„Wir haben uns entschlossen, dem Aufruf der russischen Imperatorin Jekaterina zu folgen und uns auf den langen, unbekannten Weg gen Osten aufzumachen. Das märchenhafte Leben zieht uns dorthin, welches wir uns in unserer Vorstellung ausmalen, aber gleichzeitig fürchten wir auch das Unbekannte. Wir – das sind Deutsche von den Ufern des Rheins und der Ostsee, das sind Bürger anderer Nationalitäten, gebürtig aus Lübeck, Hessen, Danzig und Königsberg, gebürtig aus Polen und Dänemark, Schweden und Italien, Bewohner dutzender Ortschaften und Länder Europas“.
Die Reise meiner Ururgroßväter, die im Frühjahr 1764 begann, führte über die Ostsee, Newa und Wolga und endete schließlich in Saratow. In den Listen der Familien, die 1764 in Begleitung von Kapitän Paikul aus Deutschland an der Wolga eintrafen, wird auch Johann Sokolowskij mit seiner Ehefrau aus Polen aufgeführt. Mit ihm nimmt auch ein Zweig unseres Stammbaums seinen Anfang.
Damals kamen 101 Männer, 86 Frauen und 146 Kinder an der Wolga an. Di Umsiedler wurden in Gruppen eingeteilt und weiter die Wolga flussabwärts geschickt, wobei sie entlang der Ufer ihren ständigen Wohnsitz bezogen.
Zahlreiche Schicksalsherausforderungen entfielen auf das Los unserer Ururgroßväter. Nicht gewöhnt an ein Leben unter kontinentalen Bedingungen, litten sie unter Malariaanfällen. In den ersten zehn Jahren gab es im Wolgagebiet ständig Missernten. Die Umsiedler waren gezwungen, sich mit dem Jagdgewerbe, häuslichem Handwerk zu beschäftigen, um ein paar Groschen für das Essen einzunehmen. In den Siedlungen traten regelmäßig Epidemien auf, und zwar nicht nur bei den Menschen, sondern auch beim Vieh; die Todesrate war sehr hoch. Die Bedingungen, welche die hohe Sterblichkeit begünstigten, herrschten auch noch Jahrhunderte später. 1909 wurden in der Ortschaft Stahl 128 Kinder geboren, aber 178 Menschen starben; in Kukkus gab es 109 Geburten, 128 holte der Tod heim. In diesen schwierigen Jahren erblickten auch meine Urgroßväter das Licht der Welt: Wenjamin Sokolowskij (geb. 1905), Fjodor Jakowlewitsch Frank (geb. 1905), Georgij Jakowlewitsch Gof (geb. 1901), sowie meine Urgroßmütter: Amalia Sokolowskaja (Miller) (geb. 1908), Natalia Frank (Grenz) (geb. 1903), Jekaterina Gof (Weinbender) (geb. 1902).
Elf Jahre später trug das erntelose Jahr 1920 hunderttausende menschlicher Seelen im Wolgagebiet mit sich fort, und die Hungersnot des Jahres 1933 brachte nicht weniger Elend mit sich. Zu der sich ständig verschlechternden wirtschaftlichen Lage der Deutschen an der Wolga und anderer Bezirke des Landes kamen in immer stärkerem Maße die Einschränkungen der Rechte und die unmittelbare Verfolgung der deutschen Bevölkerung hinzu.
In den Jahren 1926-1936 kam es zu einer Plünderung deutscher Bauern unter der Flagge der „Entkulakisierung“, die von ihrer Verbannung und physischen Vernichtung begleitet war. Zwischen 1931 und 1936 wurden die deutschen Schulen geschlossen und die deutschen Kirchen zerstört.
Am 22. Juni 1941 hörten auch die Wolgadeutschen eine schreckliche Nachricht. Zahlreiche Männer rannten in die Kriegskommissariate, doch dort sagte man ihnen: „Geht bis zur besonderen Verfügung wieder nach Hause“. Konnte den irgendjemand in der Republik der Wolga-Deutschen erahnen, um was es sich bei dieser „besonderen Verfügung“ handeln sollte“ Selbst in den schlimmsten Träumen hätte man sich doch nicht ausmalen können, was bald zur Gewissheit würde, was die Ohren hörten und die Augen sahen. „Unter Berücksichtigung des Umstands, dass es unter der deutschen Bevölkerung der ASSR der Wolgadeutschen zahlreiche Spione und Diversanten gibt, ist die Republik aufzulösen und die deutsche Bevölkerung in andere Orte der Sowjetunion auszusiedeln“, - stand in den Zeitungen des 28. August 1941 zu lesen.
In welcher verfluchten Minute, zu welcher Stunde war dem „Vater aller Völker“ dieser schreckliche, dem Wesen nach unmenschliche Gedanke in den Sinn gekommen!?
Am 1. September liefen die Kinder, anstatt in die Schule zu gehen, zusammen mit den Eltern geschäftig hin und her, halfen Sachen zu packen und die Bündel zu verschnüren. Niemand wusste, wohin sie einen bringen würden, welcher Kleidung sie mitnehmen sollten; deswegen verstauten sie in geflochten Körben und Bastmatten auch die traditionellen Strohhüte und ärmellosen Jacken. Für alle Fälle verbargen sie unter der Unterwäsche noch die Bibel und protestantische Kreuzchen, Lehrbücher und Familienalben. Si begaben sich meine Urgroßeltern mütterlicherseits, Benjamin und Amalie Sokolowskij mit ihrer fünfjährigen Tochter Berta (meiner Großmama) auf die lange Reise. Aus der Familie meines Vaters wurden die Urgroßeltern mit ihren Kindern nach Sibirien geschickt. Fjodor Jakowlewitsch und Natalia Andrejewna Frank, ihre Kinder: Maria (16 Jahre), Fjodor (14 Jahre), Robert (11 Jahre – mein Vater). Georgij Jakowlewitsch Gof Hof?) mit Ehefrau Jekaterina (Katharina?) und ihren Kindern: Georgij (18 Jahre), Fjodor (17 Jahre), Maria (13 Jahre) – meine Großmutter), Milja (11 Jahre), Lydia (3 Jahre). Man verfrachtete sie in Viehwaggons. Der Zug, in dem meine Urgroßeltern fuhren, führte zuerst in den Norden und drehte dann ab in Richtung Kasachstan. Viele Tage und Nächte „krochen“ sie durch endlose Steppen. Sie dachten, dass man sie in Semipalatinsk ausladen würde, doch die Doppel-Loks zogen den Zug immer weiter. Und wieder ratterten die Räder über die Verbindungsstellen der Gleise, Hügel und Birkenwäldchen jenseits der Waggon-Türen, lange Zug-Halte, während derer es nicht gestattet war auszusteigen. Als ob sie Gefangene transportierten. Erst am 20. September wurde in Krasnojarsk ihre Entladung angekündigt. Es ist nicht bekannt, über welche Instanzen und nach welchen Papieren man dabei ging, aber die Bezirke innerhalb der Region waren für ihre Ansiedlung bereits festgelegt worden. Meine Urgroßväter wurden dem Suchobusimsker Bezirk zugeschrieben. Am frühen Morgen brachte man sie nach Saton, in den geschützten Liegehafen der Stadt Krasnojarsk. Ob es auf der Route Passagierschiffe gab oder ob ein derartiger „Komfort“ nicht vorgesehen war, jedenfalls verfrachtete man hunderte Menschen, darunter auch Kinder, auf das Bugsierschiff „Krasnojarsker Arbeiter“, wo sich neben Winden auch zahlreiche Fässer mit Erdölrückständen befanden und Schiffstaue herumlagen.
Sie trafen in Atamanowo ein. An der Getreide-Annahmestelle kam eine Fuhrwerk mit Korn aus Kowrigino an, das dann auch die Familie meines Großvaters Robert Frank und noch ein paar weitere Familien mitnahm. In Kowrigino trafen sie erst ein, als es bereits dämmerte. Man brachte sie bei einer alleinstehenden Frau unter. Dort lebten sie bis zum Frühling.
Die Familie von Oma Maria (Gof) geriet nach Schila, die Familie von Oma Berta (Sokolowskaja) – nach Krasnye Gorki.
Im Januar 1942 wurden erwachsene Männer und schon etwas ältere Jugendliche in die Trud-Armee einberufen. Auch meine Urgroßväter Benjamin Sokolowskij, Fjodor Frank und Georgij Gof holten sie zum Holzeinschlag. Die Arbeit war hart, und sie wurden sehr schlecht verpflegt. Viele kehrten damals nicht wieder zu ihren Familien zurück. Auch die Urgroßmütter erlebten die Rückkehr ihrer Männer nicht mehr. Sie blieben allein mit den Kindern zurück. Aber man musste weiterlieben, und deswegen gingen alle Kinder, mit Ausnahme der kleinsten, arbeiten. Im Winter besorgten sie Brennholz für das Suchobusimsker Wärmekraftwerk, im Sommer stellten sie handgemachte Strohziegel her.
In jenen unheilvollen Jahren hatten auch die Ureinwohner Sibiriens ein schweres Leben. 1941 wurde mein anderer Urgroßvater Leonid Wassiljewitsch Bykow, geboren 1903, aus Nachwalka, in die Armee einberufen. Er war Sergeant bei der Garde, kommandierte eine Abteilung. Er starb im Februar 1945. Begraben ist er im Dorf Prerstitten (damalige Bezeichnung) im Kalingrader Gebiet. Das haben wir aus dem „Buch der Erinnerung“ erfahren. Und der Urgroßmutter hatten sie ein Telegramm geschickt, daß er verschollen war. Urgroßmutter Lisa blieb ebenfalls allein mit ihren kleinen Kindern an der Hand zurück. Darunter auch mein Opa Nikolaj Leontjewitsch Bykow. Ihm gelang es lediglich die Grundschule zu absolvieren, länger konnte er nicht zur Schule gehen, denn zu der Familie gehörten sieben Kinder, aber es gab nur einen Ernährer – die Mutter. Um die Familie zu unterstützen ging er arbeiten. Er wurde erwachsen und heiratete Berta Sokolowskaja. Seine geringen Lese- und Rechtschreibfähigkeiten hinderten ihn nicht daran, ein erstklassiger Fahrer und später führender Traktorist zu werden. Für seine gewissenhafte Arbeit und seine hervorragenden Leistungen wurden ihm nicht nur einmal Ehrenurkunden, Ehrennadeln und Geldprämien verliehen. Als er sich bereits im Ruhestand befand, reparierte er noch Motoren der Traktoren-Serie K-700. Jetzt lebt er in Bolschyje Prudy, aber seine Gesundheit gestattet es ihm nicht mehr, sich mit allen möglichen Dingen zu beschäftigen.
Meine Grußmutter, Berta Bykowa (Sokolowskaja), beendete in der Pawlower Region die Siebenklassen-Schule, die achte Klasse konnte man nur an der Suchobusimsker Schule absolvieren.
Damals ziehen Oma Berta und ihre Mama in die dritte Abteilung der Sowchose „Tajoshnij“ um, und jeden Morgen geht Oma Berta, zusammen mit den anderen Kindern, zufuß in die Suchobusimsker Schule und abends wieder zurück. Am liebsten mochte Oma Berta im Winter in die Schule gehen – da fuhren sie mit Skiern, und in einer halben Stunde waren sie an Ort und Stelle. Sie beendete die Schule, fing an zu arbeiten. Sie arbeitete sehr gut, anfangs als einfache Arbeiterin in einer Ackerbau-Brigade, später ernannte man sie zur Gruppenleiterin. Die Verantwortung für die gesamte Gruppe lag auf ihren Schultern, und sie kannte keine Müdigkeit, sondern arbeitete von früh bis spät. Der Großmutter wurden Ehrenurkunden verliehen und wertvolle Geschenke überreicht. Oma Berta wurden drei Medaillen für ihre Teilnahme an der Allunions-Landwirtschaftsausstellung in den Jahren 1955, 1957 und 1958 überreicht. Aufgrund ihrer guten Arbeit wurde sie zum Studium auf das Rybinsker Landwirtschaftstechnikum geschickt. Sie beendete das Technikum und kam zur zweiten Abteilung, wo sie als Technikerin im Tierzuchtsektor arbeitete. Großmutter war eine aufmerksame Frau, verantwortungsvoll und unentwegt bemüht. Als der Buchhalter im Kontor ausgetauscht werden mußte, erklärte sie sich damit einverstanden, den Posten zu übernehmen, aber ihre Hauptarbeit ließ sie deswegen nicht liegen. Und es war leicht, mit ihr im Kontor zu arbeiten; man schickte sie zu Buchhaltungslehrgängen. Diese Aufgabe bewältigte Großmutter Berta ebenso, wie jede andere auch – ganz hervorragend. Sie begann als Ökonomistin und Normsachbearbeiterin zu arbeiten. Sie war ein fröhlicher, verständnisvoller Mensch, jederzeit bereit, anderen zu helfen. So haben die Leute sie noch heute in ihrer Erinnerung. Ich habe meine Oma nie gesehen, weil sie starb, als ich noch gar nicht auf der Welt war.
In der Familie von Nikolaj und Berta Bykow wurden insgesamt vier Kinder geboren: Vladimir (1962), Viktor (1965), Valentina (1966) und Alexander (1976).
Großmutter Maria Gofs Familie geriet zunächst nach Schila und zog 1944 nach
Kirpitschnij. ierher nach Kirpitschnij war bereits im Jahre 1942 die Familie von
Großvater Robert Frank gezogen. Alle Kinder der Zwangsumsiedler arbeiteten
zusammen, und so waren der Großvater und die Großmutter damals auch noch Kinder,
als sie sich kennenlernten. Aber 1948 fährt Robert Franks Familie nach
Krasnojarsk zur Woroschilowsker Nebenwirtschaft, aber die Wirtschaft zerfiel,
und sie mußten erneut des Weges ziehen. 1949 kamen sie zur vierten Abteilung in
die Sowchose „Tajoschnij“, aber dort konnte man nirgends wohnen. Sie lebten in
einer Wohnung in Abakschino, etwa 3-4 km von der 4. Abteilung entfernt, wo sie
auch jeden Tag zur Arbeit hingehen mußten. So überstanden sie den Winter, und
als der Frühling kam, da keimte in den Menschen die Hoffnung auf ein besseres
Los auf. Einige Familien taten sich zusammen und begannen, sich eine gemeinsame
Erdhütte zu bauen. Und gerade, nachdem es ihnen gelungen war, sich dort
einigermaßen einzuleben, mußten sie sie auch schon wieder verlassen, denn sie
hatte die Erdhütte auf fremdem Boden gebaut. Nach den Worten des Großvaters „bastelten
sie sich später eine kleines Häuschen aus Holzbrettern zusammen, nagelten
Dachschindeln darauf und strichen alles an“. In so einem Häuschen lebten sie
dann also, und 1951 begab sich der Großvater zu Pferde nach Kirpitschnij und
brachte seine Ehefrau Maria Gof (Hof) mit nach Hause. Wie man sagt, wurden die
Kinder „in größter Enge geboren, aber niemand hat sich beschwert": Alexander
(1953), Viktor (1955), Mina (1957), Fjodor (1959, mein Vater).
Neun Jahre später verbesserten sich die Lebensbedingungen ganz erheblich; sie
zogen in ein Haus aus Balken in einer neuen Siedlung, und dort leben sie auch
heute noch. Großmutter zog die Kinder groß, und als die Möglichkeit bestand zu
arbeiten, da verdingte sie sich als Saison- und Hilfsarbeiterin. Ihre
Dienstjahre betrugen 20 Jahre; die Kinder wuchsen heran. Jetzt ist sie in Rente.
Bis 1966 arbeitete Großvater Robert bei verschiedenen Arbeitsstellen als
Fuhrmann; 1966 wurde er zum leitenden Pferdepfleger ernannt, denn er ist ein
sehr verantwortungsbewusster Mensch. Auf diesem Posten blieb er bis 1991. Der
Großvater hat 42 Jahre lang gearbeitet – und gut hat er seine Arbeit gemacht.
Das kann man in seinem Arbeitsbuch nachlesen, das mit dem 20. August 1963
beginnt und bis zum 17. November 1988 geht. Darin gibt es 22 Eintragungen von
Dankbarkeitsbekundungen sowie Verleihungen von Geldprämien. 1957 erhielt der Opa
eine Medaille „Wegen der Urbarmachung von Neuland“, und 1984 die „Arbeitsveteranen“-
Medaille wegen seiner langjährigen gewissenhaften beruflichen Tätigkeit. Jetzt
ist der Großvater schon in Rente.
Meine Mutter machte nach Abschluss der Bolscheprudowsker Schule in der
Gorki-Fachschule für Pädagogik in Krasnojarsk ihre Berufsausbildung – Lehrerin
der Grundschulklassen. Sie arbeitet nun schon seit 17 Jahren an der Istoksker
Schule, lehrt die Kleinen Schreiben, Rechnen und Lesen, das Schöne zu sehen und
die Natur zu lieben. All das hat sie auch mir beigebracht – meine Mama und erste
Lehrerin.
Papa hat seine ganzen 42 Jahre in Istok gelebt. 26 davon hat er in der Sowchose
„Tajoschnij“ als Pferdepfleger gearbeitet. Er liebt seine Arbeit sehr, alle
Pferde kennt er mit Namen, weiß genau, welches Pferd welchen Charakter hat. Viel
Mühe macht es, wenn die Fohlen das Licht der Welt erblicken – sie brauchen eine
ganz besondere Pflege. Papa ist ein Alleskönner: er weiß, wie man Sattelzeug
flickt, er kann neues nähen und dekorativ gestalten, dass es allein für ihn
schon schön aussieht und er es den anderen zeigen kann.
Nachdem ich mich mit meine Vorfahren eingehender beschäftigt habe, kann ich mit
voller Überzeugung sagen: sie sind und waren fleißige Menschen. Ich darf stolz
auf sie sein.
W. Frank
Schüler der 10.Klasse der Kononowsker Mittelschule
„Land-Leben“ (Suchobusimskoje), 01.06.2002