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„So ist es mir vorherbestimmt“

Weit und breit und erstreckt sich am Ufer der Wolga das Dorf Streckerau. Wohin das Auge auch schaut – überall sieht man üppige Gärten, Obstfelder, Bauernhöfe und Viehherden. In den Dörfern wurde nur Deutsch gesprochen; Russisch verstanden nur wenige Erwachsene. Man lebte gut.

In der Familie Josef Wesners wuchsen wahre Schönheiten heran – die Töchter Maria, Emma, Lida, Polina und der kleine Sohn Alexander. Lida hatte die Arbeiterfakultät in der Stadt Engels beendet, unterrichtete die Kinder an der örtlichen Schule in ihrer deutschen Muttersprache. Mutter Rosa arbeitete nicht, sie war oft krank, und die Hausarbeit hat sich die ganze Familie geteilt.

Das erste Elend brachte das Jahr 1937 mit sich. Ganz unvermutet wurden sämtliche Männer des Dorfes verhaftet., insgesamt 100 an der Zahl, ungeachtet ihrer Bildung oder beruflichen Stellung, aber aufgrund ihrer Nationalität – weil sie Deutsche waren. Um 2 Uhr nachts führte ein Milizionär auch Josef Wesner ab. Wohin – darüber gab es kein Wort der Erklärung, warum und weswegen: es wurde gesagt, daß in der Zeitung ein Ukas veröffentlicht worden war. Am nächsten Morgen fanden in der Schule nur wenige Unterrichtsstunden statt, denn die Männer – die Lehrer - waren nicht zur Arbeit erschienen. Viel später gab es Gerüchte, daß man sie in die Stadt Gorkij geschickt hatte, um dort eine Fabrik zu bauen. Insgesamt wurden dort in 14 Lager 28000 Deutsche getrieben. Niemand erhielt von dort Briefe. Mit Beginn des Krieges verschleppte man sie weiter nach Sibirien, in die Taiga. Erst ein Jahr später, bereits in Sibirien, wurde die Familie in dem Dorf Belij von einem Mann aufgesucht, einer der wenigen Überlebenden, um mitzuteilen, daß er mit Josef zusammen arbeitete. Er erzählte, daß Josef aufgrund der alle Kräfte übersteigenden Schwerstarbeit, Hunger und Kälte krank geworden sei. Sie hatten ihn in irgendeinem kleinen sibirischen Städtchen zurückgelassen. Josef starb, ohne zu wissen, daß sich gar nicht weit entfernt seine Familie befunden hatte. So eine Zeit war das, in der so schwerlich Nachrichten übermittelt wurden.

Bis 1941 lebte die Familie Wesner noch an der Wolga – in Streckerau. Damals hegten sie noch die schwache Hoffnung, daß alles in Ordnung kommen, der Vater zurückkehren und alles wieder gut werden würde. Die Deutschen empfanden keinerlei Schuld. Aber ihre Schuld lag bereits darin, daß sie als Deutsche geboren waren. Die Männer blieben verschollen.

6. September 1941. Alle Lehrer der Schule, an der Lida arbeitete, wurden gebeten, am Sonntag auf dem Feld zu arbeiten, Weizen einzusammeln. Sie arbeiteten mit Feuereifer; hier ließen sie sich zum Mittagessen neder. Aber eine Lehrerin meinte, daß sie zum Essen ins Dorf gehen wollte. „Irgendetwas zieht mich nach Hause! Ich werde dort zu Mittag essen und dann wieder hierher kommen“ – versprach sie. Es dauerte lange, bis sie endlich wiederkam. Um 4 Uhr war sie wieder auf dem Feld. Sie rief alle zusammen: „Kommt mal alle her, ich muß euch eine Neuigkeit erzählen. Im Dorf sagt man, daß ein Ukas verabschiedet worden ist, nach dem wir alle ausgesiedelt werden sollen. Anscheinend nach Sibirien“.

Lidia Josifowna erinnert sich:

- Durch diese unerfreulichen Nachrichten ganz aus der Fassung gebracht, begaben wir uns schnellstens zurück ins Dorf. Dort herrschten Angst und Schrecken. Niemand wollte an die Realität des herannahenden Unheils glauben. Zum Packen ließ man ihnen keine Zeit. Am nächsten Morgen verlud man uns auf breite Plattformen, die an Traktoren gehängt worden waren. Die Befehle der Leute in Uniform klangen abgehackt, wie Peitschenhiebe: „Los! Raufklettern! Schneller!“ Unsere Fragen „wohin?“ und „für wie lange?“ blieben unbeantwortet.

Sie erlaubten uns nicht, irgendwelche Sachen mitzunehmen. So wie wir dastanden, in der Kleidung, die wir zufällig gerade anhatten, ließen wir unser Haus und unser erworbenes Gut zurück. Man brachte uns bis zu irgendeiner Bahnstation und lud dann alle auf einem großen Feld ab. Viele Menschen waren dort – Frauen, alte Leute und Kinder. Zu essen gab es nichts. Viele konnten die Tränen nicht zurückhalten. Auch die Wesners befanden sich dort unter ihren Mitmenschen. Die erschöpften Kinder schliefen direkt auf dem Boden. Am nächsten Tag näherte sich ein Güterwagen. Erneut wurden die Menschen verladen. Tagsüber saßen sie direkt auf dem Boden, nachts schliefen sie dort nebeneinanderliegend. Wohin man sie brachte, erfuhr niemand. Sie vermuteten das Allerschlimmste: daß man alle in den Wald transportieren und dort umbringen würde.

Aber die Fahrt, die einem wahren Alptraum gleichkam, ging weiter, und man mußte darüber nachdenken, wie man überleben konnte. Aus dem Waggon wurde ein Ältester gewählt. Es war Gawriil Schechtel, ehemaliger Kolchos-Vorsitzender (der einzige Mann, der 1938 aus der Arbeitsarmee zurückkehrte – aus Krankheitsgründen). Er beschaffte mit Mühe von irgendwoher zwei Eimer, bekam eine gewöhnliche Brühe und ein wenig Brot. Das wurde an alle gerecht verteilt.

Am dritten Tag starb unterwegs der vierzehnjährige Alexander Wesner. Seit seiner Kindheit hatte er an einer schweren Krankheit gelitten – Streß und Hunger hatten nun eine Verschlechterung des Zustandes herbeigeführt. Als ob er den herannahenden Tod gefühlt hatte, wollte er unbedingt in dem heimatlichen Dorf Strekerau bleiben, selbst wenn er dort allein zurückbliebe. Aber die Mutter ließ ihn nicht, und sie hätte das auch nie erlaubt. Jetzt war sie am Wehklagen, fast wahnsinnig vor lauter Schmerz: „Es wäre besser gewesen, mein Sohn, wenn du drei Tage früher gestorben wärst. Da hätte ich gewußt, daß wir dich in heimatlicher Erde begraben. Aber nun tragen sie dich fort, und man wird für dich noch nicht einmal ein Grab finden“. An der Station Demjas wurde der tote Sascha, zugedeckt mit einem Tuch, aus dem Zug getragen. Wahrscheinlich hat man ihn eingeäschert. Auch in den anderen Waggons gab es Tote. Die Schwächsten und Ältesten überstanden diese Fahrt nicht. Und sie dauerte noch viele Tage und Nächte.

Zuerst brachte man die Deutschen nach Nowosibirsk. Aber die Behörden meinten: „Die können wir hier nicht gebrauchen!“ Und so transportierte man sie weiter in die Altai-Region, aber auch dort wollte keiner sie aufnehmen: „Wir haben schon mit unseren eigenen Leuten genug!“

Die Menschen waren der Meinung, daß, wenn man sie schon für nichts brauchen konnte, sie sicher bald umgebracht würden. Jetzt waren sie bereits achtzehn Tage und Nächte unterwegs. Sie fuhren bis zum Bahnhof Karasuk. Die begleitenden Wachmannschaften waren wütend und luden die Deutschen an der Station ab, weil sie dringend leere Waggons benötigten. Endlich war man hier, in Karasuk, bereit, sie aufzunehmen und auf Kolchosen zu verteilen. Fuhrwerke lieferten in den Kreis das Getreide aus der neuen Ernte, und auf ihrem Rückweg nahmen sie dann die Deutschen mit. Mit mehreren Fuhrwerken wurden fünf Familien zur Lenin-Kolchose gebracht, unter ihnen befanden sich auch die Wesners. Der Vorsitzenden des Dorfsowjets Chimytsch bestellte die Familienoberhäupter zu sich. Aufmerksam las er sich das Begleitdokument durch und sagte dann: „Ihr seid aufgrund eines Irrtums hierher geraten. Eigentlich hat man euch ein anderes Dorf zugewiesen. Aber ihr könnt hierbleiben. Schließlich werdet ihr euch hier wie da wie Fremde fühlen. Wir werden euch bei einem guten Brigadeführer, bei Fjodor Tschech, zur Arbeit einstellen. E wird euch Neuankömmlinge nicht kränken und beleidigen“. Er war es, der die Umsiedler auf Wohnungen und Wirtsleute verteilte, bei denen es noch einen freien Platz gab. Unterdessen hatte sich das ganze Dorf beim Dorfsowjet eingefunden. Die Dorfbewohner waren Zugewanderte aus der Ukraine, und niemand hatte eine Vorstellung davon, was das für ein Volk war – diese Rußland-Deutschen. In der Menge befand sich ein herzkranker Mann – Lewko Karpenko -, der sich nun an die Versammelten wandte: „Was wundert ihr euch? Das sind ebensolche Menschen wie wir! Und noch keiner von euch hat bisher daran gedacht, ihnen ein Stück Brot zu bringen. Die Leute waren so lange unterwegs, man hat ihnen nicht erlaubt, irgendetwas für die Fahrt mitzunehmen.“ Er ging nach Hause, zog aus dem Ofen einen großen gußeisernen Topf mit gekochten Kartoffeln, und seine Tochter Warja brachte eine Schale mit Tomaten. So war er der Erste, der den deutschen Neuankömmlingen zu essen gab und sie willkommen hieß. Nicht umsonst sagt man: „Es gibt keine Welt ohne gute Menschen“. Viele halfen, schauten vorbei, interessierten sich dafür, wie die Deutschen lebten, brachten im Winter mal warme Kleidung, mal eine Decke.

„Obwohl es natürlich auch Haß gab. Wegen des Krieges, - erzählt Lidia Josifowna. – Die wenig gebildeten Ortsansässigen glaubten, daß, wenn es Deutsche waren, sie auch direkt aus Deutschland kommen mußten. Als unser Dorf die Nachricht vom Tode eines Aoldaten erreichte, ergossen sich über uns wahre Fluten von Flüchen, Verwünschungen und Beschuldigen. Die ganze Schuld an dieser Sache schrieb man uns zu. Wir rechtfertigten uns, versuchten zu erklären, aber es half alles nichts. Sie beschimpften uns als Faschisten“. Wir bemühten uns, dem keine Beachtung zu schenken und nicht mit ebenso bösen Worten zu antworten. Wir hielten es für besser, uns in Geduld zu üben. Niemand sagte zu irgendjemandem auch nur ein Sterbenswörtchen.

Die Schwestern Wesner arbeiteten im Schweinestall und auf dem Feld und verrichteten dort die schmutzigsten Tätigkeiten. Eine Arbeit entsprechend ihrer beruflichen Qualifikation wurde weder der Lehrerin Lidia noch der Krankenschwester Maria anvertraut. Die Behörden sagten, daß sie hier keinen Personalbedarf hatten.

Nach und nach erfuhren die Menschen, daß Rosa Wesner eine hervorragende Schneiderin war, die dir alles zurecht- und zusammennähen konnte, was du nur wolltest, sogar einen Mantel oder einen Herrenanzug. Sie beschaffte sich eine Nähmaschine und fing an auf Bestellung zu arbeiten. Die Kunden bezahlten mit Eßwaren. Oma Ewa spann und strickte. Auf diese Weise verdienten sie ihren Unterhalt.

Und so verging ihr erstes Jahr in dem Dörfchen Belij. Nachdem sie sich in der kleinen Kate mehr oder weniger eingelebt hatte, hoffte die Familie das über sie hereingebrochene Unglück irgendwie zu überstehen. Aber das Schicksal bereitete schon neue Zerreißproben für sie vor. Am 2. Dezember 1942 wurden Emma, Maria und Lidia zum Dorfsowjet bestellt, wo man ihnen mitteilte, daß sie nun als Rußland-Deutsche in die Arbeitsarmee mobilisiert würden.

Die Abfahrt wurde auf den nächsten Tag festgesetzt. Die Schwestern wurden getrennt. Maria wurde in die Krasnojarsker Region geschickt, Emma nach Kujbyschew, Lidia geriet nach Baschkirien. 14 Jahre brachte sie in der Arbeitsarmee zu – von ihrem 18. bis zum 32. Lebensjahr.

Lidia Josifowna erinnert sich, und in ihren blauen Augen stehen Tränen:

Das Leben war schwer. 64 Menschen befanden sich in unserer Baracke. Sie war nicht beheizt, und im Winter konnte man durch die Fugen und Ritzen im Dach die Sterne sehen. Die Arbeit auf den Feldern begann noch vor Tagesanbruch – sie mußten dreschen und worfeln. Bis zum späten Abend arbeiteten sie, auch im Winter, bis zu den Knien im Schnee, bis zum Gürtel durchnäßt. Als Kleidung besaßen sie nur kurze Strickjäckchen und dünne Hosen. Tag für Tag kehrten sie in völlig vereisten Sachen in die Baracke zurück, die Haut an den Beinen platzte auf bis aufs Blut, und die Wunden verheilten bis zum Frühjahr nicht. Nirgends konnte man seine Sachen trocknen; sie breiteten die Kleidungsstücke auf ihrem eigenen Körper aus, in der Hoffnung, sie wenigstens auf diese Weise ein wenig trocken zu bekommen. Aber ebenso feucht mußten sie sie am nächsten Morgen wieder anziehen. Niemand hatte Mitleid mit uns.

Im ersten Winter drosch Lidia Getreide. Und als der Frühling kam, stellte man sie auf der Schweinefarm ein – bei der Futterzubereitung. Dort arbeitete sie drei Jahre. Hier herrschten bessere Bedingungen, in der Küche war es warm. In riesigen Bottichen wurde für die Schweine Futter aus Kartoffeln gekocht. Von dort nahmen sie auch für sich selbst Kartoffeln zum Essen mit. Und pro Tag gab es 400 gr Brot. Gearbeitet wurde vom Tagesanbruch bis zum Einsetzen der Dunkelheit, ohne freie Tage.

1945 heiratete sie hier den repressierten Bulgaren Nikolaj Djadow. Es kamem Kinder – Dmitrij, Wolodja, Walja, Iwan, Musja, Wera. Einen Monat vor der Geburt wurde man von der Arbeit freigestellt, und einen weiteren Monat bekam man anschließend arbeitsfrei. Die Kinder froren, weinten und hatten Hunger, aber sie wuchsen heran. Die älteren unter ihnen paßten auf die kleinen auf. Nun teilten Nikolaj und Lida ihre Arbeitsarmee-Ration unter acht Personen auf. Denjenigen, die nicht selbst arbeiteten und anderen auf der Tasche lagen, stand keine eigene Brotration zu.

Im Jahre 1956, als man ihnen erlaubte woanders hinzufahren, begaben sie sich in den Kaukasus, von wo aus die Familie Djadow zusammen mit Griechen, Armeniern und Tataren ausgesiedelt worden war. Aber dort lebten sie nicht einmal ein Jahr, denn Lidia vertrug das feuchte Klima nicht, ewig war sie krank. Man entschied sich daraufhin, nach Sibirien zurückzukehren, ion den Karasuksker Kreis, in das Dorf Beloje, wohin sich die beiden Schwestern Wesner nach ihrer Zeit in der Arbeitsarmee gemeinsam aufgemacht hatten. Maria hatte geheiratet und zusammen mit ihrem Ehemann Wasilij Bauer ein Haus gebaut.

Bald halfen die Leute auch den Djadows ein eigenes, geräumiges Haus zu errichten. Sie arbeiteten und teilten Freud und Leid je zur Hälfte. Und Kummer und Leid vielen ihnen reichlich zu. Nachdem sie nun schon das tragische Los ihres unterdrückten und verfolgten Volkes geteilt hatten, erlitt Lidia Josifowna auch in ihrem persönlichen Schicksal schwere Verluste: mit drei Jahren starb Sohn Dmitrij an Meningitis; die Schülerin Musja kam unter den Rädern eines Autos um Leben, und in der Armee, bei der Stillen-Ozean-Flotte kam Sohn Wladimir auf tragische Weise ums Leben. Der unendliche Kummer der Mutter hat bis heute ihre Tränen nicht getrocknet. Woher hat diese tapfere Frau, die Rußland-Deutsche Lidia Josifowna Djadowa die ganze Kraft genommen, trotz allem ihr Leben zu leben, zu lächeln und zu Ostern den von den Enkelkindern so geliebten Ribbelkuche zu backen? Die Antwort war einfach und kurz: „Gott gibt mir Kraft“.

Ich beschloß Lidia Josifowna eine schwierige Frage zu stellen:

- Sie mußten soviel durchmachen, haben soviel Schreckliches erlebt. Hegen Sie keinen Groll gegen ihr Heimatland und die Staatsmacht wegen all der ungeheuren Vergeltungsmaßnahmen?

- Gegen die Heimat nicht. Wir müssen allen vergeben, wie auch Gott vergeben hat, als er am Kreuz hing: „Vater, verzeih ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Ich habe mein Schicksal angenommen, da es mir nun einmal so vorherbestimmt ist.

Galina MIRONENKO, Dorf Beloje, Karasuksker Kreis
„Sibirische Zeitung plus“ No. 8 (26), 8/2000 
(Zeitung, herausgegeben in Nowosibirsk)


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