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Warum hat man uns die Heimat genommen?

Tag des Gedenkens an die Opfer der politischen Verfolgungen

Am Vorabend des Gedenktags an die Opfer der politischen Repressionen kommt man nicht umhin, an die verkrüppelten Schicksale der Menschen zu denken, denen der Große Vaterländische Krieg zum Verhängnis wurde, die gezwungen wurden ihre Heimatorte verlassen und in die Fremde zu fahren. 1941 begann die sowjetische Regierung zur Vermeidung einer möglichen Begünstigung und Unterstützung der deutschen Truppen durch die Russland-Deutschen mit den Massen-Repressalien. Per Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 "Über die in den Wolga-Rayons lebenden Deutschen" wurden die Menschen in die entlegensten Ecken des Landes ausgewiesen, insbesondere auch nach Sibirien. In unserem Bezirk gibt es zahlreiche Menschen, die dieses Los ereilte. Wir trafen mit Augenzeugen jener verhängnisvollen Ereignisse zusammen und baten sie zu erzählen, wie es damals war.

Ehemalige Bewohner des Dorfes Lugowoje im Gebiet Saratow erinnern sich, wie sie am Morgen des 5. Septembers 1941 von NKWD-Mitarbeitern geweckt wurden, die ihnen mitteilten, dass sie innerhalb einer Stunde die notwendigsten Dinge zusammenpacken sollten. Wohin sie geschickt würden und warum – erklärte man ihnen nicht. Nachdem sie ein wenig Essen eingepackt hatten (viele vergaßen in der Eile sogar wichtige Dokumente mitzunehmen), traten sie auf die Straße hinaus, wo sie von Soldaten mit Automatikgewehren umstellt und zur Bahnstation gebracht wurden – manche fuhren in von Pferden gezogenen Leiterwagen, andere hatten Ochsen dabei. Es schien, als wäre die Kette der Menschen endlos lang. Die Männer gingen mit gesenkten Köpfen, Kinder und Frauen weinten.

Am Bahnhof hieß man sie in Waggons einsteigen, die sonst für den Transport von Vieh genutzt wurden, und brachte sie ins Ungewisse. Nachdem sie einige Tage unterwegs gewesen waren, wurde ein Teil der Familien in Kasachstan abgesetzt, die übrigen wurden weitertransportiert – nach Sibirien. So gerieten in das Dorf Trassutschaja etwa dreißig Familien. Unter ihnen – die Familie Foos (Genrich Genrichowitsch, Maria Karlowna, ihre Kinder – Maria, Irma, Amalia, Mina, Andrej, Katharina und Emma); Familie Wamboldt (Friedrich Friedrichowitsch und Maria Christophorowna, ihre Kinder – Maria, Friedrich, Irma und Wolodja). Eine weitere Familie – die Fritzlers – gerieten in das Dorf Bolschie Cyry (Katharina Petrowna und ihre Kinder – Emilia, Alexander, August und Maria).

Emilia Friedrichowna Dorsch (Fritzler) erinnert sich: «Sie haben uns nachts transportiert. Als wir unseren neuen Wohnort sahen, fingen wir vor lauter Verzweiflung einfach nur an zu weinen. Wir konnten uns nicht einmal im Entferntesten vorstellen, wie wir hier leben sollten. Das Hauptproblem war die Sprachbarriere: wir sprachen schlecht Russisch. Alexander Friedrichowitsch griff uns dabei unter die Arme, mein ältester Bruder. Damals hatte er bereits 7 Schulklassen absolviert und konnte im Balachtinsker Dorfladen, der ihm auch zu einer Wohnung verhalf, Arbeit finden. In Balachta ließen wir uns nieder».
Emilia war zwölf Jahre alt, als sie eine Arbeit als Dienerin annahm, um sich ernähren zu können. Sie arbeitete ungefähr drei Jahre, bis die Familie wieder auf die Beine gekommen war; dann verließ sie den Arbeitsplatz und kehrte zu ihren Angehörigen zurück. Emilia Friedrichowna erinnert sich, dass man sich ihnen, den Umsiedlern, gegenüber so benahm, als wäre es Vieh, und man bezeichnete sie noch lange Zeit als "Fritzen"; das war besonders für die Kinder sehr schwer zu begreifen.

Doch es gelang der Familie Fritzler alle harten Prüfungen zu überstehen, die das Schicksal ihnen vorsetzte. In Emilia Friedrichownas Arbeitsbuch gibt es lediglich zwei Einträge: eingestellt und gekündigt auf eigenen Wunsch. Fünfunddreißig Jahre arbeitete sie ehrlich und ohne Beanstandungen im Sowjet-Staat. Aber sie konnte nie verstehen, weshalb man in jenen Jahren so grausam mit ihnen widerfuhr?! Jetzt befindet sich Emilia Friedrichowna im wohlverdienten Ruhestand; sie hat drei wunderbare Kinder großgezogen, die von allen geachtet werden, und hilft jetzt bei der Erziehung der Enkel und Urenkel.

Auch Maria Genrichowna und Friedrich Friedrichowitsch Wamboldt teilten ihre Erinnerungen: "Als sie die Familie nach Trassutschaja brachten, traten alle Dorfbewohner auf die Straße hinaus und starrten uns an. Aber man konnte auch folgende Worte hören: "Na so was, ihr seht ja genauso aus wie wir: seid auch in Hemd und Hose. Und wir dachten – ihr seid aus Fell und euch wachsen Hörner!".

In die Schule ließ man uns nicht, wir wurden verprügelt und beleidigt. Von allen Seiten vernahm man nur Beschimpfungen: "Fritzen! Fritzen!". Wir besaßen kein Recht das Dorf zu verlassen, und jeden Monat mussten wir uns einmal bei der Kommandantur melden – bis 1956. Die ersten drei Jahre teilte man uns noch nicht einmal ein winziges Stückchen Land zu. Wir tauschten unsere Kleidung gegen Essbares ein und mussten uns in Sackleinen kleiden. Um uns zu ernähren sammelten wir auf dem Feld Ähren, die nach der Ernte übriggeblieben waren".

Mit der Behausung hatten sie es besonders schwer. Die Familie Foos und acht weitere Familien wurden im Gebäude der ehemaligen Bäckerei untergebracht. Der Ofen diente ihnen als Bettstelle, und an Möbeln gab es lediglich einen Tisch und eine Sitzbank. Heute fällt es einem schwer, sich so etwas vorzustellen, aber so war es.

Maria Genrichowna und Friedrich Friedrichowitsch zogen drei Kinder groß und arbeiteten ihr Leben lang am neuen Wohnort. Doch bis heute werden sie von eoner Frage gequält: "Warum nahm man ihnen die Heimat? Warum?!".

Ich würde mich gern für unseren Staat, der mit ihnen so grausam umgegangen ist, vor allen entschuldigen, die unter den politischen Verfolgungen zu leiden hatten.

A.MATWIENKO, Leiterin der Vereinigung "Erinnerung" beim Zentrum für außerschulische Arbeit "Rowjesnik".

„Dorf-Nachrichten“ (Balachta), 25. Oktober 2002
Das Material wurde vom Balachtinsker Heimatkunde-Museum zur Verfügung gestellt.


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