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Sportlergrüße aus den Lagerjahren

Besonderheiten des Nationalsports.

Wissen Sie eigentlich, daß vor 25 Jahren, am 15. Juli 1945, in Norilsk die erste Sportparade seiner Geschichte stattfand? Im Grunde genommen war es auch das erste Massen-Volksfest der Norilsker Geschichte, und ganz genau gesagt – der erste allgemeine Kombinatssport-Festtag nach dem Ende des Krieges. „Und wissen Sie, wie das war?“ – fragte unser freiberuflicher Archivar Jurij Wasiljewitsch PRIBYTKOW, als er in der Redaktion erschien.

Und er schlug den Ornder mit den alten Anordnungen auf ...

Sport war in Norilsk schon immer sehr beliebt. Zumindest damit angefangen, daß der Kombinatsleiter, als ehrenamtlicherVorsitzender des Norilsker Rates des „Dynamo“-Sportclubs, gleichzeitig auch der wichtigste Vertreter der Körperkultur war. Und die Probleme der Sportler wurden auf höchster Ebene vollkommen ernst genommen. In den Archiven fanden sich Dokumente darüber, wie in Norilsk der erste Schießstand in der Siedlung gebaut wurde. Aber es wurde kein Schießausbilder ernannt, so daß der Schießstand zwei Monate lang leer und hinter Stacheldraht dastand. Als der Kombinatsleiter davon erfuhr, befahl er sogleich, den besten Schützen unter den Lagerwachmännern herauszufinden und diesen zum Direktor des Schießstandes zu ernennen, wobei für den neuen Direktor ein Gehalt festgesetzt wurde – in doppelter Höhe des Verdienstes eines qualifizierten Hüttenwerkers ...

Oder das erste Schachturnier unter den Häftlingen (!) des NorilLag (in jenem Jahr 1945). Das Turnier wurde nach allen gängigen Regeln durchgeführt – mit Protokollen, Mannschaften, nach dem olympischen System. Schachmeister des NorilLag wurden Gefangene der zweiten Lagerabteilung (ihre Namen: E. Grinberg, R. Lipkind, G. Rosenblit). Jeder Großmeister erhielt auf Befehl des Kombonatsleiters 50 Rubel und einen Wimpel mit der Aufschrift „Bester Schachspieler von Norilsk“. Nein, was soll man sagen, sie liebten in Norilsk den Sport. Man kümmerte und sorgte sich darum.

Im Sommer 1945 bereitete sich Norilsk mit allen Kräften darauf vor, zum ruhigen Leben überzugehen. Und es ist bemerkenswert, daß sie zuallererst in der Siedlung eine Sportanlage bauten. Jeden Tag fuhren die Häftlingsbrigaden, Erdarbeiter, zur Stadion-Baustelle (damals befand es sich zwischen der Maschinenfabrik, dem Haus der Ingenieure und Techniker und der Fabrikfachschule). Am Krasiwyj-See wurde ein Schwimmstadion gebaut, am Rudnyj-See eine Sportstätte für Ruderer. Innerhalb der Lagerorganisation tauchte eine Abteilung akademischer Ruderer auf, und die Boote für die norilsker Ruderer wurden im Hafen von Dudinka gemacht. Auf dem Fluß Norilka wurde der erste Bootsanleger eröffnet, und es enstand sogar ein eigener Yachtclub, dessen erster Direktor der Leiter der Fischindustrie – Smirnow – wurde! Man muß wirklich sagen, daß das „Sport-Bauprojekt“ genauso ein wichtiges Problem war, wie die Produktionsfragen, und bei Nichteinhaltung der festgesetzten Fertigstellungsfristen erteilte der Kombinatsleiter Pasjukow seinem Stellvertreter in Bau-Angelegenheit die strenge Anweisung, die „Entfaltung der Bauarbeiten in vollem Umfang unter seine persönliche Aufsicht und Kontrolle zu stellen“.

Wenngleich ... das Wichtigste natürlich die Parade war. Die erste Sportparade im Nachkriegs-Norilks. Und überhaupt, allem Anschein nach, die erste Festveranstaltung in der norilsker Geschichte. Der Tag des Hüttenwerkers tauchte im Kalender erst Ende der 1950er Jahre auf, der Tag des Sportlers wurde vom Rat der Volkskommissare sechs Jahre zuvor (im Jahre 1939) geschaffen, er war bis dahin in Norilsk auch nicht begangen worden. Jedenfalls gelang es nicht, in den Archiven irgendwelche Anhaltspunkte dafür zu finden, daß in den 1930er und 1040er Jahren Sportfesttage begangen wurden. Und dann begann der Krieg, und aus den Feiertagen wurde nichts.

Deswegen wurde der allerersten Sportparade in Norilsk von allen mit großer Ungeduld entgegengesehnt. Man wollte noch nicht einmal bis August abwarten, wenn der Tag des Sportlers begangen werden sollte, sondern beschloß, die erste Parade bereits im Juli stattfinden zu lassen.

Die Gründe für eine derartige Ungeduld waren verständlich: zum ERSTEN MAL in seiner damals bereits zehnjährigen Geschäfte organisierte das Kombinat für die Norilsker einen Festtag. Nun mußte man nur noch alles so machen, daß es ein lange unvergessenes Ereignis wurde.

Eine kleine Anmerkung: es versteht sich, daß die Festtage der 1940er Jahre sich erheblich von denen der 1990er unterschieden. Damals sollte ein Feiertag nicht der Erholung dienen, sondern stellte vielmehr eine wichtige politische und militärisch-patriotische Veranstaltung dar. Und selbst eine harmlose Sportlerparade bildete da keine Ausnahme. Ihre Teilnehmer mußten nicht einfach nur so laufen – springen – marschieren., sondern im Namen oder zu Ehren einer bestimmten Sache, wegen der Erfüllung irgendwelcher ideologischer Aufgaben. Sport im Lande der Sowjets war ein ganz „wichtiger Teil der Verteidiungsvorbereitungen“, und der höchste Oberkommandierende, der Genosse Stalin, - der beste Freund der sowjetischen Sportler. Sogar in den Liedern jener Zeit steht der Torwart nicht im Tor, sondern er wacht über die Errungenschaften des Sozialismus. Und so sangen sie: „Stell dir vor, daß hinter dir der Grenzstreifen verläuft“.

„In den Stadions und auf den Sportplätzen der UdSSR demonstrieren die sowjetischen Sportler ihre Errungenschaften, grüßen damit die große Partei der Bolschewiken, die Partei Lenins und Stalins und ihren genialen Führer, den Genossen Stalin, der das sowjetische Volk und die Rote Armee für die Vernichtung des Feindes und das weitere Gedeihen unserer Heimat begeistert hat“ – mit diesen Worten beginnt der Organisationsbefehl des Kombinatsleiters zur Vorbereitung der Sportlerparade. Selbstverständlich konnte das Kombinat des NKWD der UdSSR eine dermaßen wichtige staatliche Veranstaltung, wie einen Sportfesttag, nicht dem Selbstlauf überlassen. Jegliche Leichtfertigkeit, Oberflächlichkeit und Laienhaftigkeit waren hier fehl am Platze – was Disziplin bedeutet, das begriffen die norilsker Sportler, von denen die Hälfte zum Bestand des Sportvereins „Dynamo“ zählte, auch ohne viele Worte.

Daher braucht man sich nicht zu wundern, daß man sich zur Sportlerparade in Norilsk wie zu einem militärischen Umzug vorbereitete. Man einigte sich von vornherein nicht nur auf die Reihenfolge beiom Aufmarsch der Kolonnen, sondern auch auf Kleinigkeiten - zum Beispiel welche Farbe die Turnhemden und –hosen der Teilnehmer haben sollten. Die Auswahl jedes einzelnen Teilnehmers und sein Platz innerhalb der Paradeaufstellung wurde von einer Sonder-Kommission, mit einem Kommissar der Staatssicherheit an der Spitze, bestätigt! Und selbst die Kolonnen der Parade wurden nicht von Olympioniken angeführt, sondern von Offizieren der Staatssicherheit: dem stellvertretenden Kombinatsleiter, Major Kopylow, dem Leiter der Lagerabteilung, Leutnant Sgoda ...

 

Und trotzdem ist ein Festtag - ein Festtag und eine Parade - eine Parade. Es gab auch angenehme Vorfeiertagsbemühungen und –laufereien. Zum Beispiel suchte die ganze Welt weißes Segeltuch gesucht. Laut Reglement sollten die Kolonnenleiter, der Kommandeur der Parade und zwei seiner Adjutanten ganz in Weiß in der Parade gehen: weiße HOsen, weiße Hemden und weiße Schuhe. Schon vorher sorgte man sich darum, daß bloß kein einziges Staubkörnchen die weiße Kleidung der norilsker Sportler beschmutzte – der Eigenbetrieb des Kombinates konstruierte eigens eine Berieselungsmaschine, mit der eine Stunde vor Beginn die Marschroute „besprengt“ werden sollte ...

In den Anweisungen stand davon nichts, aber ich wage die Vermutung zu äußern, daß in der Nacht vor der Parade in Norilsk kaum jemand schlief: alle waren in Vorfreude auf den Feiertag schrecklich aufgeregt, sowohl die zweitausend Teilnehmer, als auch die Organisatoren und jene, die in der Parade gar nicht mitliefen. Man hatte übrigens im Stadion extra für sie Leitungen verlegt, damit sie die Parade über Lautsprecher hören konnten ...

Genau zur Mittagszeit, am 15. Juli, bewegten sich die Sportler in elf Kolonnen, mit Gesang und Transparenten, zum Stadion. Den Umzug führte die Kolonne der operativen Lagerabteilung an, es folgten die Sportler aus den Reihen der Lagerwachen, und weiter – der Bedeutung nach die Hüttenwerker, Bauarbeiter, Reparaturarbeiter, Hafenarbeiter ... Und in der Nachhut marschierten die Studenten des norilsker Technikums für Bergbau (übrigens, das Technikum hatte die stattlichste Mannschaft aufgestellt – 150 Mann, noch mehr liefen nur noch in der Kolonne der Lagerwachen). Nachdem sie zwei Runden um das Stadium gedreht hatten, stellten sich die Teilnehmer der Parade vor der Tribüne zu einer Massenversammlung auf. Der Major der Staatssicherheit Schkodanskij (Kommandeur der Parade) erstattete dem Kommissar der Staatssicherheit (dem Kombinatsleiter) Bericht. Die Massenversammlung war nur von kurzer Dauer – denn die Parade war ja nicht für Redner gedacht, sondern für Zuschauer – welche auch nicht lange auf sich warten ließen. Gleich nach der Massenkundgebung fand ein Meisterschafts-Fußballspiel zwischen den Mannschaften der militarisierten Wachen und des Technikums statt. Daneben zeigten die Volleyballspieler vom Hafen, die Basketballspieler der Fabrik-Leitung und die Tennisspieler der Bau-Verwaltung ihre Kunst.

Am Abend ... oh, am Abend begann in den Straßen eim wahres Volksfest. Und die freien Bewohner der Siedlung Norilsk konnten nicht dem Vergnügen widerstehen daran teilzunehmen. Das Stadion verwandelte sich in eine improvisierte Tanzfläche, auf der die besten Musikanten von Norilsk spielten (nur aus dem Lager. Nach den Schachspielerischen und musikalisvhen Erfolgen zu urteilen, gab es in dr zweiten Lagerabteilung genügend Talente). In den Kiosken, duie rings um das Stadion aufgebaut worden waren, wurde Bier und Sodawasser verkauft, und auf den Booten lag echtes – Sie glauben es nich! – Vanilleeis, worauf die Veranstalter ganz besonders stolz waren! Alles wie im Leben, alles so, wie es vor dem Krieg gewesen war!

Die erste Sportparade in der norilsker Geschichte endete nach unseren Maßstäben ziemlich früh – um zehn Uhr abends. Aber es war ein Festtag. Und es blieb einer: in den Archiven, in den vergilbten Blättern mit den Anweisungen, in den Erinnerungen der Teilnehmer und Augenzeugen Vielleicht meldet sich ja einer von ihnen?

Wl. TOLSTOW „Sapoljarnaja Prawda“ No. 104 (12342) vom 14.07.2000
(Zeitung herausgegeben in Norilsk.


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