„Wolga-Wolga, Mutter Wolga ...“ – dieses bedrückende und ergreifende Lied nach Motiven des berühmten Stenka-Rasin-Liedes („Hinter der Insel hervor auf den Strom“) kann man häufig am Gedenk- und Trauertag während der Begegnungen im Nowosibirsker Regionshaus der Rußland-Deutschen hören.
In diesem offenherzigen Bericht, der von Veteranen der Arbeitsarmee gegeben wurde, liegen die Erinnerung und der Schmerz über die unwiderruflich verloren gegangene Heimat an der Wolga, die mit Füßen getretene Jugend, die unerfüllte gebliebenen Hoffnungen und die schwere Last, die auf das Schicksal der Rußland-Deutschen herabfiel.
Kurz vor dem 60. Jahrestag der tragischen Vertreibung der Rußland-Deutschen aus ihrer Heimat verbrachte ich einige Zeit in einer Familie ehemaliger Arbeitsarmisten und Arbeitsveteranen, bei Emmanuel und Elsa Sterkel.
Ich wollte sie und ihre Biografie ein wenig näher kennenlernen, um dann darüber erzählen zu können. Schließlich werden diejenigen Menschen unter uns immer weniger, welche die schweren Zeiten des stalinistischen Genozids durchgemacht haben. Das Ehepaar Sterkel ist eines von vielen, das sich an jene verhängnisvollen Jahre noch gut erinnert und das es verdient hat, dass man ihr wenig leichtes Leben gebührend würdigt. Emmanuel ist Wolga-Deutscher, Elsa stammt von den Krim-Deutschen ab. Beide wurden vor 60 Jahren aus ihrer Heimat vertrieven. Einige Tage vor meinem Besuch feierte Emmanuel Sterkel seinen 75. Geburtstag, seine Frau Elsa ist ein Jahr älter als er. Während unseres Gesprächs bemerkte ich bri diesen kränklichen, betagten Leuten keinerlei Anzeichen von Verwirrung oder Erinnerungslücken. Sie sprechen in ihrem deutschen Dialekt, der mit vielen russischen Worten gespickt ist.
Das Schicksal meinte es so gut mit Emmanuel und Elsa, daß sie sich nach der Vertreibung aus ihren heimatlichen Gefilden und einer schweren Zeit in der Arbeitsarmee in Barnaul begegneten, eine Familie gründeten und jahrzehntelang in der Maschinenbaufabrik „Transmasch“ arbeiteten.
Emmanuel Sterkel gibt etwas genauer Auskunft über sich selbst. 1926 wurde er in dem Steppendorf Hussenbach in eine kinderreiche Bauernfamilie hineingeboren. Nach Beendigung der deutschen Grundschule lernte er Traktorist und arbeitete in der Kolchose „Komintern“ in der Autonomen Republik der Wolga-Deutschen. Der junge Kolchosarbeiter hatte noch nicht sein 16. Lebensjahr vollendet, als der Große Vaterländische Krieg ausbrach.
Auf den Feldern der deutschen Wolga-Republik reifte 1941 eine reiche Ernte heran. Emmanuel war mit dem Einbringen beschäftigt. Plötzlich und ganz unerwartet näherte sich Strekels Erntemaschine ein LKW mit bewaffneten NKWD-Mitarbeitern. Ein Offizier verlangte von den Schnittern, daß sie mit der Arbeit aufhören und ins Dorf fahren sollten.
Unterdessen waren in Hussendorf überall Soldaten eingetroffen, die an verschiedenen Stellen des Ortes Tag und Nacht Wache standen. Wie ein Eimer kaltes Wasser ergoß sich über die Köpfe der Wolga-Deutschen die schreckliche Nachricht von ihrer Zwangsumsiedlung. Von Hand zu Hand wanderte die letzte Ausgabe der deutschen republikanischen Zeitung „Nachrichten“ mit dem Stalinschen Ukas vom 28. September, in dem es hieß, daß es angeblich unter den Wolga-Deutschen eine große Anzahl Diversanten und Spione gäbe, welche auf die deutschen Faschisten warteten.
In Hussenbach herrschte Panik. Es gab ein großes Durcheinander. Die Frauen und Kinder weinten, Hofhunde bellten. Jeder Hausherr sollte sein Vieh in die Mitte des Dorfes bringen, um es an den NKWD-Vorsitzenden abzugeben und es innerhalb der Umzäunung hinter der Kirche zurückzulassen. Es wurden hauptsächlich Schweine und Geflügel beschlagnahmt. Die Kühe im Stall wurden nicht gemolken; sie begannen am zweiten Tag laut zu brüllen. Es war furchtbar, das flehentliche Rufen der Tiere um Hilfe anhören zu müssen.
Alle Dorfbewohner, ob groß oder kleine, Invaliden und Mütter mit Säuglingen, sollten so schnell wie möglich notwendige Kleidungsstücke, Bettzeug und Proviant für den langen Weg nach Sibirien zurechtlegen und vorbereiten. Anschließend stand allen Bewohnern eine Fahrt mit Fuhrwerken zur Eisenbahnstation Anisowka bevor, und von dort mit dem Zug, auf Güterwaggons, durch die mittelasiatischen Republiken der Sowjetunion ins Altai-Gebiet. Ende September erreichte der Zug Slawgorod. Unterwegs waren einige Kinder und Kranke gestorben. Sie wurden jeweils dort begraben, wo der Zug anhielt.
An der Eisenbahnstation Slawgorod wurden die von der Wolga verschleppten Deutschen auf Kolchosen verteilt und mit Leiterwagen in die Dörfer gebracht. Die Familie Sterkel kam in das abgelegene Dorf Werch-Sujetka, wo der Kolchos-Vorstand ihr eine Wohnung in einem leerstehenden Haus verschaffte. Anstelle der in Hussenbach abgegebenen Kuh bekam die Familie Sterkel nun von der Kolchose „Ein Schritt vorwärts“ eine Milchkuh und Mehl. Für den Anfang war das eine einigermaßen gute materielle Hilfe. Für die Familie begann eine neue Lebensetappe in dem russischen Dörfchen. Emmanuel und sein Vater arbeiteten in der Kolchose auf Basis von Tagesarbeitseinheiten, bis sie Anfang 1942 in die Arbeitsarmee mobilisiert wurden. Der Vater geriet in ein NKWD-Lager im Nord-Ural, wo besonders schwere Arbeitsbedingungen herrschten und sie eine schlechte Verpflegung bekamen. In den ersten Monaten schrieb er darüber noch Briefe nach Hause. Aber Anfang 1943 kam von einem seiner Leidensgenossen die Mitteilung, daß er an Hunger gestorben war.
Emmanuel selbst kam nach der Mobilisierung nach Barnaul, wo man ihn in der neu gegründeten „Transmasch“-Fabrik als Hilfsarbeiter einstellte. Zu jener Zeit gab es in der Stadt noch keine elektrischen Transportmöglichkeiten. Auf einem zweirädrigen Karren beförderte Emmanuel die Geschäftsführer und Angestellten des Werkes. Ebenso wie alle Rußland-Deutschen befand sich Sterkel unter der Aufsicht der Kommandantur und mußte sich dort regelmäßig melden und registrieren lassen. Er lebte zusammen mit anderen deutschen Arbeitsarmisten, die bei „Transmasch“ arbeiteten, in einer Baracke. 1944 wurde der Fuhrmann Sterkel in die Gießerei versetzt, wo er als Metallschneider arbeitete. Die aus Aluminium gegossenen Werksstücke mußten mit einer mechanischen Säge zerschnitten werden. Innerhalb kurzer Zeit hatte sich Sterkel diese schmutzige Arbeit zueigen gemacht und übererfüllte regelmäßig die Tagesnorm.
Sterkels Fleiß, Geschick und Pünktlichkeit blieben in der Gießerei nicht unbemerkt. Sein Porträt hing Monat für Monat an der Ehrentafel der Produktionsbestarbeiter. Die Fabrikzeitung „Für die Heimat“ veröffentlichte sein Foto, begleitet mit den Worten: „Der Beste seines Fachs – nehmt ihn als Vorbild.“
In den fünfundvierzig Jahren beispielhafter Arbeit in der Gießerei der Barnauler „Transmasch“-Fabrik verdiente sich Emmanuel Sterkel dutzende von Medaillen, Ehrenurkunden und Prämien.
Die Unterhaltung mit Emmanuel Sterkel ging dem Ende entgegen. Seine Ehefrau Elsa, die ebenfalls 30 Jahre lang in derselben Gießerei tätig war, fügte von Zeit zu Zeit ein Wörtchen hinzu. Auf meine Frage, wie ihre Familie denn in unserer nicht gerade leichten Zeit lebe, antwortete sie: „Unser langes, schwieriges Leben war nie mit Zank und Zwistigkeiten überschüttet. Als Emmanuel und ich vor 50 Jahren heirateten, bewohnten wir ein kleines Zimmerchen in der Baracke. Erst nach der Geburt unseres dritten Kindes erhielten wir eine Zweizimmer-Wohnung, in der wir auch heute noch leben.
Es kostete uns viel Kraft drei Kinder großzuziehen, wir konnten kaum mit dem Geld auskommen. Als mein Mann das Rentenalter erreichte, gab er seine Arbeit nicht auf, sondern blieb noch weitere zehn Jahre tätig, um so für das Familienbudjet noch ein wenig zu seiner spärlichen Rente hinzuzuverdienen. Und heute, bei der stetigen Inflation und den unerschwinglichen Preisen, reicht unsere Rente gerade für ein bescheidenes Leben. Außerdem bin ich herzkrank und leide an Diabetes. Mein Mann hat bereits zwei Herzinfarkte überstanden und ist an Silikose erkrankt. Es ist gut, daß meine Schwester uns aus Deutschland die notwendigen Medikamente schickt. Sie lädt uns nach Deutschland ein. Aber wir können uns nicht dazu entschließen, weil unsere Kinder in Mischehen leben und kein Deutsch können. So sind wir mit dem zufrieden, was wir haben“.
Sibirische Zeitung plus No. 10 (40) 10/2001
(Zeitung, herausgegeben in Nowosibirsk)