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Er ist nie in Moskau gewesen

Während Julia Gretschuchina und ich dabei waren Aleksej Jakowlewitsch und Jewdokia Iwanowna Chalujew(a) zu interviewen, ließ Marina Schwab die Zeit nicht ungenutzt: sie unterhielt sich mit Jakob Jakowlewitsch und Elisabeth(a) Genrichowna Gomer (Homer?). Ich kannte dieses bemerkenswerte Paar bereits seit langem, aber, wie das oft so zu sein pflegt, hatten wir dieses Gespräch immer wieder aus Zeitmangel verschoben. Und nun endlich, dank Marina Schwab, konnte die Unterredung stattfinden. Anschließend kam Marina zu uns, um von ihrem Gespräch mit dem Ehepaar Gomer zu berichten und uns gleichzeitig darum zu bitten, auch einmal kurz bei ihnen vorbeizuschauen, um einige Punkte noch etwas zu präzisieren. Ich war erschüttet über den Mut und die menschliche Würde, die beide sich bewahrt hatten, obwohl sie eine Vielzahl von Schwierigkeiten, Kränkungen und Erniedrigungen in ihrem Leben durchmachen mußten. Bei diesem Bericht handelt es sich nicht nur um bloße Aufzeichnungen ihrer Erinnerungen, sondern um einen tatsächlich bestätigtes, mündliches Dokument. Also:

Bis zum Beginn des Großen Vaterländischen Krieges lebten sie, wie viele Rußland-Deutsche, im Gebiet Saratow, in dem Dorf Dönhof (heute Dorf Wysokoje), Polsewsker (heute Krasnoarmejsker) Bezirk. Im September 1941 wurden sie nach Sibirien abtransportiert.

Im Januar 1942 holten sie Jakob Jakowlewitsch zur Trudarmee; er kam nach Reschoty – ins Kraslag. Dort arbeitete er auf diversen Arbeitsstellen als ungelernter Arbeiter: er baute die Eis-Winterstraße, über die sie dann das Holz zogen, säte im Frühling Getreide, pflanzte Kartoffeln, mähte Heu für die Kühe und Pferde im Lager, fällte Bäume. Und alles wäre nicht so schlimm gewesen, wenn nicht ... Eines Nachts hat Jakob einen Traum – er sieht Wölfe, die ihn zerreißen wollen. Er rannte vor ihnen fort, sprang auf das Dach irgendeiner Scheune. Am nächsten Morgen berichtete er dem Brigadier von seinem merkwürdigen Traum. Der verstand ein wenig von Traumdeuterei und riet Jakob noch vorsichtiger als sonst zu sein; das war kein guter Traum, kann sein, dass dir heute irgendetwas passiert. Und damit war die Sache erst einmal erledigt.

Ins Holzeinschlagrevier (und auch hinaus) fuhren sie immer auf einem offenen Waggon. Sie machten sich zur Abfahrt fertig. Beim Ankuppeln der Waggonplattform an die Lokomotive gab es einen heftigen Stoß. Durch den jäjen Ruck wurden Jakow und zwei seiner Kameraden, die am Rande der Plattform saßen, zu Boden geschleudert. Nach dem Sturz sprang Jakob unter Schock auf, weil er glaubte sein Mantel sei zerrissen – und verlor das Bewußtsein. Im Lager-Krankenhaus erlangte er das Bewußtsein wieder.Er hatte einen offenen Bruch davongetragen. Im Krankenhaus wurde er schlecht verpflegt: 500 Gramm Brot, Wassersuppe, in der ein paar Kartoffelflocken schwammen, und wenn gelegentlich einmal eine halbe Kartoffel darin zu sehen war, dann war das schon ein großes Glück. Drei Monate lag er im Krankenhaus und wurde dort sehr schwächlich. Dann verlegte man ihn in eine Baracke. Dort machte niemand Anstalten, dem sich nur mit Mühe und Not vorwärtsschleppenden „Arbeitssoldaten“ zu helfen; 1943 schickte man ihn nach Hause. Zwei weitere Monate mußte er im Krankenhaus in der Stadt Saoserny verbringen, danach in Kansk. Da er Kolchosarbeiter war, bekam er 400 Gramm Brot am Tag. Als man seine Gesundheit in Kansk einigermaßen wiederhergestellt hat, kehrt er nach Stachanowo zurück und arbeitet, so gut es geht, auf verschiedenen ungelernten Arbeitsstellen – von irgendetwas mußte er ja leben.

Elisabeth(a) Genrichowna wurde am 1. September 1943in die Trudarmee geschickt; sie kam in den Ural, in die Stadt Nischnij Tagil, wo sie in der Ziegelfabrik arbeiten mußte. Es war eine schwere Arbeit: mal kam sie von der Hitze der Öfen, die zum Brennen der Ziegel in Betrieb waren, fast um, mal von der Eiseskälte, bei der Vorbereitung und Zustellung der Rohziegel. Wenn sie von der Arbeit in die Baracke zurückkam, konnte sie sich nirgends waschen: es gab keine Badewanne, keine Dusche. Allerdings hatten sie dort ein Badehaus, aber es war nur einmal in der Woche in Betrieb – und dabei mußten sie doch jeden Tag ihre Arbeit in Schmutz und Nässe verrichten. So ging es bis zum 27. September 1947, was auch in der Bescheinigung vermerkt ist: „... in der Baueinheit 1874, Baukolonne N° 2, beim Trust der „Tagil-Bauprojektverwaltung“ (NKWD), Ziegelfabrik N° 1, vom 14.11.1943 bis 27.11.1947...“.

1951 heirateten sie, aber noch bis 1956 mußten sie sich regelmäßig in der Stadt Saoserny polizeilich melden, berichten die Eheleute mit bitterem Unterton, wobei sie uns ihre Arbeitsauszeichnungen zeigen, von denen sie eine ganze Menge erhalten haben. Jakob Jakowlewitsch besitzt 11 Urkunden, 10 Regierungsauszeichnungen, zwei Medaillen über seine Teilnahme an der Ausstellung über Errungenschaften der Volkswirtschaft, obwohl – und da muß er lachen – er überhaupt kein einziges Mal in Moskau war; außerdem bekam er in den Jahren 1975 und 1983 den Ehrentitel „Bester Viehzüchter der Region Krasnojarsk“ und sehr viele Dankesbriefe. Auch Elisabeth(a) Genrichowna bekam zwei Regierungsauszeichnungen, 12 Urkunden und eine Vielzahl von Dankesschreiben für ihren Beitrag zum Sieg über das faschistische Deutschland, die Wiederherstellung der Volkswirtschaft und nachfolgende Festigung der Sowjetunion.

Jakob Jakowlewitsch erinnert sich, wie sie ihn, nachdem er im Januar zur Vorladung ins Kriegskommissariat gekommen war, nach Reschoty schickten, wo er in einer Baracke untergebracht wurde. Danach wurde ihre Baracke im Verlauf von nur wenigen Stunden mit Stacheldrahtzaun umgeben, man stellte Wachposten auf, und innerhalb von 24 Stunden hatten sie sich von Arbeitssoldaten in Häftlinge verwandelt. Nach dieser ganzen Metamorphose waren ihre Seelen in einem schrecklichen Zustand.

Aber trotz all dieser Widrigkeiten geben Jakob Jakowlewitsch und Elisabeth(a) Genrichowna während des Gesprächs zu verstehen, dass sie die jetzigen Umgestaltungen im Lande nicht begrüßen und auf die Kommunisten nicht wütend sind. Damals herrschte mehr Ordnung. Und die vorliegenden Auszeichnungen hätten sie nicht für ihre Tatenlosigkeit erhalten, sondern für ihre fleißige Arbeit – und darauf wären sie stolz.

Dies waren also die Aufzeichnungen, die Marina Schwab von der Unterhaltung machte – mit einigen unwesentlichen Korrekturen und Präzisierungen, die anschließend durch uns erfolgten.

Aufgezeichnet von Marina Schwab

Das Material wurde von G. Tschuprikow überarbeitet; in Anwesenheit von Julia Gretschuchina, die ebenfalls einige Korrekturen vornahm.

Am 25. Januar 2002 vollendet Elisabeth(a) Genrichowna ihr 80. Lebensjahr. Unsere Gruppe möchte ihr, dieser bemerkenswerten Frau zu dem wunderbaren Ehrentag gratulieren und ihr Gesundheit und ein aktives. langes Leben wünschen. Seien Sie glücklich!

G. Tschuprikow, Dorf Stachanowo – Ortschaft Rybinskoje
„Stimme der Zeit“, N° 11, 25.01.2002


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