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Krasnij Jar – Liebe und Leid

Die Eheleute Schulz stammen aus dem Gouvernement Saratow. Das große Dorf von Julia Jakowlewna nannte sich Krasnojar und war am hohen Ufer der Wolga gelegen. Der Ausblick von Krasnojar war überwältigend. Wenn man genau hinschaute, konnte man in dem grünen Massiv Bogdan Karlowitschs Dörfchen erkennen. Sein Nachname sowie der Name des Dorfes stimmten auf wunderbare Weise miteinander überein. Doch wer oder was zu wessen Ehre benannt worden war, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Fast die gesamte Bevölkerung trug den gleichen Nachnamen – Schulz. Es war Julia und Bogdan beschieden einander zu begegnen. Sie gaben ein schönes Paar ab – groß und stattlich, wie füreinander geschaffen. Lange hielten sie nicht um die Hand des anderen an, alles war auch so klar verständlich: Liebe auf den ersten Blick. Sie hatten einen Narren aneinander gefressen und konnten sich nicht vorstellen, jemals getrennt zu werden. Wer hätte damals daran gedacht, dass sich die Bezeichnungen ihrer Heimatdörfer und der Zukünftigen Orte der Verbannung und Entbehrung so tragisch miteinander verknüpfen würden. Und dass diese Zeit voller Freude, diese grüne Wolga-Gegend für immer aus ihrem Leben verschwinden und als düstere, irreale Erinnerung in ihren Köpfen zurückbleiben würde.

Bogdan Karlowitsch war ein bodenständiger Mensch. Von Geburt und Natur aus war er unternehmungslustig, wobei er von seinem Großvater und Vater das Talent zu einem erfolgreichen Kaufmann geerbt hatte. Von nun auf jetzt brachte er seine Julia in die Hauptstadt der Wolga-Deutschen – nach Engels. Hier ließen sie sich auch nieder und begannen ein Leben in Liebe und Eintracht. Zwei Töchter wurden geboren – Irma und Erika, doch Bogdan wollte unbedingt einen Erben haben, der sein Geschäft fortführen sollte. Ein drittes Kind kam – wieder eine Tochter; sie nannten sie Elsa. Die Familie wurde größer, man musste die Wohnung wechseln. Sie zogen in die erste Etage eines großen zweigeschossigen Hauses. Sie führten ein gutes Leben. Zu der Zeit war Bogdan Karlowitsch bereits Direktor eines großen Geschäftes, während Julia Jakowlewna die Töchter großzog.

Erika erinnert sich an eine glückliche Kindheit ohne düstere Wolken. Häufig fuhren sie aus der Stadt zur Großmutter nach Krasnojar. Der Duft der blühenden Apfelbäume ist bis heute unvergesslich geblieben. Und die Äpfel erst! Irgendwie schmecken sie heute nicht mehr sog gut wie damals, in der Kindheit. Alles war reichlich vorhanden: sowohl Marmelade, als auch Kompott. Eine süße Zeit war das. Erika besuchte die nationale Schule. Das große, vierstöckige Gebäude mit den Säulen hatte das Mädchen angezogen und bezaubert. Es erinnert sich an die Denkmäler Lenins und Stalins neben den Schultüren, den schönen Parkett-Fußboden. Der gesamte Unterricht wurde in deutscher Sprache geführt. Sie lernten dort nicht nur Physik und Mathematik, sondern auch drei Fremdsprachen, Ethik und Musik. Das Mädchen lernte mit Begeisterung. Nur gelang es ihr leider nicht, die Schule auch zu beenden. Nach der siebten Klasse war die Ausbildung zu Ende. Der Krieg brach aus. Nun liefen die Kinder schon nicht mehr zur Schule – Fahrzeuge brachten die Verwundeten dorthin. Der Krieg nahm den Kindern ihre Schule – er nahm ihnen auch ihre Kindheit. Alles in ihrem Leben änderte sich auf einen Schlag grundlegend.

Der Vater befand sich nicht mehr im Einberufungsalter; dennoch ließ Bogdan Karlowitsch sogleich den Mut sinken, denn er ahnte und fürchtete sich vor den herannahenden Veränderungen. Und tatsächlich kam schon bald darauf Stalins Ukas heraus, nachdem alle Wolga-Deutschen nach Sibirien und Kasachstan umgesiedelt werden sollten. Und in der Stadt gab es ununterbrochenen Fliegeralarm, Unternehmen und Organisationen wurden auf ihre Evakuierung vorbereitet.

Die Mutter weinte bitterlich, als sie das heimatliche Nest verlassen, all die angeschafften Dinge, alles, was ihr lieb und teuer war, zurücklassen musste. Aber für uns dummen Kinder, die noch nicht Not und Entbehrung kennen gelernt hatten, waren diese Vorgänge interessant: immerhin stand uns eine lange Reise bevor. Doch wir waren davon überzeugt, dass mit uns einfach nichts Schlimmes geschehen konnte – schließlich hatten wir doch so einen starken und schönen Papa, er würde schon alles hinbekommen und organisieren. Dass unser Vater sein Lachen verlernt hatte und immer häufiger mit besorgter, nachdenklicher Miene herumlief, beunruhigte uns irgendwie nicht. Er wollte uns und sich selber beruhigen und meinte:

- Es kann nicht sein, dass Stalin so etwas zulässt. Wir werden schon bald wieder nach Hause zurückkehren.

Das sagte er, und dann packte er selber einige wenige Habseligkeiten zusammen, das sogenannte Handgepäck. Wie es gelang, auch noch Decken und Winterkleidung mitzunehmen – daran kann ich mich nicht mehr erinnern, aber außer den Sachen, die wir aus Engels mitgenommen hatten, besaßen wir danach viele Jahre nichts. Wir nahmen Kleidung und Schuhe bis auf das letzte Stück mit.

Auch unsere Verwandten machten sich auf den langen Weg – Papas leiblicher Bruder mit seiner Familie. Er hatte ebenfalls drei Töchter – unsere Kusinen. Wir waren lange unterwegs – fast einen ganzen Monat. Lange Zeit stand unser Zug an entlegenen, kleinen Bahnstationen, um in westliche Richtung fahrende Züge mit Militärtechnik und Soldaten und gen Osten Züge mit Verwundeten sowie evakuiertem Werk- und Fabrikinventar passieren zu lassen. Während der Fahrt hungerten wir noch nicht. Alle wurden mit Suppe versorgt, aßen aber hauptsächlich das, was sie aus Engels mitgenommen hatten. Schließlich erreichten wir Krasnojarsk. Zum zweiten Mal wurde auf meinem Lebensweg Krasnij Jar sichtbar, der Beginn einer neuen Bilanz in meinem unglückseligen Schicksal. Hier wurden wir von den Verwandten getrennt. Wir weinten, verabschiedeten uns und wurden auf einen Lastkahn verladen, der den Jenissei weiter flussaufwärts fuhr. Wenn Krasnojarsk in unseren Kinderaugen immerhin wie eine Stadt ausgesehen hatte, so konnte man Minussinsk eher als großes, staubiges Dorf bezeichnen. Dort wurden die eingetroffenen Deutschen erneut durcheinander gemischt, wobei uns das Los zu Teil wurde, in die Ortschaft Altai fahren zu müssen, zur Kolchose „Roter Oktober“. Uns, den Kindern, reichten die ganzen Strapazen allmählich, wir wollten unser eigenes Eckchen und unsere Ruhe. Und schließlich bekamen wir sie. Ein einziges Zimmer für alle. Wir, die wir in einem gediegenen Haus groß geworden waren, in dem es nicht nur ein Kinder- und Esszimmer, sondern auch ein Arbeitszimmer für den Vater sowie einen Raum für die Eltern gegeben hatte, mussten immer auf dem Boden schlafen. Ein Dank an die Mama, dass sie die Decke von Zuhause mitgebracht hatte. Wenn ich mich schlafen legte und die Augen geschlossen hatte, konnte ich noch den heimatlichen Geruch wahrnehmen, und ich strich mit den Händchen über die Kattun-Quadrate aus denen die Decke zusammengenäht war. Unvorstellbar absurd gestaltete sich der Alltag. Die ganze Familie kämpfte um den großen Ofen, der einen beträchtlichen Teil des Zimmers einnahm. Der Feuerraum war eine wahre Strafe. Ohne Brennholz und Kohle, nur mit gesammelten Brettern und Dingen, die wir sonst noch fanden, durchlebten wir den ersten Winter in Sibirien. Auch wussten wir noch nicht, dass der milde Minussinsker Winter noch gar nichts im Vergleich zu den nördlichen Wintern war, die uns noch bevorstanden.

Im Frühjahr nahm der Vater eine Tätigkeit als Vorarbeiter auf den Feldern auf, und ich ging auch arbeiten – Schafe hüten, Tagesarbeitseinheiten verdienen. Irgendwie richteten wir unser Leben ein, wurden im Sommer ein wenig braun, und im Herbst besuchte ich die örtliche russische Schule. Allerdings nicht lange. Die ortsansässigen Klassenkameradinnen interessierten meine Kenntnisse der englischen und deutschen Sprache nicht. Sie stempelten mich von ersten Tag an als „Ausgewiesene“ ab, wobei sie vergaßen, dass ich einen Vor- und Nachnamen habe. Die Kunst sich zu behaupten hatten wir damals noch nicht erlernt; uns prügeln, mit den Fäusten unsere Würde verteidigen verstanden wir ebenfalls nicht, aber schweigend die Beleidigungen und den Spott hinunterschlucken – das war mir schnell zuwider. Ich gab die Schule auf, hörte auf, das zu machen, was ich immer so gern gemocht hatte. So ging ganz allmählich die Kindheit dahin und ließ Erinnerungen daran zurück, was vor dem Krieg und vor der Ausweisung nach Sibirien gewesen war. Der Vater, ein unfreier Mann, der sich jeden Monat einmal in der Kommandantur registrieren lassen musste, erhielt plötzlich die Nachricht, dass man ihn auf die Liste der Fischerei-Brigaden gesetzt hätte, verbunden mit dem Befehl, sich für drei Monate in den Hohen Norden zu begeben. Auch seine ältere Schwester Irma wurde verpflichtet, mit ihm dorthin zu fahren. Unsere Mama lehnte es rundweg ab in Chakassien zu bleiben:

- Wo du hingehst, Bogdan, da gehen auch ich und unsere Kinder hin.

Zum Packen war nur wenig Zeit nötig, das gesamte Hab und Gut passte in zwei Säcke hinein. Wieder begrüßte und verabschiedete uns Krasnojarsk. Die kleinste Schwester, Else, konnte auf keinen Fall mit uns fahren. Arme Mama, wie sie versuchte, die Kleine vor den menschlichen Augen zu verbergen, während sie auf den riesigen Leichter verladen wurden. Hunderte, tausende Menschen gerieten auf einen einzigen dieser Lastkähne, der als Bugsierschiff Schiffe geleitete.

Dutzende Nationalitäten und Sprachen traf man hier an, die sich alle vermischten, durch einen einzigen Mann wurden die Menschen ins Unbekannte geschickt. Mit uns fuhren auch Letten und Finnen, Esten und Litauer. Die übelriechenden Frachträume verschlangen sie alle, und all die armen Teufel, die auf ihren Pritschen kauerten und Fischsuppe aßen waren einander gleichgestellt. Sich über die Lage empören durfte man nicht - man riskierte dann, einen Gewehrkolben zwischen die Augen gedrückt zu bekommen; es war auch nicht empfehlenswert zu erkranken – sie hätten einen gleich wegen des Verdachts auf Typhus von Bord geworfen. Innerhalb von zehn Tagen erreichten sie ihren Bestimmungsort, die dahin eilenden Wasser des Jenissei trugen sie wie von selbst dorthin. Mehrere Leichter näherten sich in einer Karawane der Insel Nasonowsk im Nationalgebiet Taimyr. Dreihundert Menschen gerieten auf die öde, steinige Insel. Lediglich ein paar Tschums ortsansässiger Nenzen belebten die raue nordische Landschaft.

Der nördliche Sommer ist nicht dasselbe wie die warme Jahreszeit im Süden. Man musste zusehen, dass man sich schnell eine Behausung baute. Bei einem fand sich eine Säge, bei einem anderen eine Axt, und Lärchen-Treibholz gab es am Ufer des Jenissei reichlich. Die Männer bildeten Brigaden und bauten sich Hütten. Nasses Lärchenholz ist wie Eisen. Du kannst es weder hochheben, noch mit der Axt bearbeiten. Jeweils zehn Mann waren nötig, um einen Baumstamm anzuheben. Anstelle von Werg stopften sie Moos in die Ritzen und deckten die Häuschen mit halben, der Länge nach zersägten Baumstämmen ab. Solche Hütten, ohne Fußboden, mit Pritschen bis zur Decke, wuchsen aus dem Boden wie Pilze. Sie wurden so groß gebaut, dass zehn bis fünfzehn Personen darin Platz fanden. Einer der Erbauer namens Felde, der aus Engels hierher geraten war, überanstrengte sich so sehr, dass er die Fertigstellung des Häuschens schon nicht mehr erlebte. Die Obrigkeit, welche die Halbinsel bereiste, sah, dass wir zum Sterben noch nicht bereit waren, uns ans Leben klammerten, und gab Lebensmittelmarken an uns aus. So lange wir noch das Geld besaßen, das wir von Zuhause mitgebracht hatten, konnten wir in der örtlichen Kooperative etwas kaufen, aber als es verbraucht war, mussten wir unsere Ernährung auf Fisch umstellen. Ob du wolltest oder nicht, eine andere Auswahl gab es nicht.

Die Kälte setzte früh ein. Im September hatte der Frost sich bereits mit aller Kraft breit gemacht. Wie ich mich jetzt erinnere, schickten sie uns, die noch Minderjährigen, in sieben Kilometern Entfernung zum Lagern von Baumstämmen, aber unsere Füße waren lediglich mit den Oberteilen von Filzstiefeln bekleidet, ohne Sohlen – die hatten sich schon lange abgelöst. Es gab auch Wickelgamaschen, aber schützen die einen etwa vor Frost? Es war jedenfalls nicht schwer, sich Erfrierungen zuzuziehen. Der Vater setzte sich für mich ein. Sie trieben mich daraufhin nicht mehr zur Arbeit, sondern brachten mir bei, wie man Netze knüpft. Auch wenn ich hungerte, so konnte ich doch im Warmen sitzen. Aber die ältere Schwester und den Vater setzten sie als Fischer ein. Doch was für Fischer waren das denn? Niemand hatte doch je zuvor mit Netzen gefischt, allenfalls mit der Angel – zum Zeitvertreib an der Wolga. Das Herbstgewässer des Jenissei verwandelte sich in Eisschlamm, und die Fischer liefen barfuß herum. Die Obrigkeit lief am Ufer mit Halbstiefeln herum, erteilte Kommandos – und die Untergebenen alle mit nackten Beinen. Auch unser einst so kräftige und gesunde Vater wurde krank. Bald darauf geriet er im Winter beim Eisfischen in einen Schneesturm. Er wäre schon damals umgekommen, wenn sich nicht die gesamte Insel-Bevölkerung auf die Suche nach ihm gemacht hätte, Lagerfeuer entfachte und Bogdan Schulz dadurch retten konnte. Doch die Erkrankung hielt sich beharrlich in seinem geschwächten und unzureichend ernährten Organismus und wahrscheinlich verließ ihn auch der Hoffnungsschimmer, das Lebenslicht, das für jeden im Leben leuchtet, den Weg weist; er hatte begriffen, dass er nicht wieder an die heimatlichen Ufer der Wolga zurückkehren würde, und hörte auf zu kämpfen. Schließlich gab er gänzlich auf und – starb. Man zimmerte ihm eine Kiste aus Brettern, bestattete ihn am Ufer, das heißt – man grub ihn in den Schnee ein, weil der ewige Frostboden auch im Sommer nur eine halbe Spatentiefe wegtaut und er im Winter ganz und gar unnachgiebig ist.

Über Mama und mich brach der Skorbut herein. Während ich krank war, verlernte ich das Gehen. Das Häuschen war bis zum Schornstein vom Schnee zugeweht. Der kleine Ofen aus Eisen, kein Kerosin, kein Licht. Wie habe ich überlebt? Wie kann es angehen, dass ich nicht draufgegangen bin? Gott hatte offenbar Erbarmen mit mir. Aber mit unserer Mama hatte er kein Mitleid. Für sie gab es schon nichts mehr, um einen Sarg zu bauen – und wer hätte es machen sollen? Wir hüllten sie in irgendwelche Lumpen und begruben sie im Schnee am selben Ufer. Im Frühjahr tauen die Schneewehen, der Jenissei setzt sich in Bewegung, das Wasser steigt und trägt alle mit sich fort, die im Winter bestattet wurden, fort von dieser steinigen Landzunge, geradewegs in den Ozean. Die Menschen begaben sich zum Ufer, um ihrer Lieben zu gedenken. Denn keine Geschichte hatte festhalten können, wie viele Menschen hier umgekommen waren; die Gräber von unserem Aufenthalt in Nasonowska existieren alle nicht mehr.

Wir begannen unser Leben zu Dritt, drei Mädchen. Irma und ich nahmen eine Arbeit in der Fischfabrik auf. Wir erhielten Brotmarken. Es konnte auch sein, dass wir sie nicht bekamen, denn ohne Geld gaben sie ja gar kein Brot aus. Jedenfalls erhielten wir innerhalb eines Jahres nicht eine einzige Kopeke, und um wenigstens ein paar Fischchen aus der Fabrik mitgehen zu lassen – daran dachten wir nicht einmal im Traum. Es ging so weit, dass wir fünf Tage und Nächte dasaßen und schließlich ganz geschwächt waren. Zur Arbeit mussten wir trotzdem gehen, es interessierte niemanden, ob du satt warst oder nicht. Meine kranken Beine schwollen vom Salz und der salzigen Fischlake auf wie Holzkeulen. Und der Wundbrand wäre nicht vorübergegangen, wenn es die örtliche Ärztin nicht gegeben hätte, die Mitleid mit mir hatte und mich von der Arbeit entfernte. Die ältere Schwester kümmerte sich um mich, rieb mich mit einer Salbe ein, und in den Zeiten dazwischen ging sie um Almosen betteln, damit ich nicht verhungerte. Geologen hatten unweit ihr Lager aufgeschlagen, sie suchten nach Erdöl – die gaben uns Brot und auch manches andere Stückchen. Davon lebten wir.

Bald kamen Kalmücken auf unsere Halbinsel, und uns, die wir schon völlig geschwächt waren, setzte man nach Ust-Port über. Auch hier gab es nichts Gutes. Wir mussten Baumstämme zu kleinen Klötzen zersägen. Aufgrund von Hunger und Skorbut taumelten wir im Wind. Wir überlegten nicht, dass wir Holzklötzchen sägen sollten, sondern hatten Mühe genug darauf zu achten, dass wir nicht unter den Stamm gerieten – den hätte man mit drei ausgebreiteten Armpaaren umfassen können, aber mich, die ich so dünn war wie ein Grashalm, hätte schon ein kleiner Ast umhauen können, genauso wie eines der Holzklötzchen. Eine wattierte Jacke für drei – sie wanderte von einer Hand in die andere. Wer zur Schicht musste, der zog sie an. Wir litten furchtbare Not. Bald darauf erging der Befehl, dass wir, die Verschleppten, uns jeden Monat einmal in der Kommandantur melden sollten, als ob irgendeiner von hier hätte weglaufen können. Als gefährliche Feinde stempelten sie uns ab – für nichts und wieder nichts. Sehen Sie, wir waren Deutsche, aber dass wir zum sowjetischen Volk gehörten und unsere Heimat Russland liebten, dafür wurden wir also in so großes Leid und Verderb geschickt. Kein einziger von denen, die mit mir hier ankamen, ist in den 19 Jahren seines Lebens im Hohen Norden zurück gefahren und in seine ursprüngliche Heimat zurückgekehrt. Wohin konnte denn ein Mensch ohne Ausweis gehen oder fahren? Nirgendwohin. Wie feine Holzspäne wurden tausende Schicksale niedergebrannt. Und nie wurde jemand dafür bestraft. Dabei stehen sämtliche Städte und Siedlungen im Norden auf den Knochen solcher verschleppten Zwangsarbeiter, die diese erbaut haben.

Als der Krieg zu Ende war, bedeutete das für uns auch weiterhin keinen Festtag. Alle bekamen Gutscheine für Schnaps ausgehändigt, den man entweder austrinken konnte, um seinen Kummer zu ersaufen oder – zu feiern.

Und erst nach Stalins Tod bekamen wir Ausweise. Da waren wir bereits erwachsen. Irma, die älteste, heiratete und fuhr mit ihrem Mann in den Süden der Region, die Jüngste nahm der Ehemann mit nach Lettland, und ich ging mit meinem Jewgenij Malyschew, einem Schiffsmechaniker, zu seinen Verwandten nach Welikije Luki. Dort sah ich zum ersten Mal Gärten, lernte, wie man Beete anlegt; bis zu der Zeit hatte ich ja noch nicht einmal einen Gemüsegarten zu Gesicht bekommen. Wie lange wir auch leben und irgendwann einmal wieder nach Krasnojarsk kommen – es ist als ob mein Schicksal mit diesm Namen durch unsichtbare Fäden verbunden wäre. Krasnij Jar – meine goldene Kindheit und mein unermessliches Leid.

Die Erzählung der Einwohnerin der Siedlung Mingul – Erika Bogdanowna Malyschewa, wurde von Jewgenia Chalejewa aufgezeichnet.

„Land-Leben“ (Suchubusimskoje). 08.07.2000


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