Er hatte einen ungewöhnlichen Doppelnamen: Eduard-Dominik. Eduard-Dominik Karlowitsch Ilnitskij, von 1950-1952 Einwohner von Norilsk, Haupt-Ingenieur beim Norilsker Bergwerk 1/7. Wir wissen nicht, wann er starb (im vergangenen Jahr wurde der 100. Jahrestag seiner Geburt begangen), aber über sein Leben kann man einen Film in mehreren Teilen, mit äußerst interessanten Handlungen drehen, dessen größter Wert darin liegt, dass keine Szene in ihm erfunden ist.
Seine Mutter, eine Weißnäherin aus einer russifizierten litauischen Familie, trug den ganz und gar nicht litauisch klingenden Namen Akulina. Wahrscheinlich beschloß sie deswegen auch, ihrem Erstgeborenen den „erlesenen“ Vornamen Eduard-Dominik zu geben. Das beunruhigte kaum jemanden: Eduard-Dominik gab es in der Welt dort, wo niemand sich über Vornamen, Nationen und Mundarten wunderte, nicht einmal über die seltsamsten und lächerlichsten. Urteilen Sie selbst: die Mutter – Litauerin mit russischem Vornamen, der Vater – halb Deutscher, halb Pole, Geburtsort – ein ukrainisches Dorf mit dem ausdrucksvollen Namen Franzuskoje, unweit der aus vielen Nationen zusammengewürfelten Stadt Odessa.
Nach Eduard-Dominik erblickten nacheinander drei Töchter das Licht der Welt – Anna, Jelena und Milja. Später verwaisten die Kinder: Karl Ilnitskij wurde wegen Beihilfe zum Mord an einem Gendarmerie-Offizier verhaftet. Genauer gesagt: Nikolaj Tieri, sein Vetter, tötete den Offizier, während der Vater ihn lediglich im Haus versteckte; aber sie wurden gemeinsam festgenommen. Der Vetter wurde gehängt, Karl deportiert, die „Ehefrau eines Terroristen“ wurde mit ihren vier Kindern von der Gemeinde aus dem Dorf vertrieben. Die Familie zog nach Odessa um, und Eduard-Dominik, der nun im Alter von acht Jahren zum einzigen Mann in der Familie geworden war, mußte arbeiten gehen. Anfangs verkaufte er Zeitungen, mit vierzehn fand er als Dreher-Lehrling eine Arbeit in der „Elworti“-Fabrik. Dann brach der Krieg aus, und im Juli 1917 wurde er in die Armee einberufen. Sie verabschiedeten sich so, als würde die Trennung nicht lange dauern „hab’ keine Angst, Mama, der Krieg ist bald aus“), aber sie wurden für immer auseinandergerissen: Eduard-Dominik sollte nie wieder in sein Elternhaus zurückkehren.
Herbst 1917, beim Stab der Südwest-Front. Im Stab erörtert man die Ereignisse, über die die gesamte Front spricht: der junge Kavallerist des Trans-Amur-Regiments Ilnitskij hat ohne jegliche Hilfe den Kampf gegen feindliche Patrouillen aufgenommen. Zwei hat er niedergemetzelt, den dritten – einen madjarischen Offizier – nimmt er als Kriegsgefangenen. Im Stab werden Vermutungen angestellt – wird er eineAuszeichnung bekommen oder nicht?
Auf der einen Seite ist er ein verwegener Bursche – er kämpft erst seit zwei Monaten. Schließlich wird der Vorschlag für eine Auszeichnung nach Petersburg gesandt. Ein zwei Monate später überreicht ein aus Petersburg eingetroffener Offizier, der eigens dafür gekommen war, die niederen Ränge auszuzeichnen, Ilnitskij das Georgskreuz. Und dann berichtet er im Stab über Neuigkeiten aus der Hauptstadt. InPetersburg ist die Revolution ausgebrochen, Kerenskijs Regierung gestürzt, die Bolschewiken sind an die Macht gekommen, die Front bricht zusammen, und wie es nun weitergehen soll – das weiß niemand. Die Stabsoffiziere sitzen beunruhigt da, rauchen und schweigen.
Bald beginnt auch die Süd-West-Front auseinanderzulaufen. Ilnitskij begibt sich in eine Partisanen-Einheit mit der berühmten Bezeichnung „Litauisch-Lettische Einheit der Roten Bomber“. „Bomber“ – das klingt schön, obwohl es sich dabei um eine der ersten Formierungen der Roten Armee handelt, die versucht, das Vorrücken der rumänischen Truppen in die Tiefen Besarabiens zu verhindern. Im Januar 1918 stürmen die Bomber in Tiraspol die Brücke über den Dnjestr. Stürmisches Gefecht, Durcheinander, Angriff – nachdem Ilnitskij als erster bis zu den rumänischen Schützengräben gelaufen ist, ersticht er mit dem Bajonett einen Gewehrschützen. Da hört man von hinten eine Explosion, er fällt. Als er das Bewußtsein wiedererlangt, erblickt er einen schallend lachenden, kahlrasierten Mann, der sich über ihn beugt – „ Du bist das also, der die Brücke eingenommen hat? Ein mutiger Kerl! Na, sag schon – willst du als Meldegänger zu mir kommen?“ – „Und wer bist du?“ fragt Ilnitskij, der nur mit Mühe die Lippen auseinander bekommt. – „Ich bin Kotowskij“.
Februar 1920. Die Wrangel-Front. Die Rote Armee bereitet den Sturm auf die Landenge von Perekop (Krim) vor. Ilnitskij ist inzwischen Waffenkommandeur des Artilleriebataillons in Kotowskijs Kavallerie-Korps, das zum Stoßtrupp gehört. Der Stoßtrupp stürmt „frontal“ auf die Landenge von Perekop los, indem es die Hauptstreitkräfte der Weißen ablenkt. Eigentlich sind das zum Tode Verurteilte – während des Vormarschs sollen sie befestigte Positionen angreifen, indem sie den abschüssigen Hang unter heftigem Geschützfeuer hinaufklettern. Praktisch der gesamte Stoßtrupp kommt bereits bei der ersten Attacke ums Leben. Ilnitskij wird kurz nach dem Kampf gefunden. Offenbar ist es ihm gelungen, in die erste Linie der Schützengräben hinabzuspringen und trotz seiner Verwundung den Gegenangriff der Weißen abzuwehren. Nach ein paar Tagen werden eben dort, an der Landenge von Perekop, die überlebenden Teilnehmer des Stoßtrupps durch Frunse geehrt. Angesichts einer besonderen Belohnung erhalten die 28 Kämpfer einen Dienstreiseschein zum Arbeitsantritt bei der Krim-Tscheka in Simferopol . Unter ihnen – Ilnitskij.
Simferopol ist gerade erst von den Wrangel-Truppen befreit worden. Jeden Abend begleitet Ilnitskij, da auf den Straßen Unruhe herrscht, die Maschinisten der Tscheka, Sofia Skworzowa, die Tochter eines getauften Turkmenen, bis nach Hause. Bald darauf heiraten die jungen Leute. Eine unkomplizierte Hochzeit, Glückwünsche, und nach wenigen Tagen bestellt man Ilnitskij zum Stab und teilt ihm mit, dass er in die Einheit der Tschekisten aufgenommen ist, die mit einer sehr ernsten Aufgabe beauftragt sind. In aller Eile muß er aufbrechen. „Wann kommst du wieder?“ – fragt seine Frau ihn auf dem Bahnhof. – „Bald“, verspricht Ilnitskij ihr, ohne zu wissen, ob er die Wahrheit sagt oder nicht.
Offenbar war in der Kriegsfestung Wedeno im bergigen Tschetschenien eine Meuterei ausgebrochen. Eilig formieren sich die Truppen zur Niederwerfung des Aufstandes. Unter Ilnitskijs Kommando befindet sich eine Einheit Tschekisten. Ihre Aufgabe ist es, in aller Heimlichkeit in die Festung vorzudringen, das Gefecht zu eröffnen und bis zum Heranrücken der Hauptstreitkräfte durchzuhalten. In der Nacht, in totaler Finsternis, stößt Ilnitskijs Truppe bei der Annäherung an die Festung auf eine andere unserer Einheiten, die, wie sich später herausstellt, auf einem Erkundungsgang befand. Der Kampf wurde eröffnet, in dessen Verlauf die halbe Einheit Ilnitskjs sowie der Kommandeur der entgegengekommenen Truppe fielen ...
Das Tribunal. Ilnitskij: „Ich bitte darum, dass man mir die Möglichkeit gibt, meine Schuld mit Blut wiedergutzumachen“. Das Urteil – Degradierung zu einem gewöhnlichen Soldaten, Verschickung zum allergefährlichsten Militärabschnitt. Ilnitskij wird ohne das Recht auf Wiedereintritt für die Dauer von 25 Jahren (!) aus der Partei entlassen. Wenige Tage später läuft er bereits in den Ketten der Angreifer herum. Eine Maschinengewehrsalve durchlöchert ihn. Mehrere Monate schwebt er zwischen Leben und Tod. Niemand glaubt, dass er überleben wird. Man verlegt ihn in andere Krankenhäuser – nach Rostow, Tscherkassy, Charkow, Kiew. Erst in Kiew erlangt er das Bewußtsein wieder und fängt noch einmal ganz von vorne an das Gehen zu lernen.
Im Krankenzimmer, im Nachbarbett, lag ein Flieger aus Charkow. Die Luftfahrt – das ist die leidenschaftlichste Liebe der jungen Republik, auf Piloten schaut man als wären sie lebende Götter. Der Flieger überredet Ilnitskij dazu, nach der Entlassung mit ihm zu gehen – „es fehlt an Berufssoldaten, die lesen und schreiben können, und du kannst doch lesen und schreiben, hast die Kirchengemeindeschule abgeschlossen, einen Beruf erlernt!“
Ilnitskij ist einverstanden und erhebt sich bereits nach drei Monaten in die Lüfte. Er macht Luftaufnahmen für die dritte Aufklärungsfliegerstaffel. Man ernennt Ilnitskij zum Leiter des Flugplatzes in Charkow; seine Frau kommt zu ihm. Er ist glücklich, er ist in die Luftfahrt verliebt. Seiner Tochter gibt er den Namen Asa – „Morgenröte der Luftfahrt“.
Eine medizinische Kommission erklärt ihn für den weiteren Militärdienst für untauglich. Der Kommandostab gibt ihm einen Dienstreiseschein zur Teilnahme an Kursen für Bergbau-Vorarbeiter und später für den Hörsaal des Dnjepropetrowsker Bergbau-Instituts. Immer wider beginnt für ihn ein neues, unbekanntes und spannendes Leben.
Im Alter von 27 Jahren ist Ilnitskij bereits Direktor einer Schachtanlage. Mit 29 Ched des riesigen Ilitsch-Schachtes in der Stadt Ordschonikidse im Kriwo-Becken. Später versetzt man ihn als lese- und schreibkundigen Spezialisten mit Bereitschaft zur Initiative nach Georgien, um dort den Bau des Korobsker Kombinats nahe der Stadt Oni zu leiten. Das Kombinat wird in Rekordzeit fertiggestellt – in nur acht Monaten! Ilnitskiy erhält von der Hauptverwaltung für die Produktion von Wolfram und seltenen Metallen beim Ministerium für Metallurgie der UdSSR eine Ehrenurkunde, die eigenhändig von Kaganowitsch unterschrieben ist, sowie den schriftlichen Befehl, sich an einen anderen Arbeitsort zu begeben – nach Kabarda, wo in dem Dorf Nischnij Baksan das Tyrny-Aussker Molybdän-Kombinat gebaut werden soll. Mit 37 Jahren wird er Ober-Ingenieur des Kombinats.
Ein gewisser Worontsow, von Beruf Aufbereiter im Tyrny-Aussker Kombinat, verstand sich überhaupt nicht mit Ingenieur Ilnitskij. Und so denunzierte er ihn in schriftlicher Form beim NKWD: es wird gesagt, dass Ilnitskij während des Baus der Fabrik insbesondere die Herausgabe der Pläne und Zeichnungen an die Meister hinauszögerte, nach denen diese arbeiten sollten ... Ilnitskij weiß, dass Worontsow ihn denunziert hat, winkt jedoch leichtfertig ab – schließlich wird hier eine neue Aufbereitungsanlage gebaut, da wird er sich doch keineswegs durch irgendwelche Kleinigkeiten ablenken lassen! Am Abend vor der Inbetriebnahme der Fabrik kommen sie, um ihn zu holen. Ein kurzes Ermittlungsverfahren, die Verurteilung nach § 58-7 – „Schädlingstätigkeit“ („erzählen sie, wie sie den Arbeitern die Zeichnungen nicht herausgerückt haben“) – „Arbeitszeichnungen“ – korrigiert Ilnitskij höflich). Das Urteil – zehn Jahre Lager.
Er ist ein gescheiter Metallurg, ein guter Organisator. Gemäß Kontingentplan der Lager-Hauptverwaltung beim Ministerium für Metallurgie wird Ilnitskij mit einer Häftlingsetappe anch Montschegorsk gebracht, wo gerade ein Nickel-Kombinat gebaut wird. In weniger als einem Jahr wird die Arbeitsgruppe des Meisters und Häftlings Ilnitskij von „Seweronikel“ (Nord-Nickel-Kombinat; Anm. d. Übers.) zur Stachanow-Brigade! Ihn selbst wirdman als Bestarbeiter der Buntmetallurgie des Landes mit einer Belobigungsurkunde auszeichnen. Die Urkunde unterschreibt Kaganowitsch: Ilnitskij ... Ilnitskij ... den Namen kennt er doch irgendwoher. Er arbeitet gut. Übrigens, existiert ein Gesuch auf die Überprüfung seiner Akte? Es stellt sich heraus, dass sich für Ilnitskij – und das ist ein noch nie dagewesener Fall im Schicksal eines Volksfeindes! – die Partei- und Sowjetorgane der Kabardino-Balkarischen SSR einsetzen und die Arbeiter des Tyrny-Ausker Kombinats kollektive Briefe schreiben ... Ilnitskijs Fall wird tatsächlich überprüft ... und er in allen Punkten der Anklage freigesprochen!
Zu dieser Zeit beginnt der Krieg. Zuerst wird „Seweronikel“ evakuiert – nach Norilsk. Ilnitskij erreicht, dass man ihn nach Tyrny-Aus versetzt – „dort brauchen sie mich nötiger“. Nachdem er ins Kombinat zurückgekehrt ist, führt er zuerst eine Planungsbesprechung durch. (Worontsow, der ihn ins Gefängnis gebracht hat, ist inzwischen bereits selbst im Gefängnis). Er erzählt, wie „Seweronikel“ evakuiert wurde. „Sind wir auf eine Evakuierung vorbereitet?“ – fragt ihn irgendjemand. „Na, was denn, Genosse“, antwortet Ilnitskij, - Sie wissen doch sehr gut, dass die Deutschen nicht bis hierher durchkommen“.
Sommer 1942. Die Deutschen waren sehrwohl bis hier gekommen. Die deutschen Panzer brechen nach Naltschik duch. Ilnitskij bereitet das Tyrny-Ausker Kombinat auf seine Evakuierung nach Baku vor. Im Kreis-Komitee hat man ihm unmißverständlich zu verstehen gegeben: wenn du zu schnell bist und die Fabrik zu früh in die Luft sprengst - landest du vor Gericht; wenn du zu sehr zögerst und die Fabrik den Deutschen überläßt – dann werden wir dich an Ort und Stelle erschießen. Ilnitskij gelingt es, die wichtigsten technologischen Aggregate abzutransportieren, er selbst geht als Letzter, winkt dem Kommandeur des Minentrupps zu – „Nun kannst du sprengen!“.
Sommer 1943. Die Deutschen weichen hinter den Don zurück. Ilnitskij kehrt nach Tyrny-Aus zurück, er wird zum Leiter des Bauprojektes zum Wiederaufbau des Kombinats ernannt. Im Frühjahr 1944 nahm das Tyrny-Ausker Kombinat seinen Betrieb wieder auf, und Ilnitskij erhielt drei Auszeichnungen auf einmal: wegen der rechtzeitigen Evakuierung – die Medaille „Für die Verteidigung des Kaukasus“, wegen des schnellen Wiederaufbaus – „Für heldenhafte Arbeit im Hinterland“, und den Orden „Roter Stern“ – für die Gesamtheit seiner Verdienste.
Im Februar 1950 traf Ilnitskij, auf Anweisung der Lager-Hauptverwaltung der Bergbau- und Hüttenindustrie, in Norilsk ein. Der Grund für seine Dienstreise – die Unvollständigkeit der technischen Kader im Norilsker Kombinat. Das erste Amt Ilnitskijs in Norilsk wurde der Posten des Ober-Ingenieurs am Bergwerk 1/7. Einige Monate später wurde er als stellvertretender Leiter der Bergwerksverwaltung für Untertage-Arbeiten bestätigt. Als der Leiter der Verwaltung, Fugsan, wegfuhr, überließ er die Erfüllung seiner Pflichten Ilnitskij.
Leider arbeitete er in Norilsk nur für kurze Zeit – bereits Mitte 1952 vermerkte der Vorsitzende der medizinischen Kommission in seiner Personalakte – „ungeeignet für Arbeiten im äußersten Norden wegen chronischer Nephritis“. Norilsk wurde zum letzten ernsthaften Ereignis in seinem stürmischen Leben: danach ging Eduard Karlowitsch Ilnitskij in Rente und zog Anfang der 1960er Jahre nach Charkow um, der Stadt seiner Jugend. Ob er sich wohl oft an Norilsk erinnert hat? Vielleicht. Wenngleich er früher oder später sowieso unbedingt hierher gekommen wäre. Denn genau das ist die Mission von Norilsk – ungewöhnliche und markante Menschen anzuziehen. Eben solche, wie Eduard-Dominik Ilnitskij.
Wl. TOLSTOW
„Sapoljarnaja Prawda“ 1. September 2000, No. 132 (12370)
(Zeitung herausgegeben in Norilsk)