Das Schicksal der Familie Schwagerus ist eines der vielen tausend Schicksale, wie es für die Rußland-Deutschen typisch ist.
Im Dezember wird Walter Albertowitsch Schwagerus sein 84. Lebensjahr vollenden. Geboren wurde er in dem Dorf Karas, Zhelesnowodsker Kreis, Gebiet Stawropol; in der Familie waren zwölf Kinder. Die Eltern waren schon nicht mehr am Leben, als er 1940 in Rostow am Don das Technikum für Schiffahrt und Transport beendete und eine Arbeit auf dem Dampfer „Molotow“ als zweiter Gehilfe des Kapitans aufnahm. Im Oktober 1940 wurde er zum befristeten Dienst ins Feldheer einberufen – er kam nach Kirowobad in den Kaukasischen Wehrkreis in ein Kavallerie-Regiment. Zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges nahm Schwagerus an den militärischen Aktivitäten auf dem Territorium des Iran teil. Anschließend wurde er, wie alle anderen Sowjet-Deutschen auch, aufgrund einer Verordnung des Staatskomitees für Verteidigung aus dem Feldheer entlassen und nach Kirow in ein Baubataillon geschickt. Dort verlegten sie den Schienenweg von Uljanowsk nach Kasan. Hier arbeiteten nur Deutsche, aber das Baubataillon war dem Volkskomitee für Verteidigung unterstellt; deswegen herrschten dort Disziplin und Ordnung, genau wie im Feldheer.
Im Mai 1942 wurde das gesamte Baubataillon zur Verfügung der dortigen UWD in die Uljanowsker Region geschickt. Und von dem Augenblick an begannen alle lagerüblichen Regeln und Gesetze in Kraft zu treten, und die grausame Maschinerie der Repressionen lief an. Im Juli wurde ein Teil der Menschen in eine Sowchose namens Sakko und Wanzetti versetzt, und zwar zur Futterbeschaffung für eine riesige Viehherde. Die Herde wurde ständig vor den sowjetischen Truppen hergejagt, als diese aus der Ukraine und Weißrußland zurückwichen und sich auf dem Territorium der Region Stalingrad konzentrierten. Als sich jedoch die deutschen Truppen in Richtung Stalingrad vorwärtsbewegten, da fingen sie an, das Vieh ins Uljanowsker Gebiet hinüberzutreiben, um die Herde nicht zu verlieren, und dafür war es unbedingt erforderlich, in großem Umfang Futter zu besorgen. Und da wurden dann eben alle dorthin geschickt, um die Aufgabe zu erledigen. Auf dem Gelände der Sowchose gab es fünf Lager, die sich in der Zuständigkeit des NKWD befanden, und das bedeutete – Wachtürme und Begleitwachen, Stacheldraht und andere typische Lagerattribute.
So wurden die Deutschen der russischen Erde bis 1946 gehalten, bis ein Gefangenentransport mit echten Verbrechern, Verrätern, Leuten, die als Ordnungshüter die Besatzer unterstützt hatten, und anderen vergleichbaren Leuten eintraf. Damals ergab sich bei den Deutschen die Möglichkeit, sich eine gewisse Freiheit zu erwerben, sie wurden nicht mehr von Wachen begleitet und unter Kommandantur gestellt. Auf den umliegenden Feldern arbeiteten in die Arbeitsarmee mobilisierte Frauen, unter denen Walter Albertowitsch seiner großen Liebe begegnete, seiner späteren Ehefrau, mit der er noch heute zusammenlebt. Aber den Menschen, die die in der Sondersiedlung lebten, mußte Lohn gezahlt werden, aber danach stand dem NKWD nicht der Sinn. Aus diesem Grunde schickte man nun die Arbeitsarmisten zur weiteren „Umerziehung“ nach Tomsk. Die Leute lebten dort unter Kommandantur-Aufsicht, mußten sich zweimal im Monat melden und registrieren lassen und duften sich nicht aus freien Stücken Arbeit suchen. So ging das bis zum Januar 1956. Aber bevor die repressierten Deutschen aus der regelmäßigen Meldepflicht entlassen wurden, zwang man sie noch dazu, eine Verpflichtung zu unterschreiben, daß sie auf die Rückgabe ihres Besitzes verzichteten, der ihnen zur Zeit der Verschleppung weggenommen worden war, und nicht das Recht besaßen, an jene Orte zurückzukehren, von denen man sie deportiert hatte. Die letzten zwanzig Jahre arbeitete Walter Albertowitsch im Fahrzeugwerk No. 1 und ging dann mit einem Rentenanspruch von wohl 140 Jahren (!) in den wohlverdienten Ruhestand.
Im Augenblick der Deportation waren acht seiner Geschwister am Leben. Sie wurden nicht alle von den Verschleppungen des Jahres 1941 betroffen. Ein Bruder erhielt wegen der kriegerischen Ereignisse am Fluß Chalchin-Gol den Militärischen Rotbanner-Orden persönlich aus der Hand Schukows, arbeitete in Tomsk bei der Reparatur von Panzern; ein anderer Bruder an der Westfront wurde am Kopf verwundet, geriet in Kriegsgefangenschaft und blieb dort in Deutschland; ein weiterer Bruder war sein ganzes Arbeitsleben lang bei der Miliz tätig, wurde jedoch aufgrund einer Denunzierung zu zehn Jahren verurteilt und starb in der Region Swerdlowsk. Und noch zwei Brüder gerieten mitsamt ihren Familien aufgrund des stalinschen Ukas nach Karaganda und kamen in einem Schacht ums Leben. Eine der Schwestern wurde zunächst nach Nowosibirsk deportiert, anschließend in die Region Kemerowo. Ein schweres Los entfiel auf die jüngste Schwester, die mit einem Russen verheiratet war und anscheinend unter dem Ukas von 1941 nicht zu leiden hatte. Sie geriet jedoch zusammen mit ihrem Mann auf besetztes Territorium, wurde nach Deutschland geschickt, kam in die englische Zone und kehrte infolgedessen mit ihrem Mann nach Kislowodsk zurück. Und da begannen dann auch die Verfolgungen von Seiten der Regierung: beide wurden zu fünf Jahren verurteilt, der Mann dermaßen geprügelt, daß er umkam, und die Schwester, nachdem sie die Strafe abgesessen hatte, in das Gebiet Kemerowo verbannt.
Trotz ihres verwickelten und schweren Lebens kann sie fließend Deutsch und Russisch und hegt keine Verbitterung in ihrem Herzen. Das wichtigste Gefühl - und es hat diese starke Frau nie verlassen – ist für sie, daß Rußland ihre Heimat ist.
Lange Zeit wurde das Problem der Rußland-Deutschen in unserem Lande totgeschwiegen, als ob es nie existiert hätte. Wenngleich der Ukas des Jahres 1964 die völlig unbegründete Beschuldigung des Verrats zurücknahm, blieb es den Rußland-Deutschen dennoch weiterhin verboten, an die Orte zurückzukehren, von denen sie mit Gewalt und mit ungesetzlichen Mitteln verschleppt worden waren. Und ein Jahr später, 1965, fuhren Vertreter der Rußland-Deutschen aus allen Gebieten der Sowjetunion nach Moskau, wo sie sich mit der Forderung an den Obersten Sowjet wandten, die Gerechtigkeit wiederherzustellen, aber dieses Bemühen hatte nur negative Konsequenzen.
Größere Hoffnungen setzten die Deutschen auf Präsident Boris Jelzin. Aber bei seinem Besuch der Region Saratow im Januar 1992 erklärte er „verantwortungsbewußt“: „Es wird keine Autonomie geben! Das garantiere ich Ihnen als Präsident! Aber da wäre noch eine andere Sache: im Gebiet Wolgograd gibt es einen leerstehenden Truppenübungsplatz mit einer Fläche von 20.000 Hektar, und Marschall Schaposchnikow wird ihn herausgeben...“. Dieser Truppenübungsplatz „Kapustin Jar“ wurde noch 1947 in Betrieb genommen. Man hat darauf Versuche vorgenommen, Raketen und Flugzeugbomben abgeworfen. Selbst ein ganz unbewanderter Mensch kann sich unschwer vorstellen, wie die Erde eines Truppenübungsplatzes nach 50 Jahren Existenz aussieht. Ökologische Untersuchungen, die vom Doktor der technischen Wissenschaften A.W. Mosgowoj durchgeführt wurden. ergaben: „Das Erdreich des Truppenübungsplatzes ist durchzogen und angereichert mit für den Menschen besonders gefährlichen Materialien und Gegenständen, darunter krebserregenden Substanzen aus Verbrennungsrückständen von festen und flüssigen Brennstoffen, die sich in den Zellen der Pflanzen und Tiere festsetzen, wo sie über viele Jahre ihre toxischen Eigenschaften speichern. Wie wenig mußt du dein Volk lieben, dessen Präsident du bist, selbst wenn dieses Volk von der Nationalität her keine Russen sind? Die Hoffnungen in Boris Jelzins Demokratie sind dahin.
Es kam ein neuer Präsident – und was hat sich geändert? Im Juli 2001 wandte W.A. Schwagerus sich persönlich an Präsident Putin, aber auch danach wurde ihnen auf die Möglichkeit des Wiederauflebens einer Autonomen Republik der Wolgadeutschen keine Hoffnung gemacht.
Es ist sehr bitter, sich der Tatsache bewußt zu werden, daß die zielgerichtete und konsequente Behandlung der Probleme der Wiederherstellung von Gerechtigkeit in Bezug auf die Rußland-Deutschen auf staatlicher Ebene äußerst unzureichend ist. Noch schlimmer ist, daß niemand die Rehabilitationsfonds finanziell unterstützt, was den Umfang der Hilfeleistung erheblich mindert. Viele Deutsche, die 60 Jahre lang, seit dem Tag der Unterzeichnung des Ukas vom 28. August 1941, für das Wohl der Entwicklung Rußlands gearbeitet haben, leben auch heute noch in ungeheuerlicher Armut, trotz aller Bemühungen und Entbehrungen, die sie auf sich genommen haben, um die Sauberkeit und Gemütlichkeit ihrer kleinen Höfe zu bewahren.
All das, was die Familie Schwagerus durchgemacht hat, die unerfüllt gebliebenen Hoffnungen, Erwartungen und Wunschträume haben ihrer heutigen Stimmung keine schwarzen Flecken aufgedrückt. Sie blicken wie früher hoffnungsvoll in ihre Zukunft. Bis jetzt glauben sie noch an ihre Heimat – Rußland.
Natalia Bril, Vorsitzende der gesellschaftlichen Organisation
„Lada - Klub
für kinderreiche Familien“, Tomsk.
Sibirische Zeitung plus №11(41) 11/2001