Die Geschichte unserer Region setzt sich aus vielen verschiedenen Seiten zusammen, unter anderem auch aus sehr tragischen, die im Zusammenhang mit politischen Massen-Verfolgungen stehen. So wurde zwischen 1948 und 1953 im Norden unserer Region die Eisenbahnlinie Salechard – Igarka gebaut. Dies geschah hauptsächlich durch Gefangene, von denen ein Großteil politische Häftlinge waren. Offiziell hieß das Objekt so: „Bauprojekt 503 der Hauptverwaltung der Lager für den Bau von Eisenbahnstrecken beim MWD“. Aber im Volksmund wurde es anders genannt – „Die Todesstrecke“.
Nein, äußerlich sah alles wie bei einem ganz gewöhnlichen Ausbau einer Eisenbahnlinie aus. Bäume wurden gefällt, Baumstämme gerodet, Vertiefungen in den Boden gemeißelt. Brücken und Überführungen gebaut, gefolgt von der Verlegung der Schwellen und Schienen. Außerdem wurde eine Autostraße ausgebaut, Scheinwerfer und Telegrafenmasten aufgestellt. Und es wurden sogar mit Binnenschiffen ein paar Lokomotiven herangeschafft.
Allerdings muß man berücksichtigen, daß der Bau in der tiefen, unwegsamen Taiga stattfand, in einer Zone ewigen Frostes. Daher auch die schwierigen Wetterbedingungen: die grausame Winterkälte, die Skorbut-Epidemien im Frühjahr, die tägliche Folter durch Mückenschwärme im Sommer, und im Herbst die undurchdringlichen Sümpfe. Und das wichtigste war, daß der ganze Plan in Moskau festgelegt wurde, und zwar ohne jegliche Berücksichtigung der am Polarkreis vorliegenden, besonderen Gegebenheiten. Daher rührt auch die Irrealität der Tages-, Wochen- und Monatsnormen. Die Bauleitung begriff das sehrwohl, schrieb aber trotzdem gefälschte Rechenschaftsberichte und erstattete Bericht über nicht erledigte Arbeiten.
Die Memoiren und öffentlichen Auftritte am Leben gebliebener Männer dieser „Todesstrecke“, bezeugen, daß sie sehrwohl die ganze Absurdität der Arbeit nur um ein paar „Häkchen“ willen erkannt hatten (gemeint sind die Tagesarbeitseinheiten für erledigte Arbeit; Anm. d. Übers.).
Manchmal wurden sie für einen vorzeitigen Rapport an die Moskauer Leitung gezwungen, anstelle von Schotter mit Lehm vermischten Sand bei der Schienenverlegung zu verwenden oder Brücken ohne Frostschutz zu bauen (und das bei sibirischen Flüssen!).
Man brauchte gar keinen erstklassigen Spezialisten, um die bedauernswerte Kurzlebigkeit all der demütigenden, hektischen Trugbilder zu sehen. Seit dem Moment der Einstellung der Verlegungsarbeiten war noch nicht einmal ein halbes Jahr vergangen, als die Schienenstrecke buchstäblich vor den Augen der Menschen auseinanderfiel: Brücken gingen kaputt, die Schienen schwebten buchstäblich in einem Hohlraum über dem völlig aufgeweichten Bahndamm, die Scheinwerfer- und Telegraphenmasten waren aus dem Boden herausgerissen und standen schief und krumm am Bahndamm.
Und wir haben die Möglichkeit, auf Fotos das zu betrachten, was heute in der Taiga vom Lagerpunkt N° 6 übriggeblieben ist. Genau dort lebten die Häftlinge, die am Bau des Projektes N° 503 unmittelbar beteiligt waren. Die Fotografien wurden von dem professionellen Fotografen und Einwohner Igarkas – Wladimir Schonin Ende der 1980er Jahre aufgenommen.
Selbst auf diesen Aufnahmen kann man erkennen, mit welcher Überstürztheit der Bau der „Todesstrecke“ abgebrochen wurde. In der Taiga blieb alles zurück, was mit so viel Mühe (und riesigen Verlusten!) auf dem Flußwege dorthin gebracht und später dutzende von Kilometern in die tiefste Taiga geschafft worden war. Bis heute liegen dort Schienen. die ins Nichts führen, und auf ihnen stehen irgendwo völlig verrostete Lokomotiven, die auf dieser Strecke noch niemals gefahren sind. Erhalten geblieben sind die halbzerstörten Wände von Baracken, in denen die Häftlinge lebten, Fragmente von Häusern, in denen ihre Aufseher wohnten, sowie Wachtürme. Und außerdem sieht man noch Stacheldraht an hölzernen Pfählen.
Und obwohl das Hauptarchiv des Lagerpunktes abtransportiert wurde, fanden sich sogar gegen Ende der 1980er Jahre auf seinem Territorium noch Fragmente von Lagerdokumenten. Sie und zahlreiche in der Mitte durchgerissene Briefe der Häftlinge (man konnte sehen, daß sie von der Zensur direkt in ihren zugeklebten Briefumschlägen zerrissen worden waren), entdeckte dort der damalige Redakteur der Igarsker Zeitung – Rostislaw Gortschakow. Und dann sind an den Stellen auch noch riesige Lagerfriedhöfe erhalten geblieben. Ihre allerletzten anonymen Holzpflöcke kann man immer noch irgendwo mitten in der völlig verwucherten Tundra zu Gesicht bekommen.
Nachrichten
7. Dezember 2002