen“ herauszureißen versuchte.

Iwonna Bowar schrieb Briefe an sämtliche Instanzen der russischen Staates, darunter auch ans Ministerium für innere Angelegenheiten der UdSSR und den Vorsitzenden des Obersten Sowjets der UdSSR Woroschilow sowie an die Konsulatsbehörde beim Auslandsministerium.

Und schließlich, im Jahre 1953, schickt ihr die schweizer diplomatische Mission, nachdem des Außenministerium ihr Iwonna Bowars Adressemitgeteilt hat, ihr einen Fragebogen zu, der zur Ausstellung eines schweizerischen Passes dienen soll.

Aber „nichtsdestoweniger“ – schreibt I, Bowar, „ verkündeten mir sowohl der Leiter der Miliz, als auch der Leiter der MWD-Bezirksabteilung der Stadt Jenisejsk, Oberst Moskalenko, an die ich mich wandte, dass ich ohne Sondererlaubnis des MWD nirgends hinfahren dürfe, weil ich, nach meiner Haftverbüßung im Arbeitslager (nach § 58-10), noch bis auf weiteres zur Verbannung verurteilt worden sei“.

Der Kreis hatte sich geschlossen. Aber dennoch wurden die unermüdlichen Gesuche schließlich von Erfolg gekrönt.

Im September 1953 teilte die regionale MWD-Behörde I. Bowar mit, dass sie nach Erhalt ihres schweizer Passes ungehindert abreisen dürfte. Im Oktober desselben Jahres erhielt sie ihr Visum zur Abreise ins Ausland.

Damit ging der lange Weg der Iwinna Bowar durch das unermeßliche Sibitien und die UdSSR zuende. Am 14. Dezember flog sie nach Genf.

Iwonna Bowar selber ist eine überaus ungewöhnliche Persönlichkeit, die erst später vom Tode ihres Mannes erfährt, der bereits 1945 starb und sich im DalLag, also im Fernen Osten, befand.

Leider ist uns nicht bekannt, was aus I. Bowar nach 1953 geworden ist. Wir wissen nur, dass sie 1984 starb. Und im Februar 1997 wurde sie durch die Bemühungen des schweizer Journalisten Daniel Künzi und des moskauer Kinematographen Radij Kuschnerowitsch rehabilitiert.

Über Iwonna Bowar gabes zahlreiche Publikationen in Paris, 1991, 1993, in den Niederlanden, 1991, und im Jahre 1997 wurde über sie ein 55 Minuten langer Film über sie gedreht. Unter I. Bowars Dokumenten und persönlichen Unterlagen befindet sich auch ein Büchlein, aus dem die Möglichkeit entstand, sie in verschiedenen Lebensjahren zu zeigen.

Aleksander SCHAIDT,
Direktor des Holzmuseums

„Zur rechten Zeit“, N° 17, 30.04.99


Zum Seitenanfang