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Wladimir Birger. Neonazis

Diese Gedanken schrieb Wolodja in einem Brief an Sibyll Saya, ausländisches Mitglied der krasnojarsker Gesellschaft „Memorial“. Der Brief wird mit der freundlichen Genehmigung von Sibyll Saya (Deutschland) veröffentlicht.

Hallo, Sib!

Im Phänomen des Neonazismus liegt schon irgendwie etwas Rätselhaftes. Daß Makaken dieser Art in Deutschland vorhanden sind, kann man noch mit einer gewissen Logik betrachten: bei der sittlich-moralischen Lähmung sind unsere hiesigen, „einheimischen“ Verbrechen in ihrer Größe ja noch als niedlich einzustufen. Bei uns kann man eine ebensolche Logik in der Verehrung Lenins, Stalins, usw. finden. Und natürlich auch bei Iwan IV. (dem Schrecklichen). Daß sich dieser Krankheitserreger besonders in den östlichen Ländern fortpflanzt, ist verständlich: na ja, sowohl das kulturelle und ethische Niveau, als auch jene allgemeine Ungezwungenheit, mit der Kommunismus und Nationalsozialismus ineinander fließen – das ist bei uns genauso wie bei euch.

Aber ich hatte überhaupt keine Ahnung davon, daß im heutigen Ungarn oder Estland Organisationen mit begeisterten Anhängern und Bewunderern Stalins existieren. Vielleicht sind das ja irgendwelche gebrechlichen Alten. Und dort in Charkow, zum Beispiel, deckten sie noch Ende der 1960er Jahre eine Untergrundorganisation der Nazis auf: Schüler der höheren Klasssenstufen und Studenten der höheren Berufsfachschule (für Spezialberufe) von streng proletarischer Herkunft, und an der Spitze – offenbar ein Medizinstudent. Fleißig studierten sie „Mein Kampf“, fertigten für sich Abzeichen mit Hakenkreuzen an und verrieten sich dadurch, daß sie einen der Ihren beinahe zu Tode prügelten, als sich herausstellte, daß er wohl eine jüdische Großmutter hatte. Es ist bezeichnend, daß es keinen Lärm um diese Sache gab, keine zornigen Straf- oder Kampfesreden, ganz zu schweigen von einem Musterprozeß, - nichts dergleichen. Alle Informationen zerstreuten sich auf dem Niveau von Gerüchten.

Aber in den 1970er Jahren (vor allem gegen Ende des Jahrzehnts) wurden in einer ganzen Reihe von Städten (beispielsweise in Irkutsk) bereits völlig legal (d.h. die Miliz jagte die Menschen nicht auseinander, und überhaupt schien es so, als wäre sie überhaupt nicht anwesend) feierliche Prozessionen zum 20. April veranstaltet – mit Hitler-Porträts. Und das waren in erster Linie solche Studenten der Berufsfachschulen. Ich sage dies aber mit einem Vorbehalt, denn mit eigenen Augen habe ich ein derartiges Bild nicht ein einziges Mal gesehen, aber es schien wohl allgemein bekannt zu sein.

Und ab 1990 dann - die „Russische Nationale Vereinigung mit einem gewissen Barkaschow als der Führer (offensichtlich aus dem Kreis-Komitee des Kommunistischen Jugendverbandes). In Moskau wurde diese RNV offiziell eingetragen, und hier bei uns in Krasnojarsk tauchen von Zeit zu Zeit Flugblätter mit ihren eigenartigen „slawischen“ Hakenkreuzen auf (zweifellos ihr eigenes Machwerk). Übrigens, hierbei handelt es sich lediglich um die bekannteste (und größte) Nazi-Organisation – es gibt auch noch genügend andere.

Sofern ich hier nichts durcheinanderbringe, entfalteten sich die Neonazis in den 1980er Jahren in Jugoslawien (und ausgerechnet in Serbien) ebenfalls auf einer ziemlich breiten Basis. Dafür gab es, soweit mir bekannt ist, in Polen bis Ende der 1980er Jahre überhaupt keine Nazisten, und später waren es, wie es scheint, wohl nur „skinis“ (skinheads), wobei es möglicherweise nicht ganz richtig ist, sie mit den „klassischen“ Neonazisten zu identifizieren.

Am meisten hat mich (persönlich) die Tatsache in Erstaunen versetzt, daß in der postsowjetischen Ukraine der Antisemitismus praktisch verschwunden ist, wenngleich ich die Dynamik nicht kenne; möglicherweise ist er bereits in den 1970er und 1980er Jahren zurückgegangen? Ich meine sowohl den alltäglichen, als auch den „politischen“ Antisemitismus. Und in der Ukraine ist praktisch kein (Neo-) Nazismus zu sehen, jedenfalls nicht der, den bei uns wahrnimmt. Die UNSO und ähnliche (ich kann mich nicht an die genaue Bezeichnung erinnern) treibt mit einer quasinazistischen Rhetorik Unfug, aber kriminelle Aktionen ihrer Art haben sie nicht durchgeführt (darüber ist mir nichts bekannt). Ich habe ihre Zeitungen gelesen; dort gibt es eine Menge Schockierendes, aber nichts von dieser finster-erbitterten Wut, von der unsere, d.h. die russischen Zeitungen der verschiedenfarbigsten Faschisten bis an den Rand gefüllt sind, seien es nun „rote“, „schwarze“ oder „braune“. Und sie (in der Ukraine) vermeiden sogar äußerst eifrig irgendwelche antisemitischen Andeutungen.

Und in Moskau gibt es auf jedem beliebigen Bahnhof einen offenen Verkaufsstand mit einer reichen Vielfalt an faschistischer Makulatur, wo die Fieberphantasien über jüdische Verschwörungen den Löwenanteil am Inhalt ausmachen – und an ihrer Spitze das berühmte Blättchen „Al Kods“ (das ist die arabische Bezeichnung für Jerusalem). Bei uns, in der moskauer „Memorial“-Filiale, gibt es so einen Borja Welenkin, er leitet die „Memorial“-Bibliothek, und so kann er, wie irgendein Rauschgiftsüchtiger, nicht ohne solche Makulatur leben. Das ist Sammlerleidenschaft, gebt sie ihm ruhig, diese ganzen Abfallzeitungen! Es versteht sich, daß er sie auf irgendeine Weise systematisiert, analysiert und ganz und gar von Anfang bis Ende studiert. Aber daß er sich dazu ausgerechnet so ein unappetitliches Forschungsobjekt aussuchen mußte!

Bei uns in Rußland (im weitesten Sinne – Rußland als Staat) ist es eine bekannte Tatsache, daß man immer von einem Extrem ins andere fällt. Da fällt mit Gepolter der „Sowdep“ zu Boden, und wir begeistern uns sogleich für den Ultraliberalismus US-amerikanischer Machart. Und überhaupt fallen mir bei uns viele auf, die Rußland (wieder im weitesten Sinne) in ein Amerika umgestalten möchten: „mach Geld oder stirb“, „wenn du schon so schlau bist, warum bist du denn dann so arm“, und ähnliches. Das ist nicht nach meinem Geschmack, ich neige dazu anzunehmen, daß wir aus geschichtlicher Sicht eher Europa sind, und daß wir uns lieber an Europa halten sollten, anstatt uns wie Amerika aufzuspielen, was sowieso nicht sehr gut gelingt. Das heißt, das mit Amerika würde wohl gelingen, aber allenfalls nach dem Stand von 1900, bestenfalls von 1930. Und daß infolgedessen Faschisten und Nazis nicht so ungehemmt in unserer politischen Szene herumspazieren sollen. Diese Meinung vertrat die inzwischen verstorbene Galina Wasiljewna Starowojtowa (Führerin des „Demokratischen Rußland“; Killer ermordeten sie Ende 1998 in Petersburg).

Das ist wohl alles, was ich zu diesem Problemkreis zu sagen habe. Aber was Belenkin betrifft, könnte die Überlegung, so glaube ich, tiefer gehen.

Und was ist schon über die Makaken und Paviane rein vaterländischer Machart groß zu sagen! Nun, was soll man tatsächlich über sie sagen, wenn offiziell, per Ukas des Präsidenten der Russischen Föderation, vor kurzem das Jubiläum des FSB, d.h. faktisch der Tscheka, des NKWD, des MGB, des KGB) begangen wurde! Ist das nicht dasselbe, als wenn sie in Deutschland auf die Idee kämen, Jubiläumsfeierlichkeiten zu Ehren der Gestapo auszurichten? Dabei war das noch nicht einmal eine nazistische Neubildung; sie trat zusammen mit der Republik in Erscheinung (na, wahrscheinlich existierte auch aus der Kaiserzeit so eine Kontinuität?). Und in unserer Region wurde vor zwei Jahren offiziell der 60. Jahrestag des KrasLag begangen, zwar ohne großen Pomp und sogar ein wenig verschämt, aber trotzdem. Kannst Du Dir Feierlichkeiten anläßlich, sagen wir mal, der 70-Jahrfeier des Zwangsarbeitslagers Buchenwald vorstellen? Oder Dachau? (Und mit was für schönen Bezeichnungen haben sie die Lager da beschmutzt und besudelt, die gemeinen Lumpen! Genau wie hier bei uns ...)

Überhaupt wundere ich mich, weshalb sie in Deutschland nicht beispielsweise Zigaretten der Marke „Mauthausen“ herstellen, mit einer Abbildung, auf der ein Schornstein zu sehen ist, über dem Rauch aufsteigt? So tragen bei uns die populärsten Papirossi den Namen „Belomorkanal“ („Weißmeer-Kanal“; Anm. d. Übers.) – gibt es bei Euch überhaupt noch Papirossi? Ich rauche sie selbst. Manchmal hatte ich schon die Idee, eine Kampagne auf die Beine zu stellen, z. B. 0,1% der Einnahmen aus dem Verkauf der „Belomorkanal“ als Hilfszahlung ehemaligen Häftlingen des BBL (BelBaltLag) zukommen zu lassen. Aber dazu ist es nicht gekommen, und Kampagnen zu führen – das ist auch nicht mein Profil. Und nun sind ja auch fast keine Leute von damals mehr am Leben. Bei uns haben sie gerade im Frühjahr Jeromenko zu Grabe getragen, der sich vier Jahre lang beim Bau des BBK (Weißmeer-Ostsee-Kanal) dahingeschleppt hat, d.h. im BBL.

Tschüß! Bis dann!
Wlad
2000-04-10


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