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Der Kolumbus des Sowjetischen Lager-Archipels

20 Jahre Lager wurden zum schlimmsten
Abenteuer des Komintern-Agenten Jacques Rossi,
Autor des berühmten «GULAG-Wörterbuchs“»

Dieser Mann heißt Jacques Rossi. Geboren wurde er 1909. Neben einem soliden Alter verfügt er auch noch über eine Biographie, die in der Lage ist, selbst einen gestandenen, weltgewand-ten Mann zu erschüttern. Jacques wurde in Frankreich geboren; als Kind zog er gemeinsam mit seiner Mutter nach Polen, als Student trat er der polnischen kommunistischen Partei bei. Er erlernte eine Vielzahl Sprachen, einschließlich recht exotischer wie Chinesisch und Hindi. Derart linguistische Fähigkeiten konnten nicht unbemerkt bleiben. Der Kommunist Rossi war ab 1928 geheimer Agent der Komintern und bereiste in dieser Eigenschaft die halbe Welt mit falschem Pass und besonderen Koffern, in denen er geheime Dokumente mit sich herumtrug. 1937 reiste er aus dem kriegführenden Spanien, wo er eine der geheimen Radiostationen geleitet hatte, in die UdSSR. Schon bald darauf wurde er verhaftet. Aus dem Lager kam er 20 Jahre später, doch eine noch viel längere Zeit verstrich, bis Jacques Rossi über Polen und die USA nach Frankreich gelangte.

Es lässt sich nur vermuten, was dieser talentierte Mann tun konnte, nachdem er in Freiheit lebten durfte. Übrigens, Rossi verstand es auch, seine Lagererfahrung in die Zeilen eines Buches zu übertragen. Das Material dafür sammelte er über einen Zeitraum von beinahe zwanzig Jahren Tatsachenmaterial. Übrigens, für den Fall einer Durchsuchung schrieb er seine Aufzeichnungen hinter Stacheldraht in Französisch, aber mit Hilfe des tibetanischen Alphabets.

Erst kürzlich erschien im Verlag «Le cherche midi» Rossis neues Buch «Der Franzose Jacques zum Gedenken an den GULAG», das er gemeinsam mit dem Literaten Michel Sarde schrieb. Wir «vermischten» das Interview mit Zitaten aus dem vorletzten Buch Jacques Rossis «Wie herrlich sie war, diese Utopie!» in der Übersetzung von Natalia Gorbanewskaja.

* * *

Noch zehn Jahre zuvor, als er in die UdSSR kam, war Rossi rüstig und rege und trank in Moskauer Küchen Wodka ohne betrunken zu werden — so, wie es nur alte Häftlinge können. Aber die Jahre fordern ihren Tribut, und heute verlässt Jacques nur noch selten seine Wohnung im 13. Quartier von Paris. Er befindet sich in der Pflegschaft katholischer Ordensschwestern. Er wohnt in einem kleinen Zimmer mit asketischer Einrichtung, die aus einem Kruzifix über dem akkurat gemachten Bett und zwei Stühlen besteht. Dier bedächtige Redefluss des alten Mannes wird nur gelegentlich vom Lärm der Metro-Züge unterbrochen, welche hier auf oberirdischen Gleisen fährt.

— Ihr erstes Buch, das noch in der UdSSR herauskam — «Nachschlagewerk des GULAG», beinhaltet ein großes Wörterbuch der Lagersprache, in der die Insulaner des Archipelag sich unterhielten, und mit ihnen auch ein großer Teil des Landes. Sie verblüfft den Unvorbereiteten mit ihrem vulgären Wortschatz. Weshalb verkehrten die Menschen ausgerechnet in so einer Sprache miteinander?

— In keiner anderen Sprache gibt es so eine mächtige Vielfalt an unzensiertem Wortschatz. Die Staatsmacht verkehrte mit dem Volk in einer ausgedachten, verfälschten Sprache der Führer und Zeitungsübersetzer, und die Menschen antworteten darauf in adäquater Weise. So gut es konnte.
«Gesteh, du verfluchter Faschist, gesteh!

— Ich habe nichts zu gestehen, — schwöre ich von Zeit zu Zeit.

Das löst beim Ermittlungsrichter jedes Mal einen neuen Wutanfall aus. Die Untersuchungsrichter lösen sich alle fünf bis sechs Stunden ab. Aber ich stehe die ganze Zeit da, mit den Händen auf dem Rücken. Fünf Tage und sechs Nächte hintereinander. Ich begreife nicht genau, was um mich herum vor sich geht. Das auf meine Augen gerichtete Licht verschwindet. Ich gehe...»

— Sie haben nach ihrer Ankunft in Russland, aus Spanien kommend, weniger als ein Jahr in Freiheit verbracht und gerieten danach für viele Jahre hinter Stacheldraht. Können Sie für sich den Augenblick definieren, als Sie aufhörten Kommunist zu sein?

— Es ist schwer, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen. Vielleicht ist das sogar unmöglich. Es ist wie in Liebesromanen. Zuerst die Verfremdung, dann die Trennung, zum Schluss der endgültige Bruch. Die Lagererfahrung hat dabei geholfen, die Irrealität der kommunistischen Ideen zu empfinden. Als ich noch ein ideologischer Kommunist war, stieß ich auf Fakten, die mich davon überzeugten, dass es da etwas Unrealistisches gab. Aber ich wollte nicht zugeben, dass das alles nur ein Mythos war.

— Und was ist das am meisten Irreale am Kommunismus?

— Jene Erfolge, welche die Gesellschaft erreichen soll, damit die Menschen ein gutes Leben führen können. Jeder einzelne von ihnen und dementsprechend alle gemeinsam. Die kommunistischen Führer sind nicht in der Lage, nach den jeweiligen Kategorien der Persönlichkeit zu denken. Das, was ich erlebt habe — ist wohl Glück, Erfolg. Mir hat meine Neugier geholfen. Ich begeisterte mich sehr für die kommunistischen Ideen, und wenn ich etwas nicht verstand, unternahm ich gewaltige Bemühungen, um in den Kern der unverständlichen These vorzudringen. Aber hier, im Lager, — da hat man alles voll im Blick.

Sie bringen mich nach unten, in den Keller, über irgendeine Türschwelle. Ein nackter, kahler Raum. Ein paar warme, feuchte Flecken. Ein Wasserhahn und ein Eimer mit Wasser. Ein Hauptfeldwebel und zwei Soldaten wischen sich den Schweiß von der Oberlippe. Der Hauptfeldwebel wirft einen Blick auf meine Registrierkarte und spießt sie an einem Nagel auf. Dort hängen schon viele solcher Karten. Ohne ein Wort zu sagen, beginnen sie mich zu schlagen. Ich weiß nicht wie ich dorthin gekommen bin, aber irgendwann liege ich auf dem Betonboden. Alles ist wie im Nebel. Als ich zu mir kam, sah ich über mir einen Soldaten mit dem leeren Eimer in den Händen. Ich begreife: sie haben mich mit Wasser übergossen. Sie heben mich auf und fangen erneut an mich zu schlagen. Sie schlagen mit den Fäusten, treten mit ihren Stiefeln. Bevor ich erneut das Bewusstsein verliere, gelingt es mit noch an der Militärbluse des Hauptfeldwebels das Komsomolzen-Abzeichen mit dem Profil Lenins auf einem roten Banner zu bemerken. Derselbe Lenin, der uns so ausführlich eine helle Zukunft versprochen hatte.

— Was war am schwierigsten für Sie?

— Es war schwer zu begreifen, die Wahrheit zu sehen.

— Ist das nicht noch schwieriger, als Hunger, Kälte, Prügel, Todesdrohungen?

— Wenn du Hunger hast, wenn sie dich prügeln — das ist schwer, aber das alles kann man irgendwie überstehen. Es heißt, Hunger sie schlimmer als Folter. Davon bin ich nicht überzeugt. Natürlich kann man sich nicht daran gewöhnen, aber man kann es aushalten und überstehen.

— Was empfanden Sie nach der Entlassung aus dem Lager?

— Wissen Sie, ich konnte die UdSSR nicht verlassen, nachdem ich aus dem Lager gekommen war. Aber wenn du in der Sowjetunion bleibst, ist es dasselbe, als wenn du im Lager bleibst.

— Warum hat man Sie so lange Zeit nicht aus dem Land ausreisen lassen?

— Die Bemühungen der Beamten standen in einem proportionalen Verhältnis zu meinen Versuchen nach Hause fahren zu dürfen. Je aktiver ich in meinen Bemühungen war, umso größer waren ihre Anstrengungen mich daran zu hindern. Das ist ein sogenannter menschlicher Faktor des sowjetischen Systems, bei dem die gesamte Garstigkeit des Menschen vor der Staatsmacht nach außen fließt. Ich würde hier das Wort «Garstigtun» benutzen, es charakterisiert eine Menge dessen, was in der UdSSR geschah. Das wichtigste Garstigtun — ist der «Parteibefehl», aber es gab auch andere, geringfügigere, privater Art.

— Hassen Sie die Menschen, die Ihr Leben zerbrochen haben?

— Nein.

— Haben Sie denn alles Böse verziehen?

— Nein, ich habe, wie mir scheint, ganz einfach den Mechanismus verstanden, der es dem Menschen erlaubt, an das Unmögliche zu glauben. Niemandem böse zu sein. Der Mensch ist in der Lage, an jeden beliebigen Hundesohn zu glauben, der eine neue Religion erschafft.

«Wenn du einen Menschen begleitest, den zu erschießen dir befohlen wurde, muss man unbedingt daran glauben, dass seine Hände fest auf dem Rücken zusammengebunden sind. Dann lässt du ihn mit geladenem Revolver in der Hand vorneweg gehen, während du ihm mit zwei Schritten Abstand folgst und ihm die Befehl «Nach links!», «Nach rechts!», «Die Treppe hoch!» usw., erteilst. Bis zu der Stelle, an der die Reinmachefrau Sägespäne oder Sand gestreut hat. Dort hältst du ihm den Revolver an den Hinterkopf, aber ohne diesen zu berühren, damit er nichts errät. Du drückst ab und gibst ihm im selben Moment einen letzten Fußtritt...

— Und wozu? — fragte ich verwundert.

— Damit das Blut nicht deine Militärbluse bespritzt. Stell dir doch mal vor, wieviel Kraft seine Ehefrau aufwenden müsste, um sie jeden Tag auszuwaschen!»

— Warum hat sich Russland nicht die ganze Zeit so benommen?

— Vielleicht deswegen, weil im Lande alles ziemlich spät geschieht.

Michail Gochman
Moskauer Nachrichten, ¹22 11 – 17. Juni 2002


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