Gebürtig ist Saschenka aus Saratow. Breit fließt hier die Wolga dahin, gibt den Blick auf Flussabschnitte und Flussbiegungen frei. In der Kindheit tummelten sich alle an ihren Ufern. Aber als sie in die Schule kam, gerieten alle Spiele und Vergnügungen in den Hintergrund. Das Mädchen liebte die Schule und das Lernen so sehr, dass die Ferien ohne Lehrer und Lehrbücher für sie die reinste Qual darstellten. An Abenden und Festtagen war sie stets als Organisatorin mit dabei, und die Eltern unterstützten sie in allem, begrüßten ein solches Streben nach Bildung. Saschenkas Vater arbeitete zu der Zeit als Mechaniker auf einem Passagierschiff. Sie erkannte seinen „Roten Schützen“ sogar an der Sirene – einem nicht sehr lauten Basston. Oft lief sie dann zum Ufer, um ihm hinterher zu winken und sich an dem weißgekleideten, schönen Mann zu ergötzen. Damals war der Vater bereits Mitglied der Partei, und jene Menschen, das ist bekannt, waren unfreie: sie gingen dorthin, wohin die Partei sie abberief. Man versetzte ihn als vom großen Wasser aufs Trockene. In Ljadwa gab es eine Mühle von staatlicher Bedeutung. Dorthin schickten sie also den Kommunisten Mjasnikow, um sie zu leiten. Sein Wanderleben endete somit, die Fluss-Seele ließ sich am steilen Ufer nieder. Saschenka und ihre Mutter fuhren oft nach Ljadwa, um den Vater zu besuchen. Diese Siedlung befand sich genau im Zentrum der Deutschen Autonomen Republik. Alle sprachen hier Deutsch, und der ganze Lebensstil gestaltete sich ebenfalls dementsprechend. Damals beendete das Mädchen die siebte Klasse. Es hatte schon seit langem beschlossen, dass es Lehrerin werden wollte; auf einen anderen Gedanke wäre es nie gekommen. Ihre Freundinnen, deutsche Mädchen, suchten ihre Papiere für den Eintritt in die Pädagogische Fachschule in Ljadwa zusammen. Und auch Saschenka beschloss, mit ihnen gemeinsam weiter zu lernen. Aber es gab ein kleines Hindernis: der Unterricht erfolgte in deutscher Sprache. Aber Sascha konnte kein Deutsch. Sie verstand wohl einigermaßen, was die Deutschen redeten, aber sprechen konnte sie die Sprache nicht. Weder lesen noch schreiben. Examen gab es damals nicht, die Aufnahme erfolgte lediglich anhand von Dokumenten. Nachdem der Direktor der Pädagogischen Fachschule, Konrad Konradowitsch Welsch, Sachas Schulbescheinigungen gelesen hatte, sagte er ihr, dass es in Saratow eine ebensolche russische Lehreinrichtung gäbe und dass sie dort studieren sollte. Aber Sascha war nicht von schüchterner Natur und bestand auf ihrem Vorhaben. Warum sollte sie schlechter sein, als die Ljadwinsker Mädchen?
- Hier werde ich lernen, - beharrte Aleksandra. – Ich werde beweisen, dass ich nicht schlechter als andere bin.
Das pädagogische Kollektiv der Schule beschloss die störrische Aleksandra bis zum neuen Jahr dort zu behalten. Wenn sie gut mitkommt, dann soll sie lernen, wenn nicht – kann sie ihre Papiere abholen. Und so wurde es gemacht. Sie bekam einen Platz im Wohnheim und brachte aus Saratow ihre wenigen Mädchensachen mit. Sie war trotzig, aber dabei war ihr selber angst und bange zumute. Sie konnte sich nicht verständigen, kein einziger deutscher Satz fügte sich in ihrem Kopf zusammen. Der Unterricht und die Vorlesungen begannen. Wie ein Tölpel saß Aleksandra da, nicht in der Lage etwas zu lesen oder in ihr Heft zu schreiben. Doch in ihr steckten ein so großer Wunsch und so viel Energie, dass die Lehrkräfte selber anfingen ihr zu helfen. Nach den Vorlesungen rannte sie zum Nachhilfeunterricht in Physik, Geschichte und Geographie. Die Sprache fiel ihr sehr schwer, aber sie lernte trotzdem zusammenhängend sprechen – einzelne Worte fügten sich zu einem Satz zusammen. Es ging mit dem Lesen und Schreiben voran. Der Gang zu den Nachhilfestunden war interessant. Für den Physikunterricht lud der Lehrer Sascha zu sich nach Hause ein. Sie erinnert sich noch an das erste Mal, als sie das Haus betrat. In einem kleinen Zimmer der Wohnung stand ein Konzertflügel. Die Frau des Physiklehrers konnte wunderbar darauf spielen. Saschenka vergaß die Physik und lauschte der ungewohnten Musik und dem Gesang der Hausfrau. Einmal, während des Unterrichts, als sie ins Lehrbuch schaute, summte das Mädchen irgendetwas ganz leise vor sich hin.
- Du singst? – fragte die Ehefrau des Lehrers sie.- Sing etwas. Und Saschenka fing an zu singen ohne sich zu genieren.
- Näh nicht, liebes Mütterlein, am roten Sarafan… Nachdem die Frau aufmerksam zugehört hatte, schlug sie Aleksandra vor, eine Romanze zu singen. Das Mädchen sang die damals bekannte Romanze „Beim Stein“.
- Du sitzt beim Stein danieder und schaust mit Sehnsucht,
Wie traurig das Holz herniederbrennt,
Und wie die helle Flamme mal erglüht
Und mal ganz trostlos erlischt…
Sie sang schlicht und innig. Und die Töne flossen leicht und frei dahin. Verzaubert lauschte ihr die Besitzerin des Flügels.
- Meine Liebe, du gehörst nicht hierher. Du solltest am Konservatorium studieren. Saschenka brach in Lachen aus:
- Was für eine Künstlerin bin ich denn schon? Eine Lehrerin muss auch singen können.
Was dann auch beschlossen wurde. Allerdings nahm sie während ihrer Studienzeit an der pädagogischen Fachschule an allen Feiertagsveranstaltungen und Konzerten teil. Sie begleitete sich selbst auf der Gitarre. Sie konnte auch Balalaika spielen. Doch bei den Deutschen wurde eher auf der Mandoline gespielt – Balalaiken gab es nicht. Was waren das für wunderbare Jahre! Es schien, als ob auch die Zukunft nur Gutes und Schönes bringen würde. Die Unterrichtsstunden, auf denen sie beharrt hatte, und die täglichen Mühen und Anstrengungen waren nicht umsonst gewesen. Aleksandra gehörte zu den besten Studentinnen und legte erfolgreich ihre Zwischenprüfungen ab. Deutsche Mädchen zogen plötzlich gegen sie zu Felde, Neiderinnen, die zum Studieren zu faul waren.
Was macht diese Russin hier? Soll sie doch nach Saratow abhauen.
Sie war bis zu Tränen gekränkt. Sie weinte und wunderte sich:
Weswegen? Sie hatte doch niemandem etwas Böses getan oder gesagt. Die Drohungen der Neiderinnen gingen traurig für diese aus. Die allereifrigsten Mädchen wurden aus der pädagogischen Facheinrichtung disqualifiziert. Und das Studium ging ruhig weiter. Sascha wurde 17. David, einen kleinen unansehnlichen Burschen mit großem Kopf kannte sie schon lange, hatte ihm aber nie Aufmerksamkeit geschenkt. Allerdings konnte er gut lernen. Nach all den Aufregungen und Auseinandersetzungen wurde Aleksandra sowohl von den Lehrkräften, als auch von den Studentinnen respektiert. Auch David begann, sie regelmäßig in ihrem Wohnheim aufzusuchen. Er stammte aus einer armen Bauernfamilie, wo insgesamt zehn Kinder auf den Bänken saßen. Sascha dagegen war ein Stadtkind; sie erzählte viel von Künstlern und von der Oper. Alle hörten ihr interessiert zu, denn viele hatten noch nicht einmal ein Straßenbahn mit eigenen Augen gesehen. Mitunter sang sie Lieder, und alle stimmten in deutscher Sprache mit ein. Besonders freundete sich Sascha mit Anja Weber an – einer netten Deutschen mit leuchtenden Augen. Ihr Gesicht war dicht mit Pockennarben bedeckt. Aber das tat dem jungen Mädchengesicht keinen Abbruch. Allen gefiel ihr bezaubernder Charakter. Den Beginn des letzten Studienjahres feierten alle mit einem Studenten-Abend. Als erster wandte sich David offen an sie:
-Bring mir das Gitarre-Spielen bei. Und dabei blickt er irgendwie finster drein, verfällt in Schweigen und schaut immer nur.
- Irgend so ein Wilder, - entschied Saschenka für sich. – Man muss versuchen ihn zu zähmen. Dann nahm sie die Gitarre zur Hand und sang, den Blick ausdrucksvoll auf David gerichtet:
- Wo sind diese dunklen Nächte,
Als dies die Nachtigall sang,
Wo sind diese braunen Augen,
Wer tröstet sie jetzt?
In ihren Gesang legte sie derart viel Gefühl und Leidenschaft, dass der junge Bursche nicht widerstehen konnte. Er schlug dem Mädchen vor, gemeinsam ins ino zu gehen und anschließend – spazieren zu gehen. So blieben sie das ganze Jahr miteinander befreundet. Schließlich ging das Studium zu Ende. Alle bekamen ihre Zeugnisse über die erhaltene Ausbildung, in denen geschrieben stand, dass sie von diesem Tage an Lehrerinnen der Grundschulklassen an der deutschen Schule wären. Beide bekamen eine Arbeitsstelle zugewiesen.
Aleksandra wurde als Russisch-Lehrerin an die Schule in Wiesenmiller geschickt. Ihre ganze Kraft widmete sie der Arbeit und den Kindern. Und dann bekam sie eine Auszeichnung. Sie wurde Deputierte des Obersten Rats der Deutschen Autonomen Wolga-Republik. Es kam noch mehr Arbeit hinzu – ehrenamtliche und verantwortungsvolle. David kam an eine andere Schule. Aber beide traten in diesem Jahr ins Pädagogische Institut in Engels ein. Saschenka an der Fakultät für Fremdsprachen, David an die Fakultät für Physik- und Mathematik. Was waren das für Jahre! Wie herrlich lebten und studierten sie! Sie konnten sich vor lauter Jugend und Energie kaum lassen. Sie arbeiteten, lernten und waren Freunde. Und erst ein Jahr später beschlossen sie zu heiraten. Sie wandten sich ans Volkskommissariat für Aufklärung der Republik mit der Bitte, sie an ein- und dieselbe Schule zu versetzen. Und so begannen sie zusammen zu arbeiten. Das ist schon lange her. Fast ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen. Im Haus von Aleksandra Michailowna und David Davidowitsch gibt es ein Fotoalbum, indem sich ausschließlich Fotos aus jener Zeit befinden, sowie eine große Anzahl Briefe von Lehrern und Kameradinnen aus dem gleichen Kurs. Über viele Jahre haben sie Briefe erhalten. Man erinnert sich an sie und liebt sie bis heute.
J. Chalejewa
„Land-Leben“ (Suchobusimskoje), 30.09.2000