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Schwer hingen die Ähren über dem Neuland

Im Dezember 1957 klopfte Andrej Wigel (Wiegel) an die Kabinettstür des Sekretärs des Komsomol-Kreiskomitees. Der hochgewachsene, bedeutende, achtundzwanzigjährige, noch ledige Mann aus Kumyr äußerte die Bitte, daß man ihn doch mit einer Reise-Anweisung des Kommunistischen Jugendverbandes auf das unberührte Neuland in Kasachstan schicken sollte. Und so sagte er ganz direkt zum Sekretär: „ Ich muß Geld verdienen!“ Es gab keine Hindernisse oder Verzögerungen, und am Vorabend des Jahres 1958 erhielt Andrej Wigel in der Getreide-Sowchose „Der Freie“einen Traktor der Marke DT 54 an der Station Jesil, die in Kasachstan liegt.

Der Nationalität nach ist Andrej Wigel Deutscher. Er wurde in dem Dorf Schweid (Schwedt) in der Region Saratow geboren. Im September 1941 geriet die Verbannten-Familie Wigel nach Kumyr. Andrej hatte gerade sein 10. Lebensjahr vollendet. Als der Krieg zuende ging, war er schon beinahe ein junger Mann. Die Natur hatte ihn mit einem ausgezeichneten Körperbau ausgestattet – so daß er sich in der Kolchose an jede beliebige Arbeit machte. Und zusätzlich zu seinen aufblühenden körperlichen und seelischen Kräften stand er in dem Ruf, nicht nur der beste Mechanisator in der Neuland-Wirtschaft, sondern auch im gesamten Bolscheulijsker Kreis zu sein.

Zwischen den ganzen geschäftlichen Angelgenheiten ging er auf Brautschau. Natürlich – nach ländlichen Maßstaben hatte er sich schon viel zu lange im Junggesellentum aufgehalten. Aber im Augenblick der Abreise auf das Neuland nach Kasachstan hatte er dennoch ein Mädel nach seinem Geschmack gefunden – Annuschka Franz. Seine Landsleute hatten sie als Ehefrau vorgeschlagen – Deutsche aus Saratow, die den Vorschlag über Klatschbasen verbreitet hatten. Die Familie Franz lebte in Alexandrowka in der Verbannung. Und daß, wie man sagt, ein Märchen schnell erzählt wird, aber nicht ebenso schnell getan ist, das war im Fall des Andrej Wigel ganz und gar nicht so.

Im Frühling des Jahres 1958 kam er in der alleinigen Absicht nach Kumyr, Anna mit aufs Neuland zu nehmen, aber zuerst mußte die Hochzeit gefeiert werden.

Als geliebter Sohn seiner Eltern schickte Andrej, damit die Familie vom ersten Tag an vollständig war, seine Mutter und seine Schwester auf den langen Weg. Es endete mit einer großen Unannehmlichkeit, denn beide Frauen besaßen noch keine Pässe, sie wurden zurückgeschickt. Es gab nicht nur großen Ärger. Es war auch ein ziemliches Unglück, weil sie schon so einen weiten Weg zurückgelegt hatten!

... Andrej und Anna Wigel bekamen einen kleinen Wohncontainer zugewiesen. Die Leitung der Getreide-Sowchose versprach alles zu tun, damit die Jungverheirateten nach einem Jahr ein Haus bauen konnten. Die erste Anschaffung, welche die Wigels machten, war ... eine Kuh. „Wie soll es denn ohne Amme weitergehen?“ – meinten die jungen Leute, - ein Hof ohne Kuh – ist doch wie ein Waisenkind.“ Aber da der Wohncontainer in der Steppe auf einem kleinen, engbegrenzten Raum stand, gab es eigentlich auch keinen richtigen Hof. Andrej und Anna beschlossen, einen großen Pfahl in den Boden zu schlagen und die Kuh daran festzubinden. So begann das Familienleben des jungen Paares.

In der neuen Heimat wurde ein Sohn nach dem anderen geboren – Andrej, Sascha, Wowa. Nach kurzer Zeit, noch vor der Geburt des ältesten Kindes, hatten die Wigels trotz allem ihr Haus fertiggebaut. Sie verputzten die Wände mit Lehm und weißten sie anschließend. Alles machten sie ganz sorgfältig, mit dem Ziel dort zu leben und nicht betrübt zu sein.

Bei einer Zusammenkunft der Bestarbeiter unter den Neuland-Besiedlern im Jahre 1959 erhielt Andrej Andrejewitsch Wigel eine Bescheinigung, die er bis heute in einer Schatulle, zusammen mit ähnlichen Dokumenten und Auszeichnungen, verwahrt hat. In jenem Jahr verlieh man ihm die Ehrenbezeichnung „Bester Traktorist der Region Akmolinsk“. Dafür, daß er mit einem Traktor der Marke DT-54 insgesamt 1565 Hektar Ackerland bearbeitet hatte.

Den zusammengepreßten, fruchtbaren Boden des kasachstaner Neulandes pflügen – das ist kein Zuckerschlecken. Wie schwarze Perlen glänzte der beackerte Boden. So weit das Auge reichte.

Sie arbeiteten, als ob es das letzte Mal wäre. Sie zerrissen sich bald ihre Sehnen! Aus irgendeinem Grund hat Andrej Andrejewitsch eine warmherzige Erinnerung an jene Zeit. Denn es war der Beginn seines Familienlebens, der Hoffnung, und auch eine gewisse Romantik. Natürlich waren sie in erster Linie hierher gekommen, um mehr Geld zu verdienen. Aber viele blieben ihr ganzes Leben. Im Falle der Wigels wand sich dieser Pfad vom Neuland bis zu dem Zeitpunkt, als sie nach Kumyr zurückkehrten.

Und die Nächte in der neuen Heimat waren märchenhaft. Dunkel. Nur selten erschienen am Himmel Sterne. Aber wenn sie dann einmal funkelten, dann war die Seele tief ergriffen! Zu einer solchen Zeit mußten die Mechanisatoren vom Einsetzen des Abbendrots bis zum frühen Morgengrauen pflügen. Tagsüber gab es in der Kabine des Traktors nichts zu tun. Das Eisen lief dermaßen heiß, daß man fast ein Rührei darauf hätte braten können. Die Arbeitsschicht betrug gewöhnlich mehr als 24 Stunden. Innerhalb dieses Zeitraumes schaffte Andrej Wigel es, bis zu 26-27 Hektar Neuland zu beackern. In den Nachtstunden.

Schwierig wurde es, wenn Wind aufkam. In Jesil, zum Beispiel riß ein Steppensturm mittlerer Stärke das Dach des gerade erst eröffneten, nagelneuen Klubs herunter, er hob sozusagen den Deckel von der Dose. Nach dem Schneesturm wurde es erneut aufgebaut und, für alle Fälle, an den Ecken zwei Traktoren aufgestellt, an denen sie das Dach mit Stricken festbanden. Später rammten sie Eisenbahnschienen in den Boden und spannten Metallseile – das war sicherer.

Einmal trug ein heftiger Steppenwind die ganze Saat von den Feldern davon. Man mußte alles noch einmal aussähen. Die Ernten des ehemals unberührten Neulandes wurden gut. So sammelten sie zum Beispiel bis zu 50 Zentner Gerstenkörner von einem Hektar, Wizen – bis zu 30 Zentner. Andrej Andrejewitsch erinnert sich: „Ach ja, schwer hingen die Ähren über dem Neuland!“

Nach sechs Jahren lockten die Verwandten die Familie Wigel zu sich nach Taschkent. Eine schöne Stadt, das kann man nicht anders sagen. Jeweils zwei Kartoffelernten wurden im Frühjahr, Sommer und Herbst eingebracht. In Taschkent wurde Sohn Wanja geboren., der jedoch später ums Leben kam. Vier Kinder, die Eltern selbst – es war schon schwer mit dem Wohnen in der warmen, stickigen Stadt. Und so beschlossen die Wigels noch einmal, zum allerletzen Mal, umzuziehen. In der Weltgeschichte herumreisen, das wollten sie schon nicht mehr. Der Familienrat beschloß also: „Wir kehren nach Kumyr zurück. Wir werden eine Kuh kaufen, dann wird das Leben für uns leichter werden!“ Das ist jetzt 35 Jahre her.

In dem sibirischen Dorf wurden den Wigels zwei Döchter geboren – Walja und Sweta. Und jetzt haben sie zehn Enkel und drei Urenkel.

Selbst wenn man die Biografie unseres Helden nur ganz kurz betrachtet, so ist doch zu erkennen, daß Andrej Andrejewitsch ein ehrbares, arbeitsreiches Leben geführt hat. Er arbeitete für das Wohl der Erde, auf den ihn die schicksalhaften Ereignisse verschlagen hatten. Bereits 1970 schickte man den Mechanisator Wigel zur Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR nach Moskau – als besten Traktoristen des Landkreises. Sieben Jahre später nimmt auch seine Frau daran teil – Anna Jakowlewna, mit dem Titel der „besten Melkerin im Bolscheulujsker Landkreis“.

Auch heute sitzt Andrej Andrejewitsch nicht untätig herum. Wir trafen ihn, als er gerade beim Holzaufschichten war. Anna Jakowlewna trafen wir zuhause nicht an – sie war einkaufen gegangen. Er führte uns ins Haus und entschuldigte sich für die gar nicht so große Unordnung. Und er endete damit, daß die Hausfrau es nach dem gestrigen Weißen anläßlich des bevorstehenden katholischen Osterfestes nicht geschafft hatte, alle Sachen in der Stube wieder ordentlich einzuräumen.

Die Wigels sind reinblütige Deutsche. Zu jeder beliebigen Zeit können sie deswegen wieder „Kurs“ auf ihre historische Heimat nehmen. Übrigens, viele Verwandte sind dort hingegangen. Andrej Andrejewitsch fragt:

- Wozu soll ich jetzt dahin? Hier ist doch alles, was ich habe. Kinder, Enkel. Ich habe mich an das Flüßchen gewöhnt, an den Fischfang. Sehen Sie doch mal – diese wunderschöne Natur ringsherum! In Kasachstan und Usbekistan habe ich mich schrecklich nach Landluft gesehnt, nach Freiheit. Wenn ich im Sommer morgens aufstehe, gehe ich als erstes hinaus, um ein Fäßchen Fische fürs Frühstück zu fangen. Ich liebe den Wald. Diese Natur.

Das ist dann wohl unser Schicksal gewesen. Im großen und ganzen ist es gar nicht so schrecklich. Im Falle unseres Helden – gab es eine Zeit der Wahl. Er hat sie getroffen, so wie er es für nötig hielt.

Nadeshda Stefanenko.
„Westi“ („Nachrichten“; Anm. d. Übers.) 06.06.2000, No. 48 (6723)
(Zeitung herausgegeben in Bolschoj Uluj)


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