Die Familie Stumpf, die in dem Dorf Altwarenburg im Gebiet Saratow lebte, wußte, welches Schicksal sie erwartete. Mit den ersten Tagen des Großen Vaterländischen Krieges begann die Aussiedlung der deutschen Familien. Ohne Ausnahme wurden alle Vertreter der deutschen Nationalität, die bereits seit Jahrhunderten in Rußland lebten, plötzlich für vogelfrei und zu Feinden eben jenes Landes erklärt, dessen Staatsbürger sie waren.
Die Erinnerung an jene Jahre schmerzt mich sehr, - begann Georgij Georgiewitsch Stumpf seine Erzählung. – Heutzutage ist es bestimmt schwierig, sich all die Qualen und Leiden vorzustellen, die wir damals durchmachen mußten. Ich kann mit voller Überzeugung sagen, daß alle Rußland-Deutschen damals viele Demütigungen und großes Leid ertragen mußten – und dazu noch ganz unverdient. Tausende Familien, die von den grausamsten Repressions-maßnahmen betroffen waren, wurden voneinander getrennt, brutal auseinandergerissen – und das zumeist für immer.
Die Augen des schon nicht mehr jungen Mannes, der soviel Schlimmes erlebt hat, füllen sich mit Tränen, und unser Gespräch wird für kurze Zeit von einer bedrückenden, traurigen Pause unterbrochen. Ein wenig später, nachdem er seine Fassung wiedergewonnen hat, erzählte er davon, wie unsagbar schwer es war, die heimatlichen Gefilde zu verlassen, wo bereits seine Großväter und Urgroßväter geboren waren und gelebt hatten, wo sein Bruder und drei Schwestern aufgewachsen waren und wo auch jenes Mädchen gelebt hatte, das er, wenn nicht der Krieg und die Vertreibung dazwischengekommen wären, liebend gern zu seiner Ehefrau gemacht hätte.
Aber das Schicksal verfügte anderweitig. Als der Krieg begann, mußten bereits die ersten Bewohner das Dorf verlassen. Wohin und für wie lange man sie fortschickte, das wußte niemand. Ihre Familie hatte Glück, sie befand sich nicht unter den allerersten Verbannten. Das verschaffte ihnen ein wenig Zeit, sich für den weiteren Leidensweg vorzubereiten.
Mit Trauer im Herzen denkt Georgij Georgiewitsch an seine letzte Begegnung mit Milja, seiner ersten Liebe, zurück. An jenem Tag teilte sie ihrem Auserwählten mit, daß sie ein Kind erwartete. Man kann sich vorstellen, wie es ihm das Herz zerriß, als die verhängnisvolle Unausweichlichkeit sie möglicherweise für lange Zeit trennen würde. Damals konnte er nicht vorausahnen, daß er das Mädel an diesem Tag zum letzten Male sah Was für ein Schicksal die junge Frau und ihr Kind ereilte, das weiß er bis heute nicht, mit Ausnahme der Tatsache, daß ihre Familie ebenfalls ausgesiedelt wurde.
- Im Oktober 1941 traf unsere Familie in Taskino ein, das man uns als zukünftigen Wohnort zugewiesen hatte. Wir wurden freundlich aufgenommen. Ich weiß nicht weshalb und warum, aber die Taskiner hegten uns gegenüber keine bösen Absichten, schlossen uns nicht aus und demütigten uns auch nicht mit Beleidigungen, indem sie uns zu den ins Land einmarschierten Faschisten zählten. Im Gegenteil: sie waren uns bei der Arbeitssuche behilflich, versorgten uns in der ersten Zeit mit Brot, damit wir keine Not litten. Im Januar 1942 wurden Vater und ich in die Armee einberufen.
Ich erinnere mich, daß das für uns eine große Auszeichnung war. Schließlich bedeutete es, daß man uns Vertrauen schenkte, wenn sie uns, wie allen anderen Sowjetsoldaten auch, erlaubten, für die Heimat zu kämpfen. Aber bereits in Abakan, wo man uns plötzlich von bewaffneten Wachen begleiten ließ, hatten wir ein ungutes Gefühl. Damals äußerte der Vater seine Vermutung, daß man uns wohl inhaftieren wollte. Er sollte recht behalten. Wir wurden in die Arbeitsarmee geschickt.
Einen ganzen Monat dauerte unsere Reise. Bei klirrendem Frost transportierten sie uns in unbeheizten Güterwaggons und praktisch ohne Essen. An einer der kleinen Eisenbahnstationen gelang es uns dennoch einen Eisenofen zu ergattern. Bei der Ankunft im Bezirk Kansk wurde jeder Ankömmling sorgfältig von einer medizinischen Kommission untersucht, eine Prozedur, die sich über drei Tage hinzog; sie nahmen unsere Fingerabdrücke, als wären wir richtige Strafgefangene.
Auf dem Lagerterritorium, das von dutzenden Kilometern dichtbewachsener Taiga umgeben war, standen 13 Baracken. In jeder waren mehr als 80 Mann untergebracht. Durch die riesigen baufälligen Baracken drang die Feuchtigkeit des Herbstregens, und im Winter speicherten sie keine Wärme; trotzdem blieben sie für lange Zeit der einzige Zufluchtsort für die hiesigen Bewohner.
- Jeder unserer Schritte wurde von bewaffneten Wachmannschaften mit Hunden verfolgt. Zur Arbeit und von der Arbeit zurück ins Lager gingen wir in Reih und Glied, in Kolonnen von jeweils vier Mann. Und sobald jemand etwas zu weit aus dieser Formation heraustrat, wurde er sogleich von den Wachen aufs Korn genommen.
Die kümmerliche Verpflegung und die Arbeit bis zur völligen Erschöpfung hatten eine Vielzahl unterschiedlicher Krankheiten zur Folge. Skorbut, Nachtblindheit, Ruhr. Jeden Tag starben 12-14 Menschen aufgrund irgendwelcher Erkrankungen. Sogleich rückten neue Häftlinge nach und nahmen die freigewordenen Plätze ein. Anfangs gab es im Lager nur Deutsche, aber ab 1944 wurden auch Letten, Esten, Kasachen und andere hierher verschleppt.
Nachdem der Krieg bereits zuende war, wurden größere Partien verbannter Frauen herantransportiert. Die Tendenz ging dahin, aus den Reihen der Häftlinge Familien zu schaffen, die im folgenden an diesem Ort ihren dauerhaft festen Wohnsitz haben sollten. Aber es gab nicht viele, die sich dazu entschlossen, ihre Schicksale miteinander zu vereinen. Denn die meisten von ihnen hatten bereits eine Familie; und sie hofften nun, daß sie früher oder später zu ihren Verwandten zurückkehren könnten.
Die Lage der Frauen im Lager war noch viel schlimmer und demütigender. Neben der zu völliger Erschöpfung führenden Arbeit in der Holzfällerei, die für Frauen denkbar ungeeignet war, sollten sie ohne Murren die „Gunst“ des Lagerleiters über sich ergehen lassen, der sich von Zeit zu Zeit mit eiskaltem Zynismus das nächstes Objekt für seinen Zeitvertreib auswählte, wobei er sich seine Vormachtstellung über die Gefangenen zunutze machte.
- Wir lebten alle mit der Hoffnung, daß mit dem Sieg auch unsere Freilassung kommen würde. Im Juli 1946 wurde ich in ein anderes Lager verlegt, die Außenstelle eines Sonderlagers, und später nach Udmurtien. Dort erhielt ich einen Passierschein und einen Ausweis und fühlte mich wieder als freier Mann. Und obwohl ich nicht das Recht besaß irgendwo hinzufahren, sondern mich vielmehr regelmäßig in der Kommandantur melden und registrieren lassen mußte, durfte ich nun immerhin schon ohne Wachbegleitung im Rücken bewegen.
Erst 1950 kehrte Georgij Georgiewitsch nach Taskino zurück, wo er heute noch wohnt. Er gründete eine Familie, es wurden Kinder geboren. Bis zu seinem Renteneintritt arbeitete er in der Kolchose als Tischler, ohne seine berufliche Neigung zu ändern. (Noch vpor dem Krieg hatte er das Handwerk von seinem Vater übernommen). Er hat eine große Schwäche für Tauben, die auf seinem Hof ebenso uneingeschränkt herrschen wie er selbst. Für sie hat er eigenhändig einen großen Taubenschlag gebaut, in dem insgesamt fünf verschiedene Taubenrassen leben. Die Zöglinge lieben ihren Herrn, denn sie merken, mit welcher Freundlichkeit und Wärme er sich ihnen gegenüber verhält.
- Viele finden Tauben in der häuslichen Wirtschaft nutzlos, aber ich liebe diese Vögel seit meiner Kindheit. Schon in der Heimat, in Altwarenburg, besaß ich einen Taubenschlag. Als ich aus der Trudarmee zurückkam, habe ich gleich bei der nächsten besten Gelegenheit wieder mit der Zucht begonnen. Kürzlich wollte ich dieses Hobby schon aufgeben. Aber – ich kann es nicht. Im Umgang mit ihnen kann man eine Menge Gutes lernen; nicht umsonst sagt man, daß die Taube der Vogel des Friedens und des Guten ist.
Jetzt habe ich nur noch 28 Tiere. In den vergangenen Jahren haben sie sich irgendwie nicht mehr so zahlreich vermehrt. Denn die Taube – das ist doch ein Vogel, der die Freiheit liebt, aber ich mußte sie leider häufig unter Verschluß halten. Sie sind zutraulich, fühlen sich zu den Menschen hingezogen; aber es kann sein, daß jene sie, wenn auch nicht in böser Absicht, aber doch aus Übermut quälen und sie verletzen. Deswegen lasse ich meine Zöglinge nicht so oft ins Freie. Und obgleich der Taubenschlag sehr weiträumig ist, so kommt er doch einem Käfig gleich – Unfreiheit. Und in Unfreiheit leben – ach, das ist schon eine qualvolle Angelegenheit.
In diesem Jahr werden es zehn Jahre, seit das Gesetz über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen verabschiedet wurde. Aber die bürokratische Maschinerie unseres Staates zieht neue Strapazen und Demütigungen der Repressionsopfer nach sich. Um die Rehabilitation überhaupt zu erlangen, müssen die Leute jahrelang Dokumente zusammensuchen und eine Menge Bescheinigungen und Bestätigungen vorlegen.
Konstantin Richardowitsch German. Der selbst politisch verfolgt wurde, hilft bereits seit einigen Jahren Menschen, darunter auch Georgij Georgiewitsch Stumpf, den guten Ruf seiner Familie wiederherzustellen. In dieser Zeit wurden vierzig Familien mit seiner Unterstützung als Rehabilitierte anerkannt und fünfzehn von ihnen erhielten eine Entschädigung für den damals erlittenen materiellen Verlust. Er sieht das als großen Erfolg an, denn die Arbeit an jedem einzelnen Fall kostet ein ungeheures Maß an Mühe und Geduld. Er kann sich nicht an einen einzigen Prozeß erinnern, der sich über weniger als zwei Jahre hingezogen hat, in deren Verlauf es mehrfach notwendig war, die verschlossenen Türen gleichgültiger Beamten einzurennen. Und er beschäftigt sich mit diesen Dingen nicht aus Eigennutz, sondern weil er der Meinung ist, daß, egal wieviele Jahre auch verstrichen sein mögen, die Wiederherstellung des guten Rufes der durch die Repressionen leidgeprüften Menschen einfach ein unwiderrufliches Muß ist.
Zusammengestellt von S.SWATKOWA.
„Banner der Arbeit“, N° 86 (8245), 27.10.2001
(Zeitung herausgegeben in Karatus)