Unsere Republik an der Wolga wurde gewaltsam liquidiert – aufgrund völlig aus der Luft gegriffener Vorwände und unter gröbster Verletzung der in der Verfassung festgelegten Normen. Die Umsiedlung und das Sich-Einleben und Sich-Zurechtfinden an den neuen Wohnorten verlief unter schwierigen Bedingungen. Wenn es auch nicht immer so war, aber es kam doch vor, dass die ortsansässigen sibirischen Bewohner uns, den deportierten Sowjet-Deutschen mit unverhüllter Feindseligkeit begegneten. Auch von uns Kindern wurde diese Feindschaft von Zeit zu Zeit bemerkt. Und wir konnten nicht damit rechnen, dass Wohnraum, Verpflegung, medizinische Hilfe für uns sichergestellt waren. Viele der Umsiedler hausten in Erdhütten, Kellern und an anderen Orten, die zum Wohnen wenig geeignet waren. Ein Gedanke, von dem man ständig verfolgt wurde, war das Essen. Alle ernährten sich von dem, was sie auftreiben konnten: Berufstätige erhielten ihre Ration, und diejenigen, welche nicht arbeiteten, waren dem Hungerdasein ausgeliefert.
Die Menschen waren vom ersten Schock noch nicht wieder zu sich gekommen, als auch schon der zweite auf sie zukam. Am 10.Januar 1942 kam die Verordnung des Staatlichen Komitees für Verteidigung „Über die Mobilisierung der deutschen Männer in die Trudarmee“ heraus, an die man sich bis heute nicht ohne Schaudern zurückerinnern kann. Aus den mobilisierten Deutschen wurden Arbeitstrupps in Lagern zusammengestellt, die in den Zuständigkeitsbereich des NKWD fielen. Wie wir heute wissen, unterschieden sich die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Lagern nicht von denen der faschistischen Konzentrationslager, sondern übertrafen diese nicht selten sogar noch an Grausamkeit.
Und bald kam ein neues Elend heran – die totale Mobilisierung deutscher Frauen im Alter zwischen 18 und 45 Jahren. Die Arbeitsarmisten arbeiteten und wohnten zusammen mit Gefangenen unter ständiger Bewachung. Für die Häftlinge war es sogar etwas leichter – sie wurden durch den Staat versorgt, sie bekamen bessere Verpflegung. Aber die Trudarmisten mussten ihren Lebensunterhalt selber, durch die Kraft ihrer Arbeit, bestreiten.
Die deutschen Umsiedler und Trudarmisten waren dem Untergang ausgesetzt; im Grunde genommen wurde die gebildete, fleißige und gesetzestreue deutsche Nation des Landes, der damaligen UdSSR, vernichtet. Die Sowjet-Deutschen verloren unwiderruflich das ihnen vertraute Dach über dem Kopf und ihren nach und nach durch schwere Arbeit angeschafften Besitz, sie büßten nach und nach ihre nationalen Traditionen, ihre Kultur und Sprache ein. Aber auch in diesem Schrecken, in dieser demütigenden Situation, haben wir, die Russland-Deutschen, unser nationales Selbstbewusstsein, unsere Mentalität nicht verloren. Diejenigen, die diesen stalinistischen, kommunistischen, todbringenden Fleischwolf überlebten, haben sich bemüht, ihren Kinder die typischen nationalen Merkmale, ihren Intellekt weiterzuvermitteln. Deutschland zeigte öffentliche Reue vor der Menschheit wegen seines damaligen faschistischen Aufbaus und des im Zweiten Weltkrieg verursachten Elends. Wie wir wissen, versucht das Land nach allen verfügbaren Kräften und Möglichkeiten den betroffenen Russland-Deutschen Hilfe zu leisten. Aber leider hat sich die Kommunistische Partei für die Taten ihrer vorherigen Leitung nicht reuig gezeigt, welche zur Vernichtung des deutschen Volkes in Russland durch bestialische Methoden führten. Jedenfalls habe ich bislang keine Aussagen der heutigen kommunistischen Führer zu diesem Anlass vernommen, aber vielleicht tun sie ja auch nur so, als ob die vorangegangenen Verbrechen sie überhaupt nichts angehen. Und auch in den oberen Machtetagen sind keine konsequenten Aktionen zu sehen, die sich auf die vollständige Rehabilitierung der Russland-Deutschen richten, keine Bemühungen – selbst wenn es noch nach so vielen Jahren ist – die Sünden von damals einzusehen und einem ganzen Volk zu helfen. Speziell eine Frage sollten sie aufgreifen: bis heute hat man nicht über ein verbindliches Programm für die Behandlung ehemaliger Trudarmisten nachgedacht, die in den Lagern ihre Gesundheit verloren haben.
Mit Schrecken erinnere ich mich daran, was ich im Alter von 9 Jahren, zusammen mit meiner Mama, im Arbeitslager in Workuta durchmachen musste. Kinder durfte man nicht mitnehmen; mich versteckte man in einer Kiste, und so kam ich mit allen anderen, nach einer Fahrt im Viehwaggon, in Workuta an. Dort wurden die Frauen in Baracken untergebracht, die zuvor von Gefangenen geräumt worden waren. In der ersten Zeit musste ich mich noch im Verborgenen halten, aber später schenkten Lagerleitung und Wachen uns, den Kindern, schon keine Aufmerksamkeit mehr. In den Listen befanden wir uns nicht, deswegen war für uns auch keine Essration vorgesehen. Als ob wir überhaupt nicht existierten; und da das nun einmal so war – brauchte sich die Lagerleitung auch nicht um die Sorgen und Probleme der Kinder kümmern. Aus den Baracken kamen wir Kinder monatelang nicht heraus, denn wir hatten keine Kleidung; außerdem wollten wir der Obrigkeit auch nicht unter die Augen kommen. In unserer Baracke gab es fünf solcher Kinder wie mich; im Winter heizten wir die Öfen an – zum Glück gab es Kohle, halfen die Baracke saubermachen, pflegten die zahlreichen Kranken. Der alle menschlichen Kräfte übersteigende Arbeitstag in der Trudarmee betrug 12 Stunden, es gab nur eine spärliche Essensration, die Leute hatten ständig Hunger, in den Baracken herrschte eine furchtbare Enge. Baden konnten wir nur äußerst selten, und ein wahres Elend waren die Läuse; die Menschen konnten ihnen einfach nicht entrinnen. Unter den Bedingungen des hohen Nordens fehlte es selbst an einfachster Kleidung, ganz zu schweigen von warmen Sachen; die Leute zogen sich Erfrierungen zu, erkälteten sich, erfroren. Und so erfuhren die Menschen täglich nicht nur unerträgliche körperliche Qualen, sondern auch seelische Demütigungen, Hohn und Spott von Seiten der Wachleute.
Zu dieser Zeit war meine Mama 25 Jahre alt. Sie war eine schöne Frau. Sie aß ihre Essensration nie ganz auf, sondern fütterte mich auch noch damit durch. Auch die anderen Frauen teilten mit ihren Kindern. Wir schliefen viel, damit wir nur nicht andauernd essen wollten. Anfang 1945 brachte Mama mein Schwesterchen zur Welt und brachte es irgendwie fertig uns zu ernähren. Das Schwesterchen bekam ausschließlich Muttermilch, ein andere Nahrung kannte sie nicht. Auch andere Frauen bekamen Kinder, aber die Kleinen starben meistens kurz darauf. Als mein Schwesterchen ein Jahr alt war, wurde Mama aus der Trudarmee entlassen. Aber man händigte ihr lediglich eine Bescheinigung darüber aus, dass sie sich in der Trudarmee befunden hatte; kein Geld für unterwegs, keine Lebensmittel – nichts gaben sie ihr mit. Aber wir waren sehr glücklich und froh, dass man uns aus der Hölle entlassen hatte. Nach einjährigem Aufenthalt im Lager erhielt mein Schwesterchen seine Geburtsurkunde; damals wurde sie dann zu einem legalen Menschenkind.
Nicht allen gelang es, die Jahre in der Trudarmee zu überleben, viele kamen ums Leben. Und diejenigen, die zurückkehrten, waren krank, physisch und moralisch zu Krüppeln geworden.
Mit meinen Kinderaugen habe ich das alles gesehen, habe diesen blutigen Fleischwolf am eigenen Leibe erfahren. Das ist für uns, die Russland-Deutschen, eine nicht heilende Wunde. Die unvergesslichen Erinnerungen über Menschen, mit denen ich in so unmenschlichen Verhältnissen Umgang hatte, sind geblieben. Viel Unheil entfiel auf ihr Los – Bitterkeit, Demütigungen, der Verlust von Angehörigen und Nahestehenden. Aber sie fanden gute Worte, trugen den Glauben an Gott in ihren Herzen und die nicht verlöschende Zärtlichkeit gegenüber ihren Kindern.
Wenn ich das Gotteshaus der katholischen Kirche besuche, dann bete ich dort und bringe frische Blumen mit, die die am Gedenkstein zu Ehren der Opfer der politischen Repressionen niederlege - für diejenigen, die nicht zurückgekehrt sind, die nicht mehr leben, die für immer in den Lagerzonen geblieben sind, die gewaltsame Aussiedlung, Sonderansiedlung und Trudarmee am eigenen Leib erfahren mussten.
Möge man ihrer ewig gedenken!
Jurij Knels, Rentner
Sibirische Zeitung plus N° 8 (26), 8/2000 (Zeitung wird in Nowosibirsk
herausgegeben