"Wären Adolf Hitler und Josef Stalin nicht gewesen, wäre ich
niemals auf die Welt gekommen"
Kürzlich fragte mich mein Klassenkamerad, der in New York lebt, in einem Telefonat: Sind denn eigentlich noch Juden in Krasnojarsk geblieben?- "Natürlich" - antwortete ich. "Na und was machen sie da?..- interessierte sich mit spöttischem Unterton der Programmierer der "Chase Manhattan Bank", ehemaliger sowjetischer Arzt und ein guter Freund von mir.
Ich fühlte mich gekränkt. Ich hätte ihm zehn Familiennamen bekannter Leute aufzählen können, angefangen mit meinem Nachbarn aus dem gleichen Treppenhaus, dem Direktor einer Luftverkehrsgesellschaft, aber ganz zuerst kam mir der Nachname Birger ins Gedächtnis. Wladimir Salomonowitsch Birger, einer der Gründer des Krasnojarsker "Memorial", ein selbstloser, klar denkender Mensch, ein ausgesprochener Altruist, der einen großen Teil seines Lebens für den Dienst am Vaterland geopfert hat - mein mythisches Rußland, das niemand gesehen hat und das doch allen bekannt ist, wie schön es sein kann und soll....
─ Wolodja, haben Sie sibirische Wurzeln?
─ Mütterlicherseits -ja. Die Kotschergins aus Tajschet. Und der Großvater väterlicherseits stammte aus Litauen. Der Vater war Planer. Man hat ihn in der Ukraine verhaftet. Er saß im Orlowsker "Zentralgefängnis", im Jahre '39 gelangte er ins Norillag. Ab 1945 saß er in der 8ten Lagerabteilung ein, die sich in Krasnojarsk befand. Die erste Familie des Vaters kam während der Besatzung um, in Charkow. In Krasnojarsk hat er dann meine Mutter geheiratet. Ohne Adolf Aloisowitsch und Josef Wissarionowitsch wäre ich also überhaupt nicht auf die Welt gekommen. Aber man braucht ihnen nicht dafür zu danken, nicht wahr?
─ In der Tat. Wie gestaltete sich Ihr Leben weiter?
─ 1956 zogen die Eltern in die Ukraine um. Nach der Schule trat ich in die mechanisch-mathematische Fakultät der Universität Charkow ein, wurde aber wegen dissidentischer Einstellung ausgeschlossen. Schon damals begriff ich, daß das Land, in dem ich lebe - die eine Seite ist, und nur das Regime darin - die andere.
Dann passierte die Intervention in der Tschechoslowakei. Einige Studenten hatten zu dieser Angelegenheit viele Fragen, und von Seiten der Staatssicherheit ergaben sich wiederum Fragen an sie, insbesondere an mich. Anfang der 70er Jahre wurden an der Universität sogar einige Leute ins Gefängnis gebracht. Mich schleppten sie zum KGB und verwehrten mir die akademische Bescheinigung: "Wegen einer Auf-fassung, die mit dem Charakterbild eines sowjetischen Studenten unvereinbar ist."
1994 schenkte ich die Bescheinigung dem Charkower "Memorial"-Museum.
─ Und - hat man Sie nach Sibirien geschickt?
─ Ich bin selbst gegangen, zu den Verwandten der Mutter. Dort habe ich im Rechenzentrum der KRAS gearbeitet. Da fand ich noch einen nicht auseinan-dergebauten "Ural" vor, eine Rechenmaschine aus jener Zeit - eine imposante Einrichtung, der Traum von Surab Zeriteli: ein Schaltpult - 5 Meter breit.
Die 70er - finstere Jahre. In dieser Zeit habe ich mein kulturelles Niveau nach oben entwickelt. Es war schwierig an Literatur heranzukommen. Ich war gezwungen Polnisch zu lernen, um das zu lesen, was in russischer Sprache nicht herausgegeben wurde. Ich dachte viel nach. Ich überschlug im Kopf, daß ein Regime in der Art des breschnjewschen sich nicht länger als bis 1983-84 hinziehen kann.
Ich begriff, daß sich das Land in einem labilen Gleichgewicht befindet. Wie ein Bleistift, der auf dem Kopf steht, und nur eine Horde KGB-Männer läßt es nicht zu, daß man ihn umpustet. Damals fragte man mich, was ich von Solschenizyn halte.
Ich antwortete, daß innerhalb von 20 Jahren die Schüler Haß dafür empfinden würden, daß er derart viele dicke Bände geschrieben hat.
─ Wollten Sie nicht das Land verlassen?
─ Ich hatte an Emigration gedacht, aber ich wollte doch zusehen, wie das alles endet.
─ Und als Sie begriffen, daß Veränderungen nicht hinter den Bergen lagen?
─ Der Einmarsch in Afghanistan - das war das letzte Läuten der UdSSR. Dann kam Suslowski mit seinen Neuerungen. Eine beliebte Fernsehsendung jener Jahre - das Autorennen mit dem Sarg. Nach dem Tod Breschnjews verstand ich, daß man zum Handeln bereit sein muß. Es war merkwürdig. Ich dachte, die Sache würde in einem Bürgerkrieg enden. Bis heute verstehe ich nicht, wie das Imperium praktisch geräuschlos zusammenstürzen konnte. Rußland hatte riesiges Glück.
─ Wann erschien das Krasnojarsker "Memorial" auf der Bildfläche?
─ 1988 fand ich über die "Literaturzeitung" Lew Ponomarew, den späteren Begründer der Bewegung "Demokratisches Rußland", und er schickte mir das Muster einer Unterschriftenliste zur Gründung eines Memorials für die Opfer stalinistischer Repressionen in Moskau. Ich vervielfältigte den Vordruck und brachte ihn unter die Leute. Auch Irina Kusnezowa sammelte Unterschriften. Und dann schloß sich Alexej Babij an. Für eine derart ernsthafte Sache fehlte uns die Erfahrung, so daß wir uns mit der Bitte um Hilfe an den "erfahrenen" Dissidenten Wladimir Georgjewitsch
Sirotinin wandten, der in der Solschenizyn-Stiftung arbeitete. Auf unsere Bitte hin nahm er die Führung des Krasnojarsker "Memorial" an, und eigentlich "sträubte" er sich auch nicht sonderlich dagegen. Das Sammeln von Unterschriften war eine politische Aktion - wir beobachteten bei den Leuten einen Prozeß der Überwindung tief verwurzelter Angst und dumpfer Abgestumpftheit. Im Juni 1988 organisierten wir in Krasnojarsk gemeinsam mit dem Komitee zur Förderung der Perestroika die erste freie Demonstration seit 70 Jahren. Einige tausend Menschen kamen dabei zusammen. Bis zum Juli 1988 sammelten wir mehr als zweitausend Unterschriften, die wir nach Moskau weiterleiteten. Und dann schritten wir zur Tat, die wir noch heute fortführen - wir untersuchten die Geschichte des kommunistischen Terrors, des 70jährigen Krieges der Leninisten, Stalinisten, usw. gegen die von ihnen unterdrückten Völker, angefangen mit dem russischen und endend mit dem afghanischen. Insbesondere interessieren uns die Ereignisse, die im Gebiet Krasno-jarsk geschehen sind.
─ Diese Geschichte schreiben lebende Menschen, mit denen "Memorial" ständig in Kontakt steht. Hat der Zustrom von Leuten innerhalb dieser zehn Jahre nicht abgenommen?
─ Ein gleichbleibender Zulauf ist uns bis zum Jahr 2018 garantiert, wenn nämlich die Jahrgang 1958 Geborenen in Rente gehen, dem Jahr der Massenbefreiungen aus der Verbannung. Jenen von ihnen, die in der Verbannung geboren sind, steht die Rehabilitation zu. Und weil der Status eines Rehabilitierten bis zum Eintritt ins Rentenalter praktisch keinen Nutzen bringt, sprechen viele das Thema Rehabilitation erst an, wenn die Zeit gekommen ist, die Formalitäten bei der Sozialbehörde zu erledigen. Natürlich, Verbannte gab es auch nach 1958. So wurden zum Beispiel einige litauische und lettische Bürger bis 1960, und sogar noch länger (wir wissen nicht weshalb), unter Kommandantur gehalten. Einige verbannte Ukrainer aus der Deportation des Jahres 1951 wurden erst 1963 befreit, aber das waren schon nicht mehr solche Massenfälle. Der letzte große Strom von Verbannten kam dann ab 1961 in Gang, aufgrund der berühmten chruschtschowschen "Verordnung für Nichtstuer". Genau durch diesen Erlaß wurde der großartige Brodski verurteilt. Aber damals litten nicht nur schöpferische Menschen. Tausende verbannte man wegen ihres Glaubens in unser Gebiet - wahre Orthodoxe und Anhänger der "Pfingstgemeinde". In der Regel bekam man nach dieser Verordnung fünf Jahre. Es ist uns bereits gelungen, in solchen Fällen eine Rehabilitierung zu bewirken.
─ Zur Zeit führen Sie die Besucher-Sprechstunden durch. Ist das eine mühselige Arbeit?
─ Pro Woche wenden sich im Durchschnitt 15-20 Leute an uns. Ich bemühe mich, die Probleme der Leute selbständig zu lösen - stelle selber die notwendigen Anfragen und schicke sie auch selber ab. Die Entscheidung über eine konkrete Frage kann einige Monate in Anspruch nehmen. Oft muß man in den Archiven anderer Regionen Auskünfte über Verwandte der Krasnojarsker einholen. Als Ergebnis erhält derjenige dann eine Bescheinigung "über die Anerkennung als Geschädigter" und entsprechende Sonderleistungen. Und manchmal kommen Leute in der Absicht, so eine Bescheinigung zu bekommen, aber anhand der Dokumente stellt sich dann heraus, daß sie in der Verbannung waren. Und das bedeutet, daß ihnen auch eine Rehabilitation zusteht.
─ Wolodja, Sie verrichten eine notwendige Sache. Bringt sie Ihnen Freude?
─ Ja, ich fühle Genugtuung, wenn die Leute eine Entschädigung, Rehabilitation, Sonderleistungen erhalten. Aber das ist noch nicht alles. "Memorial" ist eine Gesellschaft zur Geschichtsaufklärung, und erst danach steht der Begriff "Wahrung der Bürgerrechte". Für mich stellt die Besucher-Sprechstunde eine unentbehrliche Informationsquelle dar. Wurden doch die Dokumente in den Archiven häufig von den Händen der Henker und ihrer Helfershelfer geschrieben. Die Geschehnisse sehen aus wie in einem Zerrspiegel. Die Zeugenaussagen begradigen die Krümmungen des Spiegels. Sie sind für gewöhnlich ungenau, aber mit ihnen sieht man leicht das schreckliche Gesicht des kommunistischen Terrors. Wir fügen historische Bilder aus Splitterstücken zusammen. Als Forscher interessiert mich das.
Alle sollen die Geschichte des Vaterlandes kennen. Fragt man zum Beispiel einen beliebigen, zufällig Vorrübergehenden, was es mit diesem Buchenwald auf sich hat, weiß er irgendetwas Einleuchtendes zu sagen. Aber wenn man ihn zum Jennissei-Stroj oder SibULON oder Gorlag befragt? Natürlich, man muß auch etwas über das entfernte Buchenwald wissen, aber über seine eigene nahegelegene Heimat - um so mehr.
Wenn auch unsere Geschichte nicht in jeder Hinsicht angenehm ist - da kann man nichts machen: eine andere können wir nirgendwo hernehmen. "Ja, auch ich würde mir für uns keine andere Geschichte wünschen", wie ein großer Poet einmal sagte.
Wirklich, ich weiß nicht, was er gesagt hätte, wenn er bis zum Sieg der leninistischen Idee gelebt hätte...
─ Wie stehen Sie zum gegenwärtigen Feldzug in Tschetschenien?
─ Von 1994-96 herrschte im Kaukasus ein echter Krieg. Das verreckende sowjetische Imperium biß zurück "aus jener Welt". Danach sieht das Bild nicht so eindeutig aus. Die Aktionen der Armee scheinen mittlerweile zurechnungsfähig zu sein. Aber egal, wenn das eine antiterroristische Operation ist, soll an ihr nicht die Armee teilnehmen. Wenn in Tschetschenien das Heer einmarschiert ist, dann heißt das - es herrscht Krieg. Die Verletzung von Rechtsnormen wird durch keinerlei wohlwollende Absichten gerechtfertigt.
─ Bereiten Ihnen zukünftige Wahlen in der Staatsduma Sorgen?
─ Ich meine, daß unsere Angelegenheit die rechte ist und daß der Sieg hinter uns stehen wird.
─ Sind Sie religiös?
─ Offensichtlich hat es dem Allmächtigen gefallen, mich als Atheisten zu schaffen.
─ Wie ist Ihre Beziehung zu Geld?
─ Ganz normal - es ist etwas, das man braucht. Aber wie meine Beziehung zu einer großen Menge wäre - das weiß ich nicht. Soetwas ist nicht vorgekommen.
─ Sind Sie mit Ihrem Leben zufrieden, Wolodja?
─ Jetzt - ja. Da ist die Empfindung eines sinnvollen Daseins. Das betrifft natürlich meine Arbeit im "Memorial". Ich will daran erinnern: die Besuchersprechstunde führe ich im Haus der Technik an Werktagen ab 17.00 Uhr durch. Telefon ─ 65-13-85.
Internet-Seite: memorial.krsk.ru . Wenn Sie ungeklärte Fragen zu Repressionen und Rehabilitationen haben oder auch Informationen zu diesem Thema suchen - so sind Sie bei uns willkommen.
Dieses Interview schickte ich meinem sehr erfolgreichen Freund in Brooklyn. Zehn Jahre lang kämpfte er für den Platz an der Sonne, bis er zum "Träger eines weißen Hemdkragens" wurde" - mal hatte er als Ladearbeiter, mal als New Yorker Taxifahrer gearbeitet.
Aber er soll Kenntnis nehmen von seinem Stammesbruder im entfernten Krasnojarsk, der in den gleichen zehn Jahren mit phlegmatischer Beharrlichkeit den Mist aus dem Pferdestall der sowjetischen Geschichte aufwühlt. Er säubert das lebendige Land vom Schmutz, das Land, in dem er geboren ist, in dem er lebt und in dem er sterben wird, weil genau dies die Vorbestimmung Birgers ist, von dem Gott, den er nicht kennt.
Jelena Semjonowa.
"Komsomol-Wahrheit" (Krasnojarsker Beitrag) 10.11.99