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Die Deutschen . Kapitel aus einem Reiseroman

Ich bin gerade erst aus Deutschland gekommen. Vor meinen Augen sehe ich ein Mädchen – eine Schülerin, den Schulranzen auf dem Rücken, sie bahnt sich den Weg durch die herabgefallenen, gelben Blätter, wobei sie sie mit jedem Schritt aufwirbelt und mit ihnen spielt und spielt, alles andere auf dieser Welt vergessend – so vertieft ist sie in dieses Spiel. Da stieß mir der Teufel gegen den Ellenbogen: schreib, daß das Leben dort bei ihnen leicht ist, wie ein Spiel, leuchtend, wie diese Blätter von Ahorn und Linde, farbenprächtig, nicht so farblos wie zuhause ... Verschwinde, sage ich zu der schmutzigen Macht. Ich will nichts „umspielen“, ich will keine Unnatürlichkeit, obwohl du, Diabolus, in gewisser Weise recht hast. Auf dem Weg von Pulkowo dachte ich gerade daran: Gott, was für eine Grautönigkeit! Es würde mich interessieren, woran es liegt! An den Traditionen? Am Klima? Irgendwelchen energetischen Mächten?

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Bei meinem ersten Deutschlandbesuch (1984) gab es etwas, an dem ich mich nicht sattsehen konnte, und ich blieb buchstäblich zwischen den Eingangstüren eines Hamburger Kaufhauses stehen. Das heißt ich starrte und gaffte so sehr, daß ich nicht bemerkte, wie sich die Leute hinter meinem Rücken in Reih und Glied aufstellten, da es ihnen nicht möglich war, die Schwelle zu übertreten. Ich überlasse es Ihnen zu erraten, was ich in einer ähnlichen Situation auf Moskauer Territorium zu hören bekommen hätte, bis hin zu den letzten Winkeln des Landes– in Lipetsk, Omsk, Anapa ... Und jetzt zitiere ich die Worte, die mich dort zwischen den Türen des ausländischen Handelsunternehmens wieder ins Leben zurückbrachten, als die Leute hinter mir mit ihrer Geduld am Ende waren ...

Mein Herr, entschuldigen Sie ... verzeihen Sie, bitte. Wir verstehen natürlich, daß wir Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten; klar, daß Sie sich nicht wegen eines guten Lebens aufgemacht haben; offensichtlich gibt es etwas, worüber Sie nachdenken müssen, oder Ihre Frau hat Sie rausgeworfen, oder irgendetwas anderes Unerfreuliches, aber fühlen Sie sich um Gottes willen nicht gekränkt, dass wir mit der Zeit nicht so gut dran sind - wir sind in Eile.

Und da fing ich dann auch mit meiner Erzählung an, vielleicht mit dem Wichtigsten, was mich in Deutschland sehr beeindruckt hat. Es heißt, daß man Sie dort überhaupt nicht mehr sieht. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß sie einen mit ihrer Aufmerksamkeit nicht belästigen wollen (selbst wenn Sie sehr schön und elegant sind), sondern sich nach Kräften bemühen, Sie nicht mit ihrem Blick zu verwirren, keine Unruhe zu verursachen, auch nicht in der geringsten Weise nach Ihrer Unabhängigkeit zu trachten – egal, von was oder von wem ...

Etwas anderes ist es, wenn derjenige, dem man begegnet, ein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen bekundet hat und auf Ihren Wunsch eingeht, sich von der Menge etwas abzusondern. Da bleibt er dann stehen: Bitte, ich stehe zu Ihrer Verfügung. Ich habe den Eindruck, daß Sie mich etwas fragen, etwas erfahren möchten – um Gottes willen, fragen Sie, genieren Sie sich nicht, ich werde Ihnen helfen – so gut es geht ...

Ich erinnere mich an eine Studentin in Luxemburg, die, nachdem sie sich über meine sprachliche Vorbildung Klarheit verschafft hatte, ihre Tasche auf den Pflastersteinen abstellte, damit sie die Hände freibekam, um mir behilflich zu sein, das heißt - mit den Fingern: geradeaus, dann nach rechts, dann nach links, und dann heben Sie die Augen – und Sie werden am Himmel einen Orientierungspunkt finden – und das ist genau die Kathedrale, zu der Sie hingehen müssen ... Nachdem das Mädchen ihre Tasche vom Boden wieder aufgenommen und sie sich über die Schulter geworfen hatte, verwirrte sie mich vollends mit ihrer „überschwenglichen Gastfreundlichkeit“: „Haben Sie keine weiteren Fragen? Sonst – bitte, stellen Sie sie, Sie brauchen nicht verlegen sein (oder - sich nicht schämen).

Aber vielleicht hatte ich ja einfach nur das Glück, auf gute Menschen zu stoßen?

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Hier gehe ich nun zum nächsten Punkt über, der Besucher Deutschlands in Staunen versetzt. Selbst wenn Sie sich auf eine Reise vorbereiten und dieses und jenes gelesen haben, erscheint Ihnen der Anblick der Menschenmenge auf der Straße völlig überraschend.

Sie haben gelesen, daß die deutsche Bevölkerung – im Westen wie im Osten – sich ganz außergewöhnlich gleicht. Um es einfacher zu sagen – es sind Deutsche. Selbstverständlich gibt es nationale Minderheiten: Dänen an der dänischen Grenze, Holländer nahe den Niederlanden, eine klägliche Anzahl von vor und während des II. Weltkrieges am Leben gebliebenen jüdischen Familien und, natürlich, Zigeuner ...

Nichts haben wir dagegen von den Gastarbeitern, hauptsächlich aus der Türkei, Griechenland, Jugoslawien, gehört. Aber das sind doch Gäste, nur vorübergehende Bevölkerung ... Möglicherweise dachten so auch die Deutschen. Ich weiß nicht, ob sie sich da verrechnet haben oder nicht, jedenfalls war es nicht so – das ist sicher.

Das Straßenbild in den deutschen Städten ist schockierend bunt – wie in Paris.

In den ersten Tagen deines Aufenthaltes erklärst du dir die Buntheit noch ganz einfach – das sind Touristen. Aber schnell sonderst du die Touristen aus und unterscheidest sie von den anderen: viele von ihnen gehen in Gruppen, jeder zweite hat einen Fotoapparat oder eine Videokamera in der Hand, fast jeder – blickt nach oben, dreht sich um seine eigene Achse und schaut umher ...

Nein, mit der Hauptbevölkerung wirst du sie nicht verwechseln, selbst nicht mit denen, die zur Arbeit eilen, den Spaziergängern, die sich auf ein Tässchen Kaffee und ein Stück Kuchen niedergelassen haben (oder auch ohne den Kuchen), mit einem Krug Bier oder einem Gläschen Wodka... Entgegen allen Regeln bemerkte ich schon betagte Paare, die sich keusch an den Händen hielten, und junge Leute, die von einer Injektion, von einer Spritze, „high“ waren, eine Horde Kinder im Kindergarten und Gruppen von Fußball-Fanatikern ...

Und mich ließ ein Gefühl von Scham nicht los: also wer von uns ist der größere Internationalist? Ich, dessen Erziehungen diesbezüglich in früher Kindheit begonnen hat oder all diejenigen, die, im Unterschied zu mir, nicht bemerkt haben, daß sie im nächsten Jahrhundert leben, die nicht weiß von schwarz, braun von gelb, farbig von albinofarben auseinanderhalten können.

Ich füge hier keine Kenntnisse der soziologischen Forschung oder psychologischer Untersuchungen hinzu. Es ist klar, daß alles viel komplizierter ist, als es der Besucher sieht. Aber auch meine Empfindung ist eine – Tatsache.Deutschland ist mit seinem Internationalismus weit voraus. Mir kommt es so vor, als wäre es ein ganzes Jahrzehnt. Mich wundert diese große Anzahl Neger, Araber, Türken, Iraner, Albaner, Serben und Kroaten, Bosnier, Griechen, Spanier, Italiener usw. auf den Straßen der deutschen Städte. Aber die Deutschen wundert es nicht. Ich weiß, daß es Deutsche gibt, die sich nicht nur wundern, sondern vielmehr beunruhigt darüber sind, daß es so viele gibt. Und noch mehr Leute sind ganz einfach für „Deutschland den Deutschen“. Aber häufiger noch nehmen sie, die Gesetzestreuen, sich nicht die Freiheit, der Freiheit eines anderen zu schaden. Ich sehe, daß die Jugend, die auf dieser Erde geboren wurde, sich als ihre Herren empfindet, unabhängig von der Herkunft ihrer Väter und Mütter – sie haben keinerlei Komplexe und sprechen wunderbar Deutsch ... Sag nichts über die Alten, die hier in Rente gegangen sind; ihr Schicksal ist von vielen bitteren Erfahrungen gezeichnet, aber die süßen Früchte der europäischen Zivilisation werden von den Kindern genutzt und ganz besonders von den Enkeln. Ich erinnere mich an eine zusamengeschweißte Anlage aus Rohren hinter dem Kindergarten (gemeint ist ein Kinderspielplatz mit Klettergerüsten; Anm. d. Übers.) , die den weitverzweigten Baum ersetzte und voll und ganz die Leidenschaft des Kletterns zufriedenstellte. Auf drei verschiedenen Wegen hatten drei kleine Jungs den höchsten Punkt auf dieser Konstruktion erreicht. Alle drei bemerkten, daß sie fotografiert wurden, hätten jedoch niemals erraten, was mich, einen Rassisten, so magisch angezogen hatte: einer war ein Mohr, der Puschkin recht ähnlich sah, der andere sah aus, wie die leibhaftige, goldgelockte Gottheit Lelvani (Göttin der Unterwelt und der Hölle; Anm. d. Übers.), der dritte funkelte mit den Augen eines Eichhörnchens im blau-schwarzen Hintergrund. „Kinder verschiedener Völker, wir leben und träumen von der Welt“ – ein Plakat in seiner reinsten Form!

In Potsdam ... Ein verlassener Park, abgefallene Baumkronen, Skulpturen, die sich zur Überwinterung in Holzkästen entlang der Haupttreppe des Schlosses versteckt haben.

Am Sockel der Treppe auf zwei sich gegenüberstehenden Banken zwei 17-18 Jährige. Sie nehmen niemanden und nichts um sich herum wahr. Sie haben sich getrennt und spielen ein lustiges Spiel, wobei sie sich unterhalten ... ohne ein einziges Wort, mit glücklichem Lachen. Er lacht schallend, dann sie, dann beide im Duett ... Die Liebe! Ich phantasierte darüber, daß sie ihren Eltern und Freunden aus Berlin davongelaufen waren, hier stört sie niemand, und Sanssouci als erstes Ziel brauchen sie nicht, nach irgendwelchen Exkursionen war ihnen nicht zumute. Aber ich, der Kahlköpfige, hatte etwas gefunden, worüber ich mich wundern konnte!

Sie war Chinesin, er – Deutscher.

Ich nehme es nicht auf mich zu behaupten, daß sie sich zu einer Familie zusammentun werden. Aber ein Schritt in dies Richtung, daß nämlich eine Beziehung

zweier Rassen untereinander als völlig natürlich angesehen wird, ist bereits getan.

Mir liegen keine Zahlen vor, die beweisen, daß die Anzahl der Mischehen zunimmt - und zwar schnell. Aber es gibt keine Zweifel: so wie die Barrieren zwischen den verschiedenen Religionen (Katholiken – Protestanten, Protestanten – Juden, usw.), so werden , nicht unbedingt heute, aber morgen, deutsche Frauen anfangen mit türkischen Männern Verbindungen einzugehen, deutsche Männer mit türkischen Frauen, Iranerinnen und anderen Muselmaninnen, Buddhisten, Atheisten ...

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Bis jetzt hatte ich die Unseren nicht „bemerkt“. Es war schwierig. Als die Freunde von mit hörten, daß ich 5-6 mal pro Stunde Russen begegnet war (genauer gesagt – Menschen aus der Gemeinschaft unabhängiger Staaten), wunderten sie sich: „Wo sind die denn alle abgeblieben?“ Später stellte sich heraus: „In den Bezirk K. – vielleicht. Und du geh in unserem Bezirk ein wenig auf und ab. Aber komm nicht plötzlich auf den Gedanken zuzugeben, dass du auch ein Russe bist, sonst werden sie dich bis Einbruch der Nacht nicht gehen lassen“.

So gingen wir denn auch zur nächsten Verwunderung über: wieviele gibt es dort, die aus der Gemeinschaft unabhängiger Staaten ausgereist sind !

Rückkehr in die Kindheit. Am 22. Juni 1941 war ich fast viereinhalb Jahre alt, und ich kann mich an manches, was an diesem Tag geschah erinnern. S-t-ammelnd erscheint Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow. Beim Lautsprecher hatten sich Großvater und Großmutter und viele Nachbarn niedergelassen – hatten sie etwa nicht alle ein Radio?

Nach Molotow sagte die verweinte Mutter meiner Freundinnen Alla und Schena:

- Was wird mit uns geschehen?

Und dann ging sie fort, ohne ihre Tränen zurückzuhalten. Als sich alle Nachbarn zerstreut hatten, fragte ich:

- Aber warum hat Tante Dusja denn so geweint?

- Na, verstehst du denn nicht? – antwortete der Großvater wie zu einem Erwachsenen. – Sie sind doch Deutsche ...

So waren die Deutschen in mein Leben getreten, wenngleich ich tatsächlich nichts begriff. Deutsche sprechen doch normalerweise Deutsch, d.h. in einer Sprache, die man nicht verstand. Was haben denn Alla und Schena und ihre Mama damit zu tun?

18 Jahre später, mit meinem Universitätsdiplom in der Hand, kam ich in das Gebiet, wo meine Landsleute und Freunde wieder zu Deutschen geworden waren. Jene selbst sprachen in der Regel gar kein Deutsch. Es waren weiter von der Front Fortgeschickte, Verschleppte, Verbannte, Überlebende der „Arbeitsarmeen“, denen es gelungen war, aus dem NorilLag und anderen Lagern herauszukommen, deren erwachsen gewordenen Kinder ...

Aber hier schreibe ich nicht über die Geschichte des NorilLag und habe auch nur ein beschränktes Interesse an den Deutschen von Norilsk. Im Jahre 1959 waren es (einer Volkszählung zufolge) tausende, dutzende sogar in den Reihen der Leitung. Ein wenig später befanden sich unter den acht Stellvertretenden des Norilsker Kombinatsdirektors W.I. Dolgych zwei Deutsche – Leonhard Bernhardowitsch Wid (hervorgegangen aus jungen Spezialisten, später die rechte Hand Tschernomyrdins) und Alexander Iwanowitsch Scherer, der zu jenen gehörte, die das Norilsker Lager durchlaufen hatten. Und um sie herum – Miller und Weber, Richter und Kust (oder Küst), Walner und Bauer, Rekot und Wenter, Emerich und Gorr ... In ganz unterschiedlichen Bereichen waren sie tätig – einer war Hauptgeologe, der andere Wirtschaftswissenschaftler, ferner ein Hauptbuchhalter, ein Metallfachmann, ein Mechaniker, ein Energetiker (des Unternehmens), Geschäftsführer der Verwaltung – vom Streckenvortrieb im Schacht bis hin zum Handel. Ich werfe einen Blick indie alten Telefonbücher. Es kann natürlich sein, daß ich mich irre, wenn ich einen lateinischen oder jüdischen Familiennamen für einen deutschen halte. Aber es gibt noch viel mehr von jenen Deutschen, welche sich „umfärben“ mußten in Sidorow, nach dem Mutter der Mutter, oder die ihren namen den russischen Gegebenheiten angepaßt haben. Der Torhüter der Lager-Fußballmannschaft und spätere Hauptregisseur des örtlichen Fernsehers, Hans Wilhelmowitsch Münzenmaier, konnte auch nicht lange Hans bleiben, sondern wurde irgendwann Gennadij (Wasiljewitsch), ebenso wie einige Heinriche ...

Es ist verständlich, daß ich die Namen zum Thema wähle, aber ohne jegliche Unnatürlichkeit und Vorsätzlichkeit: Tatsache ist, daß es in der Geschichte von Norilsk, der Weltstadt des Nickels, nur drei Schmidts gab es drei, nicht jeder im heutigen Norilsk sagt, dass der Berg Schmidticha, der voll von Kohle ist und in der Nachbarschaft des Berges Rudnaja liegt, - zu Ehren des ersten Gelehrten benannt ist, der (1866) hier den ersten Kohlestollen und das Kupfer-Bergwerk der dudinsker (aus der Stadt Dudinka; Anm. d. Übers.) Industriellen Sotnikow besuchte (gleichzeitig lehrte er, wie man die Fundstätten von Bodenschätzen ausbeutet). Der erste norilsker Schmidt hieß Friedrich, oder Fjodor, Bogdanowitsch.

Otto Julewitsch, ein bedeutender Polarforscher, Leiter der Hauptverwaltung des Nordmeer-Seeweges, stellte die „norilsker Frage“ anläßlich der Sitzung des Politbüros des ZK der WKP (B) im März 1935, und schlug seine Verwaltung als Hauptbaumeister und Koordinator aller Arbeiten vor, angefangen bei den geologischen. (Der Vorschlag fand nicht Stalins Unterstützung, welcher dem Volkskommissariat für Inneres den Vorzug gab). Schmidt hielt Norilsk für sein Kindchen, war überzeugt von der großartigen Zukunft der Fundstätten, mußte jedoch zwangsweise die gesamte Dokumentation darüber an Jeschows Volkskommissariat übergeben.

Es gab noch einen weiteren Schmidt, ebenfalls Professor und ebenfalls Mathematiker – Jakob Sergejewitsch (?), welcher die zukünftigen Chefs des norilsker Industriewesens in dem hier (1944) eröffneten Technikum für Bergbau und Metallurgie unterrichtete, weil, wie man sagt, der pädagogische Personalbestand in nichts der Belegschaft der Universität von Cambridge zurückstand.

Es gab da auch einen ganz bescheidenen Menschen, Referent und Experte des Geologie-Kommissariats, - Alfred Karlowitsch Gidowius (Hidowius). Er kam bereits in einer gesundheitlich schlechten Verfassung zur Fundstätte, aber er lief eifrig umher, indem er bemüht war, sich seine Mattigkeit nicht anmerken zu lassen; anschließend studierte er die Proben lange unter dem Mikroskop, wobei er seine Brille einfach auf die Stirn schob, damit sie ihn nicht beim genauen Betrachten der Objekte störte.

Vermutlich wäre er ein großartiger Geologe geworden, hätte Erwähnung in einer Enzyklopädie gefunden. Ein bemerkenswert erfahrener Steiger mit einer ungeheuren Intuition. Es galng ihm noch zu sagen: „Ja. Eine große Sache. Es lohnt sich Geld hineinzustecken.“ Und dann starb er.

Da war noch ein anderer Mann. Der sagte immer genau das Gegenteil. Er war auch bescheiden, jedoch stets sehr beharrlich: „Nein. Diese Sache lohnt überhaupt nicht. Umsonst“. Er lebte ziemlich lange, wurde Akademiker und tauchte in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie auf.

Im Jahre 1935, als das ganze sowjetische Volk noch von seinen Tschekisten begeistert war und sich schlecht gegenüber den Faschisten verhielt, ernannte GULag-Verwaltung W.S. Matwejew zum Leiter des Norilstroj (und des Lagers). Nein-nein, einen Russen, Lederfabrikant in seiner Jugend, selbst Sohn eines Lederfabrikanten, früh verwaist, der sich erst nach der Revolution als Mensch fühlte.

Er heiratete die Maschinistin Lisa. Zusammen bauten sie im Norden und Süden Straßen und bekamen zwei Kinder, beides Mädchen. Zu viert machten sie sich auf nach Dudinka (mit dem ersten Schub von Bauarbeiter-Häftlingen).

Der Leiter war kein brutaler Mensch, eher umgekehrt; Moskau war der Meinung, daß er es manchmal gestattete zu liberal zu sein. Aber er konnte im gegenwärtigen Moment auch so auftreten, wie es erforderlich war:

- Man hat die revolutionäre Wachsamkeit verschärft, und wird unser Volk unter der Leitung der Lenin-Stalin-Partei bis zum Ende ausrotten, diese niederträchtigen trotzkistisch-bucharinschen Agenten der faschistischen Spionagedienste ...

Es gelang ihm eine Menge zu tun. Vieles schaffte er auch nicht, weil er weder eine spezielle Ausbildung noch Erfahrung besaß. Lisa war sehr bemüht, nicht noch mehr Sorgen hinzuzufügen, indem sie die geringsten Spuren irgendwelcher Konflikte nicht nur zu Hause, sondern auch im Verwaltungsbüro von ihm fernhielt. Übrigens war sie, die qualifizierte Maschinenschreiberin, diejenige, die den ersten Befehl zum Bau von Norilsk abgetippt hat. Elisabeta Karlowna Matwejewa. In ihren Mädchenjahren hieß sie von Ross, Tochter des Stabskapitäns des Kronstädter Festungsinfanterie-Bataillons, der im Mai 1913 zum Oberleutnant befördert worden war (er war pflichtgemäß aus beruflichen Gründen mit seiner Familie von Kronstadt nach Gatschina umgezogen, von dort nach Tambow, später nach Archangelsk, Samarkand, Woronesch, Pjatigorsk). Samarkand, wo Lisa von Ross auf einer Schreibmaschine der Marke „Underwood“ ... geheime Papiere der örtlichen Tscheka abtippte, brachte sie zusammen.

... Im 1. Weltkrieg kämpften 300.000 Rußland-Deutsche an der deutschen Front. Dem Zaren war es offenbar nicht in den Kopf gekommen, daß irgendeiner von denen ihn – oder das Vaterland – verraten könnte.

Stalin traute keinem einzigen Volk – nicht einem und nicht zweien. Möglicherweise hatte er auch nicht begriffen, was Treue bedeutet.

Elisabeta Karlowna betete für den Sieg über die Faschisten, wie Millionen anderer Leute, in deren Adern deutsches Blut floß. Ich kann mich nicht mehr an den Namen der Nachbarin erinnern, die damals, am 22. Juni 1941 „Was soll aus uns werden – was wird mit uns geschehen?“ geflüstert hatte, und auch ihren Töchtern Alla und Schenja begegnete ich nie wieder. Dafür schenkte mir das Schicksal die Freundschaft von Elisabeta Karlowna und ihren Töchtern, welche sämtliche Zerreißproben und Schicksalsschläge durchliefen. Oft denke ich an sie. Aber früher – wie an Menschen mit einem unverdient schweren Schicksal. Und plötzlich, völlig unvermutet, - in Zusammenhang mit Menschen, die es nach einem unverdient leichten Schicksal verlangt hatte.

Übrigens kann es durchaus sein, daß ich im Unrecht bin. Aus diesem Grunde will ich nicht urteilen oder verurteilen. Das Leben wird dem Menschen nur einmal gegeben. Die Menschen – sind verschieden, das Leben verläuft – ganz unterschiedlich. Der eine schwimmt mit der Strömung, andere gegen sie. Ich spreche von jenen, die versuchen ans andere Ufer zu kommen.

... Aus Nowosibirsk traf eine Reisegruppe ein, ich überfliege mit den Augen die Umgebung, knüpfe Unterhaltungen an, die Menschen reden auch mit mir. Ganz gewöhnliche russische Umgangssprache, das Gerede von einfachen Leuten, mit unrichtigen Betonungen und seltenen sibirischen Wörtchen. Auch zu diesen Menschen paßt die Definition „Emigranten“ wie der Begriff „professionell“ zu den Fußballern i Hinterhof. Oder sind Emigranten für mich nach wie vor nur jene, die sich in der ersten Ausreisewelle befanden?

Der Bruder ist bereits seit sieben Jahren in Hannover. Er ist sehr zufrieden.

- Und Sie? Sind Sie hier nur zu Besuch oder für immer? – Ich frage das und habe dabei die Empfindung, daß „für immer“ – bis zum Grab bedeutet. Vielleicht sollte ich stattdessen lieber sagen „ganz und gar“?

- Für immer.

 

Der äußeren Erscheinung und der Art der Unterhaltungen nach zu urteilen sind die meisten von ihnen Bauern, ländliche Mechanisatoren, Bauarbeiter ... Das Volk ist an Arbeit gewöhnt, hat seinen Wehrdienst geleistet, es gibt kaum Trinker, aber es kennt sich in den allgemein üblichen, gesellschaftlichen Umgangsformen nicht aus. Und die Kinder sind nicht daran gewöhnt, ihre Kopfbedeckungen abzunehmen. Es ist nicht so, daß das hier unbedingt erforderlich wäre - sie sind einfach nur vertraut mit ihren Mützen und Schirmmützen, sie machen keinen Unterschied darin, wo sie sich gerade befinden, reagieren nicht auf gläserne Wände und Marmorsäulen.

Das Haus wird sein, wie es eben ist, es wird schon nicht schlechter sein, als das, was sie in Rußland zurückgelassen haben, bestimmt wird es besser sein, - und trotzdem machen sie sich Sorgen und Gedanken, wenngleich sie die Wahl zur Ausreise ja nun getroffen haben. Eine Rückkehr wird es nicht geben, egal was auch geschehen, auf einen zukommen wird, - und sie empfinden Entschlossenheit und Zuversicht in der Wahl ihrer Entscheidung, die Sibirjaken, die sich ins Flugzeug setzten und sich zur Eroberung von Neuland auf den Weg machten.

A. Lwow
„Sapoljarnaja Prawda“, 13. September 1999, No. 140 (12177)
(Zeitschrift herausgegeben in Norilsk)


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