Lange ist es her – wir schrieben das Jahr 1954. Ich lebte mit der Familie im Gebiet Tjumen. Man hatte ins von der Wolga dorthin ausgewiesen. Zu der Zeit war die Haftstrafe meines Mannes D.D. Schultais (Schultheiß?; Anm. de. Übers.) zu Ende, und wir warteten auf seine Freilassung. Verurteilt worden war er nach § 58 – „Vaterlandsverrat“. 10 Jahre waren bereits vergangen. Briefe kamen nur selten, und sie gingen an die Großmutter, die bei mir wohnte. Und da, am 5. Mai, traf ein Brief ein, in dem David schrieb, dass er in Krasnojarsk sei. Sie hatten ihn auf Bewährung entlassen, und jetzt sollte er zwei Jahre lang hier unter Kommandantur-Aufsicht leben und arbeiten. Er bat darum, dass ich und unser Sohn, sofern möglich, zu Besuch kommen sollten, und teilte mir die Adresse des Wohnheims mit. Wie sollten wir das bewerkstelligen? Ich beschloss, niemandem etwas davon zu erzählen, sondern mich klammheimlich mit dem Sohn auf den Weg nach Krasnojarsk zu machen.
Am Ende des Schuljahres gibt es in der Schule immer eine Menge Arbeit, und dann noch die Sorge: wie sollen wir fahren, wie sollen wir uns an diese Kommandantur wenden, wie werden wir uns nach dieser langen Trennung begegnen? Womit wird das alles enden? Nachdem ich Anfang Juni Urlaub bekommen hatte, machten wir uns auf den Weg. Ich schickte ein Telegramm, dass ich kommen würde. Der Zug traf um 5 Uhr morgens in Krasnojarsk ein. Überall Menschen, überall Trubel! Aber niemand holt uns ab! Wir beschlossen zu warten. Mein Sohn ergriff häufig meine Hand und sagte: “Mama, der da drüben ist Papa; er wartet auf uns”. Er war noch ganz klein gewesen, als sie den Vater in die Armee geholt hatten und ihn anschließend auch hinter Schloss und Riegel brachten. Ich schaute jedes Mal hinüber und meinte dann: „Nein. Söhnchen – das ist er nicht“.
Die Zeit verging langsam, die Sorge wuchs. Schon war es 6 Uhr und – niemand da! Und dann wurde es 7.
Wir waren umsonst gekommen! Niemand brauchte uns hier! Oder war vielleicht etwas geschehen? Ich beschloss ein Taxi zu nehmen und David zu suchen. Im Auto saß ein Mann mittleren Alters und las eine Zeitung. Ich fing an zu sprechen, stotterte und war aufgeregt. Er sah mich an und fragte: „Was ist mit Ihnen los? Geht es Ihnen nicht gut?“ Er öffnete die Tür, ließ mich einsteigen und wollte mir zuhören, aber ich konnte nicht sprechen, sondern brach in verzweifeltes Schluchzen aus. Der Fahrer versuchte mich, so gut es ging, zu beruhigen. Ich erzählte ihm alles. „Ich gebe Ihnen mein Wort, wir werden Ihren Mann finden; ich lasse Sie nicht zurück, bevor ich nicht mit eigenen Augen gesehen habe, dass alles in Ordnung gekommen ist; und wenn irgendetwas Schlimmes sein sollte, dann bringe ich Sie hierher und fahre nicht eher fort, bevor ich Sie nicht in den Zug gesetzt und zurückgeschickt habe“.
Sie luden sie Reisetasche ein und machten sich auf die Suche. An der ihnen bekannten Adresse erblickten sie ein neues zweistöckiges Haus mit einer Vortreppe. Auf den Stufen saßen mehrere Männer, die rauchten, und am Geländer – ein grauhaariger Mann. Ich fragte: „Wohnt hier David Davidowitsch Schultheiß?“ Der Mann trat zu mir heran: „ Sind sie Pani Schura?“ Dann nahm er meine Hand und küsste sie. Zu der Zeit lief einer der Männer, mit seinen Soldatenstiefeln laut stampfend, ins Haus hinein. Und mein Gesprächspartner, offensichtlich ein Pole, fuhr fort: „Pani Schura, nehmen sie von allen hier Anwesenden, die das Leben so hart gekränkt hat, die aufrichtige Dankbarkeit dafür entgegen, dass Sie sich über alles hinweggesetzt haben und zu David gekommen sind. Er liebt Sie“. Im Korridor hörte man Getrampel. Und: da rannte mein geliebter Mann mit einem Handtuch um die Schultern und eine Wange voller Seife auf die Vortreppe hinaus.
Als er mich sah, rang er vor Ergriffenheit nach Atem, drückte mich ganz fest an sich und sagte dann: „Du! Bist du das?“ Ich erinnerte mich an den Sohn. Er stand neben dem Fahrer am Auto, beiden liefen die Tränen hinunter. Ich sagte zu David: „Willst du deinen Sohn gar nicht umarmen?“ Er blickte sich um, sah seinen Sohn und stürzte auf ihn los: „Söhnchen, du warst noch ein ganz kleines Kind, als sie mich in die Armee holten, und jetzt bist du schon fast so groß wie ich“. Alle wunderten sich, wie ähnlich die beiden sich sahen! Da stehen sie neben mir – die beiden, die mir das Liebste im Leben sind – zwei Schultheiß‘!
Ich ließ die beiden stehen, ging zum Fahrzeug hinüber und fragte den Fahrer: „Wieviel schulde ich Ihnen? Sie haben so viel für mich getan, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.“ Er sah mich an, drückte meine Hand und erwiderte: „Seien Sie glücklich. Sie haben so viel durchgemacht“. Schnell setzte er sich ins Auto und brauste davon.
An allem war nur das Telegramm schuld gewesen!
A. Schultheiß, Ortschaft Atamanowo
„Land-Leben“ (Suchobusimskoje), 14.11.2002