In der vorherigen Geschichte („Sibirische Zeitung plus“No. 8. 2000) habe ich geschrieben, daß ich die Verbindung mit meinem Vetter Rudolf Mitelmaier, der im Alter von 15 Jahren in die Arbeitsarmee geriet, verloren hatte. Hurra! Durch langes „Klopfen“ habe ich mir Eintritt verschafft – ich bin zu ihm vorgedrungen! Er hat in Form eines warmherzigen Briefes ein Lebenszeichen von sich gegeben.. 30 Jahre haben wir uns nicht gesehen. Nach dem Verlust seiner beiden Söhne ging er nach Kaliningrad, anschließend nach Saransk und dann nach Nischnij Nowgorod. Uns überall arbeitete, arbeitete und arbeitete er und war dabei leider schonungslos gegen sich selbst. Jetzt ist er Invalide 2. Grades. Er überstand zwei Herzinfarkte und ... arbeitet schon wieder im Garten – im Gemüsegarten. Er ist zum zweiten Mal verheiratet, das Schicksal hat ihm erneut die Freude des Umgangs mit Kindern geschenkt – den Enkelkindern seiner Frau.
Aber erzählen will ich von meinem anderen Vetter – dem Sohn von Tante Lida. Es war der erste Enkel von Oma und Opa Resch, den man zu Ehren des Großvaters Georgij nannte. Seine Mutter war Deutsche, der Vater – der Pole Roman Saranek. Deshalb gingen sie nicht mit uns zusammen in die Verbannung ... Ihr Schicksal verlief ganz anders. Wir nannten den kleinen Georgij Schorschik. Nach Schorschik wurde unsere älteste Kusine Irina geboren. Das Eheleben der Saraneks ging nicht gut, sie ließen sich scheiden. Tante Lida kehrte mit zwei kleinen Kindern zu den Eltern zurück. Ich kann mich an Ira und Schorschik am Vorabend des Kriegsausbruchs erinnern.
Ira war oft bei uns, ging mit mir spazieren und führte Schlitten-Kutschen. Sie war ein außerordentlich fröhlicher Mensch, ihr Lachen war ansteckend und sie verstand es prima, irgendwelche Sachen auszuhecken.
Schorschik war eher ernst, schweigsam, aufmerksam. Sie wohnten bei der Oma und Tante Marusja in der Gornaja-Straße, wohin mich die Eltern ab und an brachten. Einmal, im Sommer (es war wohl im Jahr 1940), kam eine ungewöhnlich traurige Irina zu uns auf die Datscha. Sie sagte zu mir: „Morgen gehen wir zur Eisenbahnlinie und schauen zu, wie Schorschik zur Armee abfährt“. Es stellte sich heraus, daß sie sich den Abend zuvor gezankt hatten, und sie ihn nicht begleiten wollte. Als ich mich am nächsten Tag mit ihr dem Bahnkörper näherte, zeigte sich tatsächlich von rechts Rauch und es erscholl das durchdringende Pfeifen einer Lokomotive. Ein Zug näherte sich. Ira legte ihre Handflächen an die Wangen und schrie laut: „Schorschik! Schorschik!“ Auch ich fing an fröhlich zu werden und laut zu rufen. Die Waggons besaßen keine Fensterchen. Plötzlich wurde auf der linken Seite eines der Waggons eine grünliche Klappe geöffnet, und aus der Öffnung wurde eine Hand herausgehalten, die uns zuwinkte. Der Zug jagte davon ... Weder ich noch Irina sahen unseren älteren Bruder jemals wieder. Und Schorsch begab sich in den Ural, an die Tscheljabinsker Panzerfachschule, von wo er später direkt an die Front abberufen wurde.
Im Jahre 1943 fuhr er von der Front auf einen kurzen Heimaturlaub zur Mutter nach Saratow. An seiner Brust prangten Orden und Medaillen. Im Frühjahr 1945, beim Heranrücken auf Berlin, kam er in seinem eigenen Panzer ums Leben. So kurz hat er gelebt, so jung war er – einer von vielen, vielen, denen das Leben genommen wurde. Ich kann nicht sagen, daß er sein Leben „gegeben“ hat, weil dem Menschen normalerweise nichts lieber ist als seine Ehre und sein Leben. Als die schwarze Nachricht vom Tode Schorschiks bis in das Dorf Kamenuschka durchgedrungen war, weinte Großmutter Margarita Christoforowna erneut lange und still vor sich hin und betete. Ihr Schwiegersöhne, meine Onkel Ljowa und Jura Lopato, waren bereits gestorben – und nun das dritte Opfer – der erste Enkel, so jung an Jahren, der noch gar nicht erfahren hatte, was Liebe ist ... Schorschs Schwester Irina arbeitete und lernte in den Kriegsjahren an der Abendschule, und zuvor auch an der Musikschule.
Als sie sich nach dem Krieg auf der Krim wiederfand, beendete sie das Technikum für Justiz. Ihr Ehemann, ein Jurist, erhielt einen Arbeitsauftrag für die Gebietsstaatsanwaltschaft in Barnaul. Offenbar unweit von Nowosibirsk, wo wir, die Sonderzwangsumsiedler, samt unseren Verwandten in der Siedlung Juschnij lebten, aber wir begegneten uns erst, als die Familie Tschewskij über Nowosibirsk nach Moskau wegfuhr, an Iwan Tschewskijs neuen Arbeitsplatz. Damals trafen wir auch zum ersten Mal nach der Trennung im Jahre 1941 auf Irina. Alle waren so glüclich sich wieder zu sehen und zu hören, vor allem die Großmutter. Wir standen immer noch unter Meldepflicht bei der Kommandantur, und, das muß man sagen, der Parteiangehörige und Staatsanwalt Iwan Tschewskij bewies Zivilcourage, indem er auf dem Weg nach Moskau in der „deutschen“ Baracke haltmachte, wo jeder Fremde sofort von geheimen Mitarbeitern ins Visier genommen und „unanständige“ Gespräche belauscht wurden.
Das gesamte weitere Leben der Familie Tschewskij vollzog sich in Moskau. Irina arbeitete sowohl als musikalische Mitarbeiterin im Kindergarten, als auch als Juristin, sie wurde sogar zur Deputierten des Kreis-Sowjet gewählt. Oft denkt sie mit Schmerz daran zurück, daß sie sich damals aufgrund ihrer Jugend und Unreife nicht vom Bruder verabschiedet hatte, bevor er zur Armee ging, und das Schicksal sie dann für immer voneinander trennte.
„Trennt euch nicht von denen, die ihr liebt, trennt euch nicht, von denen, die ihr liebt, geht nicht auseinader, und verabschiedet euch jedesmal so, als wäre es ein Abschied für immer, auch wenn ihr nur für einen Moment fortgeht“ – diese Gedichtzeilen des Poeten Kotschetkow las ich viel später.
Wir wissen nicht, wo Schorschs Asche ruht. Irina wurde vor zwei Jahren neben ihrer Mutter auf dem Kotljakowsker Friedhof beigesetzt, der traurige Berühmtheit erlangte.
In diesem Jahr hatte ich das Glück in Moskau zu sein und ihre Asche anzubeten. Wie schon früher, als ich ab 1964, regelmäßig geschäftlich nach Moskau kam, wurde ich vom Schwiegersohn Iwan Dmitrijewitsch Tschewskij und Irinas Sohn Aleksander Iwanowitsch Tschewskij, der heute als Leiter der musikalischen Abteilung am Mossowjet-Theater tätig ist, warm und freundlich willkommen geheißen. Ich lernte Saschina, die kleine Tochter Daschas, kennen, die ein wenig präzisierte: „Sie sind aus dem Land Sibirien gekommen?“ Ich hoffe sehr, daß Dascha inzwischen schon in dem Land lebt, wo Sibirien nur noch in der Erinnerung die Verbannten-Region für „Volksfeinde“ bleibt.
Ich habe zwei wie ein Dreieck gefaltete Feldpost-Briefe aufbewahrt, die Schorsch von der Front schickte und die Irina mir aushändigte. Ich werde sie an meine Kinder weitergeben. Bewahrt sie auf! Und dann habe ich auch noch eine Fotografie von Schorsch. Er hat die Heimat verteidigt. Behaltet ihn in Erinnerung.
Ljudmila Bajandina-Gisinger
Sibirsche Zeitung plus No. 1 (31) 1/2001 (Zeitung, herausgegeben in
Nowosibirsk)