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Wladimir Birger. Russi und Wessi

Diese Gedanken schrieb Wolodja in einem Brief an Sibyll Saya, dem ausländischen Mitglied der krasnojarsker Gesellschaft „Memorial“, nieder. Dieser Brief wird hier mit der freundlichen Genehmigung von Sibyll Saya (Deutschland) veröffentlicht.

Schon längst wollte ich meine Kommentare zu dem mir übersandten Artikel „Wessi und Russi“ abgeben, aber irgendwie ist es nicht dazu gekommen. Dieser Chmelnizkij hat eine sehr interessante, und vielleicht sogar ziemlich wichtige, Frage aufgeworfen, aber es ist nicht einfach, sie zu lösen.

Erstens ist er unverkennbar der falschen Ansicht, daß Stalin den Begriff „Nationalitäten“ erfunden hat. Das Sowjet-Regime hätte überhaupt nicht fortbestehen können, wenn nicht die Bolschewiken die demonstrative (wenn auch nur scheinbare) „Demontage des Imperiums“ organisiert hätten. Ein einfaches Beispiel: bis 1937 gab es in der Atschinsker Fachschule für Pädagogik eine ... lettische Abteilung. Und in Kansk – eine estische. Bereits in den 1920er Jahren existierte in der UdSSR der verbreitete Begriff „Nazmin“ – und in der Tat war das die Abkürzung für „nationale Minderheit“. Und wieviel Führungspersonal mußte Moskau in Kasan und Ufa auswechseln, bis es endlich gelungen war, die Bemühungen (der kommunistischen Oberschicht! – aber offensichtlich auch der hinreichend breiten Massen) zur Umgestaltung Tatarstans und Baschkiriens in Unions- (und nicht in autonome) Republiken zu unterdrücken! Das nannte sich dann „Kampf gegen den bourgeoisen Nationalismus“. Und dann das, was da Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre in der Ukraine vor sich ging, als die Kommunisten die ganze Blüte der ukrainischen schöpferischen Intelligenz (deren überwiegende Mehrheit dem bolschewistischen Regime gegenüber völlig loyal gestimmt war) entweder vernichteten oder in Konzentrationslager warfen.

Ethnos (Nationalitätentum, Völker, Nationen) – das sind die natürlichen Bestandteile, auf deren Basis die gesamte Menschheit aufgebaut ist. Aber sie treten nicht für jeden sichtbar zutage, so lange die Menschheit sich nicht ihrer Gesamtheit, ihrer Einheitlichkeit bewußt wird. Vielleicht ist das so eine Art Dialektik. Es ist eine der Stufen der Homöostase (des Gleichgewichts; Anm. d. Übers.), und so lange sich das Ethnos nicht in seiner Existenz bedroht fühlt, kann es sich auch nicht als Ethnos im eigentlichen Sinne zeigen. Warum war Gumiljow so überzeugt von der Schlüsselbedeutung des Ethnos? Er hatte sich an seinem Funktionieren im Lager, hinter Stacheldraht, unter dem Druck des Zwangsarbeitssystems sattgesehen.

Worin wird die ethnische Zugehörigkeit deutlich? Letztendlich, so nehme ich an, ist es wohl das Selbstbewußtsein. Es kommt jedoch vor, daß es dieses Selbstbewußtsein gar nicht gibt. Dazu etwas aus meiner eigenen Praxis: da kommt ein Mensch daher, der aus irgendeinem Dorf, sagen wir mal, des Bolschemurtinsker Kreises stammt. Ich frage ihn: Ist ihre Familie russisch oder weißrussisch oder polnisch? Der Mann denkt nach, und dann sagt er: „In meinem Paß steht russisch“, dann denkt er noch einmal nach und meint, daß sein Vater und seine Mutter aus der Region Minsk nach Sibirien gekommen sind. Dann sind sie also vermutlich Weißrussen? Dann frage ich, ob sie Rechtgläubige oder Katholiken oder ähnliches sind. Mit der Sprache unter (spät-) sowjetischen Bedingungen ist alles derart kompliziert. daß die hervorstechenden Eigenschaften eines sibirischen Polen das Fehlen seiner Vorstellungskraft von der polnischen Sprache sind. Wenn jemand aus Polen nach Krasnojarsk kommt und anfängt, sich darüber zu wundern, woher ich so gut Polnisch sprechen kann, dann erkläre ich ihm dies ganz einfach:“Ich bin kein Pole!“

Jedenfalls läßt sich mit Gewißheit eines sagen: die sowjetische und auch postsowjetische ethnische Situation und Psychologie mit den heutigen europäischen Maßstäben zu messen, ist ganz deutlich nicht adäquat. Sie entsteht unter ganz anderen Gegebenheiten und ist von ganz anderen Faktoren abhängig. Wenn Eltern im Verlaufe eines halben Jahrhunderts bemüht sind, ihre ethnische Zugehörigkeit vor ihren Kindern zu verbergen, was soll man da noch sagen? Und überhaupt ist hier ein formelles Herangehen in begrenztem Umfang angebracht, und wahrscheinlich auch nur innerhalb der Grenzen der Rechtssphäre, aber die Sozialpolitik läßt sich auf sie wohl nicht zurückführen? Entschuldige dieses völlig banale, jedoch äußerst anschauliche Beispiel: natürlich ist Aki vom rechtlichen Standpunkt gesehen Deutscher, aber deswegen hört er doch nicht plötzlich auf Japaner zu sein!

Andererseits halten sich die Österreicher eben für Österreicher, obwohl der sprachliche und kulturelle Unterschied zwischen Österreich und Bayern deutlich geringer ist, als zwischen dem Süden und Norden Deutschlands. Weshalb? Nun – das hat sich im Laufe der Geschichte so herausgebildet.

Ich maße mir nicht an, ein Urteil darüber abzugeben, zu welchem Ethnos die Rußland-Deutschen (genauer gesagt – die russisch-ukrainischen Deutschen) hinzugerechnet werden müssen. Aber eines weiß ich: die Ukraine-Deutschen unterscheiden sich von den Wolga-Deutschen ganz erheblich. Ich würde sagen, daß sie den Ukrainern ähnlicher sind, als die (durchschnittlichen) Ukrainer selbst. Wahrscheinlich müßte man sie richtiger zu den ethnischen Untergruppen zählen. Und es gibt auch noch die Petersburger Deutschen, die Omsker, die aus dem Altai – das sind alles wiederholte Umsiedler. Ich neige zu der Annahme, daß das gemeinsame historische Schicksal die Rußland-Ukraine-Deutschen als einheitliches Ethnos (Volk, Nation?) geschaffen hat: der Terror und die Deportationen der 1930er bis 1950er Jahre. Aber entscheidend wäre hier ihre eigene Meinung dazu – nur wo ist sie?

Zum Schluß des Artikels äußert Chmelnizkij, vollkommen gerechtfertigt, sein Befremden im Hinblick auf die Emigranten-„Kontingente“ (und das Benehmen einiger von ihnen). Aber worin unterscheiden sie sich von den „Repatrianten“, die eine besondere Behandlung auf Grundlage dessen verlangen, daß sie als Deutsche registriert sind? Es bleibt sich gleich, ganz zu schweigen davon, daß von den russisch-ukrainischen Deutschen – auch nicht jeder ein grenzenlose Kämpfer gegen den Kommunismus ist. Im übrigen ist das aber wohl nicht so ein Fall, wo es angebracht wäre, eine Lustration in die Wege zu leiten.

 

19. November 2000


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