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Bis zu bitteren Tränen

Sechs Jahre schuftete Otelia (Ottilie?) Antonowna Tschikowa in der Arbeitsarmee. Die Jahre ihrer Jugend erwiesen sich als Jahre täglicher, vierzehnstündiger Zwangsarbeiten – ohne Urlaubs- und Feiertage. Tag für Tag – genau sechs Jahre lang.

Geboren wurde Otelia an der Wolga, in der Ortschaft Preuß im Gebiet Saratow.Ihr Vater, Anton Iwanowitsch, arbeitete in der Ortschaft als Tierarzt. Alle achteten ihn – niemals verweigerte er irgendjemandem seine Hilfe. Die Mutter, Margarita Fjodorowna, zog sieben Kinder groß – sie war eine gute, liebevolle Frau. An der deutschen Schule absolvierte Olja (so nannten die Eltern sie) sieben Klassen und träumte davon Ärztin zu werden, um ihrem Vater helfen zu können.

Doch das Schicksal und der Krieg verfügten über ihren Werdegang in anderer Weise. 1941 wurde ihre Familie von der Wolga ins Gebiet Nowosibirsk ausgesiedelt. Sie waren nicht einfach nur Verfolgte, sondern bekamen das volle Programm zu spüren. Die Familie verlor alles: das eigene Haus, das häusliche Vieh und alles, was sie sich im bisherigen Leben nach und nach angeschafft hatten. Aber das Schlimmste war, dass man den Menschen für nichts und wieder nichts die Heimat fortnahm.

- Sie stopften uns in beheizte Waggons, - erinnert sich Tante Olga. Zwei Wochen rollten die Güterwagen bis zur kasachischen Bahnstation Karasuk. Unterwegs ließ man uns nicht aus den Waggons, und zu essen gab es nur das, was die Menschen von Zuhause hatten mitnehmen können. Die Erwachsenen waren geduldig, aber die Kinder weinten. Am Schlimmsten war es ohne Trinkwasser. Nur gut, wenn es gelang, an irgendeiner Station einen Kessel Wasser zu beschaffen. Wir fuhren bereits durch Steppengebiet, das Wasser wurde immer salzhaltiger, und das Brot, das man uns, den Kindern, zuwarf, schmeckte bitter – das Korn hatte man wohl zusammen mit Wermut geerntet. Unterwegs wurden die Menschen immer schwächer – ein Windstoß konnte uns umblasen. Wir wurden direkt unter freiem Himmel abgeladen. Die Ortsansässigen wählten die eingetroffenen Familien aus und verteilten sie auf verschiedenen Dörfer. Unserer Familie wurde ein Häuschen aus ungebrannten Ziegeln zugewiesen, das Dach aus Stroh, mit einem Lehmfußboden und einem winzigen Fensterchen. Karasuk – das ist eine große Steppen-Siedlung. Bäume gab es nicht, die staubigen Winde machten vor nichts Halt. Tagelang knirschte der Sand zwischen den Zähnen, und ich träumte immerzu von der Heimat, von unserer Wolga mit ihrem warmen, durchsichtigen Wasser, den Birken und Blumen am Ufer. Aber was konnte man tun – wir weinten und lebten. So hatte Stalin es befohlen.

Ein Jahr später, im Oktober 1942, bestellte mich das Kriegskommissariat in die Arbeitsarmee ein. Und da musste ich Dinge bis zu bitteren Tränen durchmachen! Ich geriet nach Baschkirien zur Erdöl-Förderung. Wir, die Mädchen, mussten schwere Rohre und Metallstangen schleppen. Es existierte kein einziger Hebekran. Wie eine 200 Pud schwere Walze rollte Baschkirien über mich hinweg – es nahm mir die Gesundheit für viele Jahre im Voraus. Nach den Erdöl-Bohrtürmen musste ich lange Jahre in einer Alabaster-Fabrik arbeiten: wir füllten die Brennöfen mit Erz, zermahlten das abgebrannte Material und vermischten das Alabastermehl dann mit Wasser und gossen es in Formen. Wie ich mir dabei nicht meine Hände verstümmelt habe, weiß ich bis heute nicht. Denn es gab damals keine Handschuhe, keine Schutzhandschuhe. Alles machten wir mit bloßen Händen. Flüssiger Alabaster – ist eine Strafe: wenn du etwas zu lange damit in Berührung warst, gerann er in deinen Händen und wurde hart wie Schuhleisten. Dann konnte man ihn nur noch zusammen mit der Haut herunterreißen. Wir brannten Ziegelblöcke von je 50 Kilogramm Gewicht – mehrere Waggons am Tag. Und als es dunkel wird, fangen wir an aufzuladen. Und dass du Hunger hast und vor Müdigkeit umfällst – das hat keinen interessiert, und wir haderten auch nicht mit dem Schicksal – wir wussten: es herrscht Krieg, alle haben es schwer.

Auch in der Schlacke-Fabrik arbeiteten wir – alles nur Mädchen. Mit den Händen bogen wir Metallstangen, schütten Schlacke und Zement hinein. Bei Ende der Schicht konnten die Hände die Schaufel schon nicht mehr halten – eine solche Arbeit ging über unsere Kräfte. Aber am meisten wollten wir essen. Ständig. Der Klotz Brot von 700 Gramm reichte nicht für den ganzen Tag – den aßen wir sofort auf. Heute haben wir weißes Brot – weich und aromatisch. Und im Vergleich mit diesen 700 Gramm Broten ist es doppelt so groß. Und es gab auch nur wenig davon. Schwarz, feucht und zäh und klebrig wie Lehm. Trotzdem erschien es mir wie ein Leckerbissen, verglichen mit der Wassersuppe aus Steckrüben und Kohlblättern, die sie uns zu essen gaben. Na ja, wir hatten begriffen, dass alles, was besser war, für die Front abgeliefert werden musste.

Ich denke oft an diese unheilvollen Jahre. Einmal wollte ich berechnen, wie viele Paar Bastschuhe in Baschkirien zu Markte getragen hatte, - ich konnte selber kaum glauben, wie viele es waren – fast 100 Paar. Es kam selten vor, dass ein Paar einen Monat lang hielt, meist war es nur eine Woche, wenn man zum Beispiel Bäume für die Fabrik fällte. In meiner Jungmädchenzeit habe ich nicht ein einziges Paar flache Schuhe aufgetragen. Erst gegen Ende des Krieges wurden mir amerikanische Schnürschuhe zu Teil – aus Zeltstoff und unten mit einer Holzsohle. Aber dass sie mir fünf Nummern zu groß waren, interessierte keinen –solchen „Kleinigkeiten“ schenkte man keine Aufmerksamkeit: ich war glücklich, dass ich nicht barfuß herumlaufen musste.

Ich erinnerte mich auch daran, wie ich es in all den Jahren schaffte, ein einziges Mal einen Kinofilm anzuschauen. Neben der Fabrik, in der ich arbeitete, lebten Soldaten; die luden uns, insgesamt fünf Mädchen, ein, bei ihrem Truppenteil einen Film zu sehen. Ich weiß sogar noch den Titel, obwohl so viele Jahre seitdem vergangen sind. Er hieß „Die Steinblume“. Damals bekamen wir nur wenig Erfreuliches zu sehen – wir arbeiteten nur von früh bis spät.

Bei der Arbeit im Mai 1945 erfuhren wir, dass der Krieg zu Ende war. Alle weinten vor Freude, hofften, dass auch unsere Qualen nun bald beendet sein würden. An jenem Tag, das weiß ich noch gut, gab es für uns ein besonderes Mittagessen: sie kochten für uns Erbsensuppe. Mit der Suppe feierten wir den Siegestag.

Und nach 1945 musste ich noch drei weitere Jahre in Baschkirien schuften. Ich wurde erst 1948 demobilisiert. Damals begab ich mich dann auch in die Region Krasnojarsk – das war schon mit meinem Mann Iwan Stepanowitsch. Und so haben wir unser ganzes Leben in Mingula verbracht. Vier Kinder haben wir großgezogen, alle haben eine Ausbildung erhalten: einer ist Technologe, der zweite Monteur, der dritte Elektriker, der vierte Fahrer. Alle Vier haben gegenüber der Heimat ihre Pflicht getan – sie haben in der Armee gedient. Sie sind als gute, fleißige Burschen herangewachsen. Auch Enkelkinder sind schon herangewachsen. Der Älteste wird bald achtzehn

Otelia Antonowna blickt auf ein vierzugjähriges Arbeitsleben zurück. Die Jahre in der Arbeitsarmee gehören nicht dazu: sie wurden nicht ins Arbeitsbuch eingetragen, aber sie haben ihr mehr Kraft und Gesundheit genommen, als die anderen vierzig.

Unlängst haben die Tschikows ihre goldene Hochzeit gefeiert. Der Direktor der „Tajoschny-AG“, W. Jeremin“ kam und schenkte den Jubilaren einen ausländischen Teekocher, gratulierte ihnen und wünschte ihnen Gesundheit.

- Nur dass wir darin unseren Tee nicht brühen. Wir hüten ihn gut, als wertvolle Erinnerung, - sagt Otelia Antonowna.

J. Chalejewa

 


Auf dem Foto: Iwan Stepanowitsch und Otelia Antonowna mit Enkelin Mascha

„Land-Leben“ (Suchobusimskoje), 06.04.2000


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