Im Januar feiert Norilsk den 100. Geburtstag von Josef Schamis.
Vor neunundfünfzig Jahren, im Januar 1943, arbeitete ich als Laborant im Laboratorium für flüssigen Sauerstoff, war politischer Häftling des NorilLag. Das Labor war in der gerade erst auf dem Berg Rudnaja errichteten Fabrik in Betrieb, welche Sprengstoff für Arbeiten im Bergbau herstellte – eben jenen flüssigen Sauerstoff. Wir, das waren mehrere hundert Gefangene, lebten in der hier entstandenen Lageraußenstelle mit dem Namen „Sauerstoff“-Lager.
Eines Morgens meinte mein Chef, der Leiter des Laboratoriums Jurij Natanowitsch Sinjuk, zu Beginn des Arbeitstages: „Serjoscha, geh mal gleich nach Ugolnij Rutschej zum Grubenkontor, und schau noch, ob du dort in der Planungsabteilung Josef Adolfowitsch Schamis findest; und dann hilf ihm bei der Zusammenstellung von Arbeitsaufträgen für den Bau. Die Sache ist dringend, sie haben dort jede Menge zu tun“.
Ich machte mich also auf - zur Schlucht nach Ugolnij Rutschej. Nachdem ich diverse Male in Schneewehen versunken und über die vom Wind durchgepusteten Steine geklettert war, stieg ich auf der anderen Seite des Abgrunds auf den Gipfel des Berges Nadeschda (dem Nachbarberg des Schmidticha). Dort befand sich dann auch in einer hölzernen Baracke das Grubenkontor von „Ugolnij Rutschej“.
Mich begrüßte ein nicht sehr groß gewachsener, sympathischer Mann von jugendlichem Aussehen, der jedoch gut zweimal so alt wie ich sein mochte; wir machten uns miteinander bekannt und gingen an die Arbeit. Wir saßen uns in dem engen, kräftig geheizten Zimmerchen gegenüber, füllten Auftragsformulare aus, drehten die Kurbeln der Rechenmaschinen und klapperten mit den Röllchen des Abakus. Im Vergleich mit den Erfahrungen, die ich bei der Laborarbeit gesammelt hatte, empfand ich es hier als äußerst langweilig und uninteressant, aber was soll man machen – der Befehl musste ausgeführt werden.
Einmal pro Stunde legte Josef Adolfowitsch eine zehnminütige Raucherpause ein.
Er
drehte sich eine Zigarre, steckte sie auf ein Mundstück und schob dann mir den
Tabaksbeutel
zu. Ich selber hatte keine Rauchwaren bei mir, denn Tabak galt als die größte
Defizitware
im Lager, und leider war ich damals ein armer Häftling. Wir rauchten und
unterhielten uns.
Schamis fragte mich neugierig über mein nicht sehr umfangreiches vergangenes
Leben aus,
weshalb er ins Lager geraten war usw. Ich befragte ihn aus Höflichkeit nicht,
behielt aber
aber aufmerksam und mit großem Interesse das Wenige in der Erinnerung, das
dieser Mann
über sich mitteilte. So erfuhr ich, dass er am Bürgerkrieg teilgenommen, die
Sowjetmacht
verteidigt hatte, später Bau-Ingenieur wurde und in Moskau auf bedeutenden
Posten saß:
Darüber, wie er eigentlich ins Lager geraten war, ließ Schamis sich nicht aus.
In Moskau
hatte er seine Ehefrau und sein kleines Töchterchen Julia zurückgelassen.
Am nächsten Tag wurde meine Dienstreise verlängert, und ich arbeitete mit
meinem neuen
Bekannten mehrere Tage in Folge zusammen, bis die Eilsache „vom Tisch“ war. Aber
ein –
zwei Wochen später schickte Jurij Natanowitsch mich erneut zum Aushelfen. Und so
ging
das dann über einen Zeitraum von mehreren Monaten. Etwas später gelang es Josef
Adolfowitsch, die Leitung zu einem fest angestellten Gehilfen zu bewegen, den er
dann auch bekam.
So begann unsere Bekanntschaft, die sich zur Freundschaft entwickelte. Trotz des ganz erheblichen Altersunterschieds, hatten wir viele gemeinsame Interessen. Die Jahre vergingen, und bei uns beiden ging die Zeit hinter Stacheldraht zu Ende, wir wurden zu freien Mitarbeitern des Kombinats und trafen uns auch weiterhin – sowohl bei der Arbeit als auch privat als Freunde. Als die Zeit der Rehabilitationen einsetzte, versuchte Josef Adolfowitsch mich davon zu überzeugen, dass ich mich unbedingt auch darum kümmern müsse und half mir dabei, fehlerfrei ein Gesuch zu verfassen (er kannte sich mit der Jurisprudenz aus). Mitte der 1950er Jahre erfasste uns ein starkes Interesse für die Geschichte von Norilsk. Ich setzte meine bereits in den 1940er Jahren begonnenen Aufzeichnungen über die Fabrik für flüssigen Sauerstoff und die erste Expedition auf der Halbinsel Taimyr fort. Schamis schrieb seine Erinnerungen an die Anfangszeit des Kombinats auf.
Während ich mit Aleksej Bondarew an den ersten heimatkundlichen Studien über Norilsk arbeitete, machten wir uns mit Schamis‘ Erlaubnis dessen Erinnerungen zunutze, die das Buch auch ausschmückten. Ende der 1950er Jahre verließ Josef Adolfowitsch Norilsk, und ich war danach bei jedem Moskau-Besuch bei ihm und seiner liebenswerten Olga Borisowna zu Gast.
Seine Kenntnisse in allen Bereichen der Industrie, Kultur, Geschichte, Philosophie und Politik waren so breit gefächert, sein Gedächtnis so außergewöhnlich, seine akkuraten Aufzeichnungen so lehrreich, dass ich daraus wirklich aus dem Vollen schöpfen konnte und nicht müde wurde, mich immer weiter daran zu bereichern. Jede Begegnung mit ihm brachte neuen Reichtum. Einen kleinen Teil gelang es zur Erinnerung aufzuschreiben, aber es ist wirklich nur sehr wenig. Eine zuverlässigere Art Schamis‘ Erzählungen zu bewahren, ist die Korrespondenz mit ihm, die im Laufe der Zeit immer aktiver und ausgedehnter wurde.
Als auch ich schließlich von Norilsk Abschied nahm und mich unweit von Moskau niederließ, wurden meine Begegnungen mit Josef häufiger und regelmäßiger und der Umgang noch vielseitiger. Ich bemühte mich, seine journalistischen Möglichkeiten und Verbindungen für die Veröffentlichung wenigstens ein paar kleiner Krümelchen jener unschätzbaren Kenntnisse und Erfahrungen zu nutzen, über welche dieser Mann verfügte. Schamis‘ Memoiren waren in Zeitungen in Moskau und Norilsk zu lesen. In den 1970er Jahren gesellte sich auch Anatolij Lwow hinzu. Mit seiner Hilfe wurden Arbeiten von Schamis wie beispielsweise „Schwester Frosja“ (die erste Publikation über Kersnowskaja!) und andere veröffentlicht.
Ein paar Worte über diese Arbeit von Schamis. Sie ist bislang noch nicht in ihrer ganzen Vollständigkeit abgedruckt worden und wird im Archiv der Stadt Lwow und bei mir verwahrt. Es handelt sich um 15 Seiten Erinnerungen und Überlegungen (die Entwürfe nicht mitgerechnet) um eine bemerkenswerte Frau, die in den 1970er und 1980er Jahren niemand kannte. Sie lebte ihr Leben in Anonymität, und ihre großartigen Zeichnungen, eigenen Memoiren, die heute der zivilisierten Welt bekannt sind, lagen in einer kleinen Holzhütte in Jessentuky, von niemandem verlangt oder begehrt.
Schamis war der Erste, der den Norilskern von Kersnowskaja erzählte. Sein Briefwechsel mit ihr hat ganz bestimmt auch sie dazu angeregt, den Menschen ihr Werk zugänglich zu machen. Schamis rief diesen Menschen aus dem Alltagstrott heraus. Allerdings wurde in den Memoiren nirgends erwähnt, dass „Schwester Frosja“ arbeitete, ehemaliger Häftling war, weil man sie aufgrund einer ungerechten, sehr schwerwiegenden Anklage verurteilt hatte. Als Schamis seine Memoiren aufzeichnete, war es durchaus nicht angebracht, den Lesern derartige Details mitzuteilen.
Schamis trug auch nicht wenig zum Aufbau der Stadt Norilsk und der Entstehung seiner Geschichte bei. Sein breitgefächertes Archiv, angefüllt mit Zeugnissen über Menschen und Ereignisse der ersten Jahre und Jahrzehnte des Bestehens des Kombinats und der Stadt hinter dem Polarkreis wird noch lange Zeit die Historiker und Heimatkundler nähren. Seine eigene Biographie ist noch nicht erforscht. Über sich selbst, über sein Schicksal hat er wenig geschrieben und berichtet. Es gibt darin eine Fülle von Fakten und Ereignissen, die er stets nur flüchtig erwähnte. Einmal teilte er mir irgendwie mit, dass er Anfang der 1920er Jahre aus der Partei ausgetreten wäre, weil er mit der Einführung der NEP, der Neuen Ökonomischen Politik, nicht einverstanden gewesen sei. So etwas wagten sich starke und überzeugte Leute. Überzeugt davon, dass die proletarische Revolution in Russland eine Erscheinung war, für die es nicht schade sei, sein Leben her zu geben, und erst recht nicht – seine Karriere.
Schamis starb in New York, wohin er im Alter, auf Initiative seiner Familie, gezwungen war auszuwandern. Er verschied am 13. Juli 1994 mit 92 Jahren. Bis in seine letzten Tage bewahrte er sich die Klarheit der Gedanken und die ihm eigene Arbeitsfähigkeit, las viel und setzte seine Aufzeichnungen fort. Seine Briefe aus Amerika sind ebenso gehaltvoll und reich an Beobachtungen, wie die Schreiben aus Moskau oder die Erinnerungen, die er hinter dem Polarkreis zu Papier brachte.
Sergej Norilskij
„Polar-Wahrheit“, 24.01.2002