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Eingeladen wurden sie von Imperatorin Katharina II, und unter Stalin kamen sie hinter Schloss und Riegel

Heute geht es um den glänzenden Norilsker Röntgenologen Karl Denzel – 85 Jahre alt.

Historische Auskunft: Karl Denzel wurde am 3. Januar 1917 geboren. Er absolvierte das Medizinische Institut in Odessa. 1941 schickte man ihn aufgrund seiner Nationalität (er war Deutscher) nicht an die Front, sondern stattdessen in die Arbeitsarmee nach Tscheljabinsk und von dort mit einer Häftlingsetappe nach Norilsk. Vierzig Jahre arbeitete er innerhalb des Systems des Norilsker Gesundheitswesens. Nach seiner Rehabilitation im Jahre 1957 war er Haupt-Röntgenologe der Stadt sowie Leiter der röntgenologischen und onkologischen Abteilungen sowie der Tuberkulose-Fürsorgestelle. Er war ein bemerkenswerter Diagnostiker, dem sowohl Spezialisten als auch Patienten bedingungslos vertrauten. Er erteilte Kranken zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit Konsultationen. 1983 ging er in Pension, nachdem ihm der Titel „Hervorragender Mitarbeiter des Gesundheitswesens der RSFSR“ und die Medaille „Arbeitsveteran“ verliehen worden waren. Er starb 1993.

Das Interview mit Denzel wurde vor zehn Jahren aufgezeichnet und wird nun zum ersten Mal veröffentlicht. Die Begegnung verlief im Hause seiner Tochter Irina, und auch Doktor Serafim Snamenskij war anwesend.

- Karl Karlowitsch, wie lange ist es her, seit ihre Vorfahren nach Russland gekommen sind?

- Sie kamen in Übereinkunft mit der russischen Imperatorin Katharina, die vor ihrer Ehe eine deutsche Prinzessin namens Sophia Frederike Auguste war. Ihr ist die Idee zuzuschreiben, hunderttausende Deutsche auf das Territorium Russlands umzusiedeln.* Sie hatte dabei folgendes in Erwägung gezogen: der zurückgebliebenen Landwirtschaft in Russland auf die Beine zu helfen. Der Plan misslang. Die Deutschen gründeten kleine Kolonien an der Wolga, im Kaukasus, in Mittelasien und der Ukraine.

Meine Vorfahren gerieten in das Gebiet Saporoschje. Unser Großvater war sehr wohlhabend. Mein Vater, wenn er nicht gerade mit seinen Aufgaben als Bauer beschäftigt war, unterrichtete gelegentlich an der Schule, wenngleich er selber das Gymnasium nicht beendet hatte. Seine Schulbildung reichte jedoch vollkommen aus, um den Kindern in den Grundschul-Klassen Unterrichtsstunden zu erteilen.

- An ihre Nationalität erinnerte man sich als der Krieg ausbrach?

- Ich wurde als Militärarzt 3. Ranges mobilisiert, kam jedoch nicht an die Front, weil die Deutschen aus dem aktiven Armeedienst abgezogen wurden. Mich schickten sie nach Tscheljabinsk, und im Jahre 1942 „isolierten“ sie mich. Durch Beschluss der Sonder-Abteilung wurde ich verurteilt wegen Mitgliedschaft in einer antisowjetischen Gruppierung, welche angeblich die Absicht hatte Sabotage zu begehen – genauer gesagt: die Walz-Werkstatt zu sprengen, deren Bau jedoch erst ein Jahr nach meiner Verhaftung begonnen wurde.

Im Norillag gab es viele „Tscheljabinsker“. Doktor Ludwig, ebenfalls Deutscher geriet ein wenig später nach Norilsk; ihn hatte ich bereits in Tscheljabinsk kennen gelernt.

- Wie hat Norilsk sie aufgenommen?

- Hier brachte man mich in der 9. Lagerabteilung unter, wo Chinesen, Japaner, einige Vietnamesen und Deutsche einsaßen. Dort blieb ich bis zum Aufstand im Jahre 1953. Später verlegten sie unser Lager an die Stelle der 6. Lagerabteilung (ins Industriegebiet) und in unseres – die verbliebenen Zwangsarbeiter; und das nannten sie dann Lagerstelle Nr. 5, das Berglager.

Als ich ins Zentrale Lager-Krankenhaus kam, stand ich vor der Wahl: entweder wurde ich Denunziant oder ich musste die Sanitätsabteilung verlassen. Ich wurde kein Denunziant, und so schrieb man mich zum Bau des Technikums ab. Dort arbeitete ich lange Zeit. Natürlich war das Lagerleben sehr schwer. Ich kann mich an das Gefühl absoluter Rechtlosigkeit erinnern. Ich arbeitete bereits in der 7. Lageraußenstelle, als sie kamen, um die Balten zu verhaften. Einer von ihnen war an einer Lungenentzündung erkrankt, und der lettische Arzt meinte: „Ich werde diesen Kranken nicht herausgeben, er darf noch nicht aus der Behandlung entlassen werden“. Das war Doktor Pruschanskij. Er wurde zusammen mit den anderen Festgenommenen in der stationären Abteilung erschossen.

Als die Gefangenen starben, schenkte niemand diesem Ereignis auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Eine Zeit lang arbeitete ich in Kalargon. Eines Tages hatten wir außergewöhnlich ungemütliches, kaltes Wetter, und das Pferd,, mit dem das Wasser transportiert wurde, bekam einen Blutsturz. Mit vier oder sogar sechs Mann zerrten wir das Tier in den Trockenraum hinein und versuchten es zu retten. Es gelang uns nicht. Das war eine wahre Tragödie, aber wenn Menschen starben, dann zählte das nicht als solche: Danach trugen die Mitarbeiter des Wirtschaftsdienstes das Wasser auf ihren eigenen Schultern.

- Eine Zeit lang arbeitete Jefrosinja Kersnowskaja im Zentralen Lager-Krankenhaus. Kannten Sie sie?

- Die Kersnowskaja – das war eine willensstarke Frau. Zum letzten Mal sah ich sie in Jessentuky. Sie lebte allein in eine Erd-Hütte. Da sie Invalidin war, wurde sie immer abwechselnd von irgendwelchen Mädchen betreut. Sie unterhielt einen Gemüsegarten und, trotz einer Oberschenkelhals-Fraktur lag sie auf der gesunden Seite und grub den Boden mit einer Hand um. Im Lager vervollständigte sie die Doktorarbeit des estischen Arztes Leonhard Bernhardowitsch Mardna mit Illustrationen.

-Mit welchen bemerkenswerten Leuten führte das Schicksal sie im Norilag außerdem noch zusammen?

- Mit Olga Jelisejewna Benois aus dem berühmten Künstler-Geschlecht Benois; sie malte im Zentralen Lager-Krankenhaus realistische Bilder. Ich erinnere mich auch an Georgij Schschenow auf der Theaterbühne am Nullpunkt (Platz in Norilsk; Anm. d. Übers.), wohin mich, noch während meiner Häftlingszeit, Wladimir Wengerow mitnahm (der später das Norilsker Theater und überhaupt unsere ganze Kultur leitete), der sich damals schon wieder in Freiheit befand. Er war Assistent von Viktor Aleksejewitsch Kusnezo, dem berühmten Chirurgen, der 1943 im Zentralen Lager-Krankenhaus eintraf. Im Krankenhaus gab es eine Aufnahme-Station, in der ich für gewöhnlich nachts Dienst hatte. Damals wurde geröntgt und anschließend gleich die Operationen durchgeführt.

- Und kannten Sie Urbanzew? Ich habe den Eindruck, dass Sie ihm vom Temperament her ziemlich ähnlich sind?

- Nikolaj Nikolajewitsch Urbanzew kam zu den abendlichen Zusammenkünften zu uns ins Zentrale Lager-Krankenhaus. Ein sehr beherrschter Mann. Aber Jelisaweta Iwanowna Urbanzewa mochte ich nicht. Sie schaut einen kaum an, und dann flüstert sie hinter dem Rücken: „Dieser Karl Karlowitsch – der ist wie ein Tisch. Ob du dem was sagst oder nicht: Der hat zwanzig Jahre, der hört auf niemanden.“ Und jeden fragte sie: „Mit wem lebt er denn zusammen?“

Hier wurde Denzel von seinem Kollegen Doktor Snamenskij unterstützt:

- Die Urbanzewa war Administratorin. Wenn man sich an sie erinnert – dann verdirbt man sich seine Laune. Ihrer Ansicht nach hatte man dir 20 Jahre aufgebrummt, und das bedeutete, dass du gemäß Anordnung keinerlei Wünsche in dir aufkeimen lassen solltest (Doktor Denzel nutzte die Frauen sehr erfolgreich aus, und manchmal drängte es ihn nach Freiheit und er kroch sogar unter dem Stacheldrahtzaun hindurch. Damit die Wachen ihn im Schnee nicht entdecken konnten, wickelte er sich in ein Bettlaken. – Red.). Wir sollten uns vorbildlich verhalten und uns bemühen ihr gefällig zu sein. Einmal schrieb einer einen Brief an die Zeitung - mit dem Vorschlag, das in Oganer (entlegener Bezirk von Norilsk; Anm. d. Übers.)
im Bau befindliche Krankenhaus Urwanzewa-Klinik zu nennen, aber wir kannten sie als Ärztin überhaupt nicht, sondern lediglich als Aufseherin.

- Nach der Freilassung mussten Sie sich wohl eine Menge Unangenehmes anhören?

- Die Früchte von Propaganda und Agitation hinterließen in den Menschen ihre Spuren. einmal kauf ich in einem Geschäft ein Buch. Ich bitte darum es einzupacken und bekomme von der Verkäuferin folgendes zu hören: „Wenn man die Bücher wenigstens Menschen zukommen ließe und nicht Gefangenen“.

Das Gespräch wurde erneut von Karl Denzel fortgesetzt:

- Mit uns im Lager saß auch Pawel Jewdokimowitsch Nikischin, der Gründer des pathologisch-anatomischen Dienstes in Norilsk. Bis zu seiner Inhaftierung hatte er in der Akademie der Wissenschaften gearbeitet und kannte Pawlow. Er war ein guter Mensch, aber seine Söhne – die waren alle hohe Beamte, Oberste – und die sagten sich von ihm los. In Norilsk versuchte er seinen ruhmreichen Namen wiederherzustellen; er hielt Vorlesungen und leitete Schwestern-Lehrgänge. Aber es half ihm nichts. Ich weiß noch, wie der Abend für die freien Mitarbeiter aus den Reihen der Intelligenz abgehalten wurde und man die bereits freigelassenen Nikischin und Semjon Naumowitsch Mankin (vor seiner Verhaftung Direktor des Instituts für Mikrobiologie) nicht dorthin eingeladen hatte. Nikischin nahm sich das schwer zu Herzen. Er war ein guter Mensch. Sein Freund war während des Bürgerkriegs gestorben, und vor seinem Tode hatte er Pawel noch angefleht, seine verwaiste Familie nicht im Stich zu lassen. Er stand ihnen näher als der eigene Vater. Die Rehabilitierung wurde ihm verweigert: Ende der 1950er Jahre traf ein Brief von der Witwe des Freundes bei der städtischen Gesundheitsbehörde ein. Sie bat ihn darum zum Friedhof zu gehen und vor Nikischins Grab laut auszurufen: „Pawel! Du bist rehabilitiert!“

: Nachdem der GULAG aufgehört hatte zu existieren, wollten viele in ihre Heimat zurückkehren:

- Nach der Freilassung arbeitete ich als Röntgenologe in der Poliklinik am Nulevoj Piket.
Meine Frau kam zum ersten Mal nach der Freilassung im Jahr 1955 zu mir, zwei Jahre später blieb sie für immer. Ich hätte den Ort nach meiner Rehabilitation 1957 verlassen können, entschied mich jedoch dafür in Norilsk zu bleiben. Sehr viele haben das so gemacht…

Aufgezeichnet von W. Watschajewa, Haupt-Konservator des Norilsker Museums

* Eine deutsche Ansiedlung gab es in Moskau bereits Mitte des 17. Jahrhunderts. Der Zustrom von Ausländern nach Russlands verstärkte sich unter Peter I. und seinen Amtsnachfolgern. Aber die meisten deutschen Kolonisten tauchten in Russland im letzten Drittel des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf.

„Polar-Wahrheit“, 04.01.2002


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