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Rückkehr eines Residenten

... Georgij Schschenow betrat den Saal mit federndem Gang. 85 Jahre sollte er alt sein? Dieser stattliche, elegante Mann? Kaum zu glauben! Man bekam bereits den Vorgeschmack auf ein höchst interessantes Interview. Aber dazu kam es nicht: das Alter gab sich doch zu erkennen. Aber aufgrund einer glücklichen Vorsorgemaßnahme gelang es uns, das, was G.S. Schschenow auf dem schöpferischen Abend im College für Kunst von sich gab, aufzuzeichnen.

Liebe

- Petersburg. Das „Kresty“-Gefängnis. Hier bin ich bereits das zweite Jahr eingesperrt. Ein Mann, der ein sehr schweres Ermittlungsverfahren durchgemacht hat und „zur Konservierung“ ins Gefängnis geworfen wurde: der Staat weiß nicht, was er mit mir machen soll. Und so fanden wir uns im Gefängnis wieder ... Damit Ihnen die Situation klar wird, stellen Sie sich doch einmal vor, daß in einer Einzelzelle mehr als 20 Mann eingepfercht waren. Das Gefängnis „war randvoll“. Es war völlig überfüllt mit meinesgleichen – Untersuchungsgefangene, die auf ihr Urteil warteten.

Dies war eine ungewisse Zeit im Leben des Staates. Der 2. Weltkrieg war bereits am Heranreifen, aber die Unionen und gegnerischen Gruppierungen hatten sich noch nicht engültig formiert. Unter den Gefangenen machten Gespräche die Runde, daß die meisten von uns in die Freiheit „hinausgeworfen“ würden, daß es ein Berufungsverfahren geben, daß man die ursprünglichen Gerichtsentscheide aus den bisherigen Ermittlungen fallen lassen würde, usw. Einmal ließ man mich zum Gefängnisarzt kommen. Die üppige junge Frau mit den vollem, rötlich-kastanienbraunem Haar machte auf mich, der ich im Grunde genommen ja noch ein Junge war, einen bewundernswerten Eindruck. Danach träumte ich fast jede Nacht von ihr.

Sie rief mich zu sich und sagt: „Na, nun zeig mal, wo du Verstümmelungen, Knochenbrüche, Quetschungen, blaue Flecke und ähnliches hast“. Ich sage: „Doktor, Sie suchen den gestrigen Tag. Wenn Sie sich für die Folgen des Ermittlungsverfahrens interessieren, dann hätten Sie mich mindestens ein Jahr früher zu sich bestellen müssen. Und jetzt ist bei mir, Gott sei Dank, alles so, wie bei einem Hund – alles verheilt und vernarbt“. – „Du solltest keinen Verdruß darüber empfinden! Vielleicht sitzen diejenigen, die dich geschlagen haben, bereits selbst“. Ich sage: „ Aber dadurch wird es für mich nicht leichter“. - „Unsinn, du bist ein junger Mann; bekommst höchstens fünf Jahre, fährst nach Kamtschatka. Dort wachseln Apfelsinen“. – Na, Doktor, vielen Dank für Ihre Menschenfreundlichkeit“.

Nach dieser unerwarteten Vorladung zum Arzt keimte die Hoffnung auf. Irgendwo in der Ferne tauchte die Freiheit auf. Und eines schönen Tages stürzte alles in sich zusammen. Die zentralen Zeitungen der Sowjetunion kamen mit Fotografien heraus, auf denen Molotow Ribbentrop die Hand schüttelte. Das Bündnis mit Deutschland hatte endlich Gestalt angenommen. Unmittelbar darauf wurden die Gefängnisse „entladen“, in dem man die Hälfte der Häftlinge in Lager verbrachte.

Vor dem Gefangenentransport erlitt einer der Männer in unserer Zelle unerwartet einen epileptischen Anfall. Wir versuchten ihm selbst zu helfen, steckten ihm einen hölzernen Löffel zwischen die Zähne, damit er sich nicht die Zunge abbiß, und hämmerten in dieser Zeit an die Zellentür und riefen um Hilfe. Endlich kommt sie, meine Göttin: „Na Jungs, was ist denn bei euch passiert?“ – „Dem da geht es nicht gut“. Sie beugte sich über den Kranken, während ich auf der hölzernen Liegestelle saß und Verse vor mich hin murmelte. Die Göttin hörte das: „ Oh, Poet, du liest Gedichtlein? Weiter – lies weiter“. – „Wie soll ich es denn lesen – mit viel Ausdruck?“ – „Ja, lies ausdrucksvoll“. Und ich begann zu lesen:

Trunken von Liebe und Leidenschaft ...

Sie fragte: „Sag bloß, das hast du geschrieben?!“ – Ja, zusammen mit Puschkin“. „Na, dann ist es ja gut, lies noch ein wenig weiter!“

Da sagte ich: „Das nächste Mal, wenn Sie herkommen, werde ich versuchen, extra für Sie ein paar Zeilen zu verfassen“. – „Na, dann sie mal zu, daß du auch daran denkst“. – „Vergessen Sie es auch nicht, Doktor“ – „Was denn? Ich vergesse nie etwas“. – „Sie haben mir bereits im vergangenen Jahr einen Salat aus fein geschnittenem Gemüse, Fleisch, Fisch und Eiern versprochen, als ich mich darüber beklagte, daß vom Skorbut die Zähne ausfallen!“ – „Ihr seid schließlich so viele, und ich bin allein ... Na gut, man wird dir Fischtran bringen. Allerdings ist jetzt Frühling und der Tran verdirbt. Im Herbst wirst du welchen bekommen“. Ich dachte: meine Liebe, du prophezeist mir also, daß ich hier im Frühjahr immer noch sitze ... und im Sommer ... und im Herbst!

Die letzte Begegnung mit dieser üppigen Frau fand statt, nachdem man mich, einen von vielen, zum Gefängnisleiter rief und ein Papier verlas – den Beschluß der Sondersitzung des NKWD der UdSSR, in dem geschrieben stand: „Fünf Jahre Kolyma“.

Als ich aus dem Büro des Gefängnisleiters herauskam, stand meine Schöne vor den Türen der medizinischen Station: „Na, was ist los?“ – „Fünf Jahre, wie sie es vorausgesagt haben. Allerdings nicht Kamtschatka, sondern Kolyma“. – Ach, das macht nichts, dort wachsen auch Apfelsinen“. Sie begab sich in ihr Sprechzimmer, zog aus einem dort auf dem Tischchen stehenden Kamillenstrauß eine Blume heraus und streckte sie mir entgegen: „Nimm sie zur Erinnerung“. Nachdem die Kamille vollkommen schmutzig geworden war, beschloß ich, mit ihr das Ratespiel – ich komme zurück, ... ich komme nicht zurück, ... ich komme zurück – zu spielen ...

Beim letzten Blütenblatt, das ich abriß, lautet auf „ich komme zurück“! Und so habe ich nun heute das Vergnügen, Ihnen von meiner Gefängnisliebe zu erzählen.

Theater

- Für mich nahm der Weg zur Kunst im Zirkus seinen Anfang. 1930-1932 besuchte ich die Leningrader Fachschule für Kleinkunst und Zirkus und arbeitete gleichzeitig als Akrobat im Zirkus. Ausgerechnet von dort geriet ich zum ersten Mal zum Kinofilm.

Danach absolvierte ich ein Studium in der Kino-Abteilung, bei dem bekannten Regisseur Sergej Appolinariewitsch Gerasimow. Aber ich hatte bereits begriffen, daß man im Theater arbeiten muß, um in der Kinematografie Fuß zu fassen. Das Theater gibt, der Kinematograf nimmt. Das Theater gleicht einem Akkumulator, es läd den Schauspieler mit Erfahrung auf, mit Berufswissen, aber der Kinematograf, der Apparat zur Aufnahme und Wiedergabe bewegter Bilder, „entläd“. Und dem Wesen nach ist das ein und diesselbe geheuchelte Kunst.

Nachdem ich das klar erkannt hatte, bersuchte ich, ans Petersburger Theater des jungen Zuhörers zu kommen. Ich wurde angenommen, aber fast unmittelbat darauf (1938) ging es mit den Repressalien los. 1946 kehrte ich aus Kolyma zurück. Und nach einem Jahr saß ich schon wieder in Haft. Ich wurde auf Etappe nach Krasnojarsk, verbrachte einige Monate im jekaterininsker Gefängnis. Ich gelangte nach Norilsk, wo ich dann auch bis zu meiner Rehabilitation lebte. So wurde es in meinem Leben auch nichts mit dem Theater des jungen Zuhörers.

„Pädiatrie“

- In acht Monaten wiederholter Gefängnisaufenthalte hatte ich, ehrlich gesagt, bei meiner Mutter, die mir half so gut sie konnte, Schulden gemacht. Die übrige Verwandtschaft war „geknackt“ worden: sie waren in Lagern umgekommen, wie mein Bruder, von den Deutschen erschossen worden, wie mein anderer Bruder, oder in die Verbannung geraten, wie mein Vater. Daher hatte ich es, als ich in Norilsk ankam, nicht so eilig damit, eine Arbeit am Theater zu finden. Es ist ja bekannt, daß sie einem dort nur einen Hungerlohn zahlen. So war es damals schon, und so ist es geblieben. Selbst die „untersten“ Lehrkräfte bekommen mehr als ein Schauspieler.

Ich trat in den Gewerkschafts-Club ein, leitete dort die Laienspielgruppe und begann mich mit Fotografien zu beschäftigen. Das war eine sehr riskante Sache. Weil ich nämlich formell mit dem durch einen bestimmten Buchstaben gekennzeichneten Vermerk „Spionage“ behaftet war und ein Verfahren wie ein amerikanischer Spion durchlaufen hatte – American spy. Natürlich besaß diese Belletristik überhaupt keinen festen Untergrund, aber das Fotografieren hier in der Verbannung zog die unnötige Aufmerksamkeit der anderen auf mich.

Ich erwies mich als recht fähig in fotografischen Dingen, und schon bald fing man an, mich „Kinder-Fotograf“ zu nennen.. Ich suchte Kindergärten auf und sagte: „Geben Sie mir die Möglichkeit, die Kinderchen zu fotografieren. Über die Ausgaben für Filmmaterial und Papier brauchen Sie sich nicht aufregen!“ Und ich machte von ihnen allen Aufnahmen, wie sie nach meinem Geschmack waren, entwickelte zuhause das,was mir interessant schien, nahm die fertigen Bilder mit in den Kindergarten und meinte: „In einer Woche schaue ich wieder rein“. Für gewöhnlich kamen die Kleinen mir dann schon mit ausgestreckten Ärmchen entgegen gelaufen: „Wo waren Sie denn, die Eltern wollen bei Ihnen bestellen!“ Bei den alten Norilskern gibt es heute noch Spuren meiner damaligen Tätigkeiten. Mitunter schicken die Leute mir sogar Briefe und legen eine JENER Fotografien bei, die ich damals gemacht habe.

Ich lebte sorgenfrei. Eine andere Sache war die, daß ich nicht gern so viel verdienen wollte. Ich brauchte nichts weiter, als mich lebendig fühlen. Die Hoffnung frei zu sein, war zerronnen. Ich lebte, dem Trägheitsgesetz folgend, von einem Tag zum anderen. Der einzige Nutzen jener Zeit war, daß ich endlich meine Schulden an die Menschen zurückzahlte, die mir in schwierigen Zeiten geholfen hatten. Später ging ich ans Norilsker Theater.

Zeitgenossen

- Damals arbeitete hier Kescha Smoktunowskij. So ging es also weiter bis zum Jahr 1946, als ich zu ihm sagte: „Also gut – ich bin eine Verbannten-Fratze, ich kann nirgends hinfahren, aber weshalb sitzt du eigentlich hier?! Dir hat Gott befohlen, auf der großen Bühne zu stehen“. – Schorka, wo soll ich hingehen: ich habe doch kein Geld“. - „Ich werde dir beibringen, wie man zu Geld kommt“.

Ich gab ihm 15.000 Rubel, zeigte ihm, wie man Aufnahmen macht. Zwei Wochen später zahlter er mir die Schulden zurück: „Schorka, sie zahlen!“ – „Du Frechdachs, du kannst doch gar nicht vernünftig fotografieren!“ – „Schorka, sie zahlen trotzdem!“ Ich schrieb Arkadij Rajkin, mit dem ich zusammen am Institut studiert hatte, einen Brief. Ich bat ihn, auf den jungen Schauspieler Smoktunowskij ein Auge zu werfen und ihm in der ersten Zeit ein wenig zu helfen.

Kescha traf sich mit Rajkin. Wie ich später erfuhr, sagte Arkadij ihm: „Nach den Gastspielen fange ich an, am Folgeprogramm zu arbeiten, komm nach Leningrad, ich nehme dich“. Aber Kescha klammerte sich an das Stalingrader Theater hängen, heiratete dort und gelangte nach einer ganzen Reihe von Quälereien nach Moskau, ans Theater des Leninschen Kommunistischen Jugendverbandes, ging dort in seiner Sache völlig auf und wurde ein ganz großer Schauspieler. Und alles hatte in Norilsk angefangen, von wo der ehemalige Kriegsgefangene Innokentij Smoktunowskij sich gefürchtet hatte fortzufahren, weil er nicht das Schicksal der anderen wiederholen wollte, die aus deutscher Gefangenschaft zurückgekehrt waren ...

Endlich frei

- Nach der zweiten Rückkehr aus der Verbannung, fand ich irgendwie leichten Zugang zur Welt des Films. Ich nahm 6-7 Filme gleichzeitig auf und bemühte mich, mich im Theater minimal zu belasten, weil es mir nicht gelungen war, von Leningrad nach Moskau, Odessa, Kiew, Minsk, Mittel-Asien mitzureisen. Ich sparte nicht mit meinen Kräften, war schonungslos gegen mich selbst. Es hatte sogar fast den Anschein, als ob ich mich besser fühlte, je mehr ich arbeitete. Nebenbei bemerkt, ich war nicht so anspruchsvoll, was die Wahl des Szenarios betraf. Manchmal sagte ich mir: „Na ja, das Szenario ist schlecht, der Regisseur ist auch nicht gerade gut, aber ich bemühe mich, mit gutem Gewissen zu arbeiten, damit der Zuhörer keine Steine nach mir wirft“. Heute habe ich begriffen: so geht es nicht. Richtig ist es, wenn der Schauspieler ohne Skrupel zu wissen bekommt, ob es sich für ihn lohnt, daß er sich ausgerechnet zum Mitmachen in diesem Film einverstanden erklärt.

... Dennoch gestaltet sich das Leben des Menschen merkwürdig. Er durchläuft Gefängnisse, Verbannung und Gefangenentransporte – nicht nur einmal, sondern zweimal – und kehrt zurück! Und er befaßt sich auch mit geliebten Dingen! Er bereist die Welt! Er wird eine Berühmtheit, verkehrt mit gekrönten Häuptern (wie anläßlich eines Empfangs bei der englischen Königin Elisabeth II), damit er eines Tages erneut die Orte der Lager und der Verbannung ... als Ehrengast wiedersieht. Auf das Konto des Schauspielers Schschenow gehen hunderte Rollen in Theater und Kino, tausende hoffnungslos in seine Helden verliebte Frauenherzen. Und die abenteuerliche Neigung, die ihm, nach seinem Selbstbekenntnis, in seiner Jugend behilflich war, ruft ihn erneut irgendwohin. Um, zum Beispiel, all das zu beschreiben, was für die Mehrheit der heute noch Lebenden – nur eine abgenutzte, altersschwache Seite weit zurückliegender Geschichte ist.

T. Krylewskaja,
„Sapoljarnaja Prawda“, 20. Oktober 2000,
No. 160 (12398)
(Zeitung, herausgegeben in Norilsk)


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