KRASNOJARSK Ein eiskalter sibirischer Winterabend und ein Brief an Stalin
Der Januar 1938 beginnt. Auch Sibirien wird um diese Zeit von den Stalinschen Säuberungen heimgesucht. Dreieinhalb Monate nach seiner Hochzeit verhaften Milizionäre in der Stadt Krasnojarsk den Lokomotivschlosser Vikenti Labezkij, den Ehemann von Valentina Labezkaja. Man wirft ihm vor, ein japanischer Spion zu sein.
Nicht allein, um Vikentis sofortige Freilassung zu erwirken, sondern um überhaupt zu wissen, wohin er gebracht wurde, schreibt die damals 18-jährige Valentina wenig später nach Moskau. Ein Brief, adressiert an das Zentralkomitee, an Stalin persönlich: »Lieber Jossif Wissarionowitsch. Mein Mann Vikenti ist ohne Schuld festgenommen wurden, er kommt aus einer Arbeiterfamilie, seine Schwester ist eine verdiente Komsomolzin.« Als Valentina Labezkaja mit diesen Sätzen ihren Brief beginnt, steht bereits fest, dass ihr Mann in das »Nori-Lag«, ein Straflager nördlich des Polarkreises, deportiert werden soll. Er wird dort acht Winter lang bei Temperaturen von bis zu 40 Grad unter null durchstehen müssen und wie hunderttausend andere Strafgefangenen die Stadt Norilsk und ein Industriekombinat mit aufbauen, das bis heute zu den größten Nickelproduzenten der Welt gehört.
Stalin trage gewiss keine Schuld, erinnert sich Valentina über 65 Jahre später an die Geschehnisse im Winter 1938. »Ich kann nicht verstehen, warum er das damals zugelassen hat. Ich glaube Berija, das war der Geheimdienstchef, müssen Sie wissen, der hat das alles angerichtet.«
Die Wanduhr in ihrer beschaulichen Wohnung im neunten Stock eines Plattenbaus am Rande von Krasnojarsk schlägt in hellem Glockenton die volle Stunde. Valentina überlegt, »natürlich wurde Vikenti damals nur zufällig verhaftet. Man brauchte billige Arbeitskräfte. Das Nickel-Kombinat von Norilsk wurde auf Knochen errichtet.«
Kennen gelernt habe sie ihren Mann im Frühjahr 1937 auf einer Bergtour durch die Stolby-Felsen bei Krasnojarsk. Im September 1937 schon heiraten beide. Dreieinhalb Monate dauert das Glück, das keines sein soll. »Ich kam abends wie immer von der Arbeit nach Hause, es war ein eiskalter, unwirtlicher Januarabend - und mein Mann war weg.« Valentina und Vikenti leben zu dieser Zeit im Stadtzentrum von Krasnojarsk in der Uliza Mira Nr. 105 bei der Schwiegermutter. »Ich raste sofort zu seinen Freunden, und die sagten mir, er habe eine Vorladung von der Miliz bekommen, mehr wüssten sie nicht. Später erfuhr ich, dass Vikenti dort unterschreiben sollte, aus Japan Geld erhalten zu haben, weil er ein japanischer Spion sei. Aber er weigerte sich - weshalb auch sollte er etwas zugeben, was er nicht getan hatte?«
Tatsächlich ist um diese Zeit Geld in der Familie Vikentis äußerst knapp. »Wir hatten ja bei der Schwiegermutter noch nicht einmal ein eigenes Bett und mussten nachts oft auf dem Fußboden schlafen. Eine scheußlich stickige Luft füllte den kahlen, engen und so traurigen Raum, in den wir jeden Abend krochen. Da ich aber bei unserer Heirat noch keine 18 Jahre alt war, hatten die Behörden unsere Ehe nicht registriert. Ich glaube, das war meine Rettung. Sonst wäre ich wahrscheinlich auch als Volksfeindin verhaftet worden.«
Vikenti wird schließlich wegen »Agitation gegen die Sowjetmacht und Geldempfang von Spionen« zu zehn Jahren Lagerhaft ohne Recht auf Briefverkehr verurteilt. Warum die Richter dieses Urteil fällen, kann sich Valentina bis heute nicht erklären. »Vielleicht war es ein Fehler, dass er immer stolz in alle Dokumente schrieb, er sei Pole. Aber das kann doch kaum der wahre Grund gewesen sein.«
Von einem Staatsanwalt namens Wassilij Abramow, bei dem sie nach dem Gerichtsverhandlung mehrfach vorspricht, erfährt Valentina, dass ihr Mann noch in Krasnojarsk ist. Wie sich herausstellt, hat Abramow mit Vikenti Fußball gespielt. »Doch wirklich etwas tun, das konnte auch er nicht. Seinerzeit wurden ja sogar die Staatsanwälte verhaftet. Jede Nacht klopfte es in Krasnojarsk an irgendeiner Tür. Die Parteisekretäre aus den Betrieben traf es ebenso. In diesen Jahren gab es ständig Versammlungen. Die Betriebsleiter warnten vor Spionen. Und eine Woche später waren sie dann selbst verhaftet und angeklagt, Spione zu sein. Aber mein Mann war mit diesen Leuten nicht bekannt. Er war Schlosser und reparierte Lokomotiven, das war alles.«
Valentina weiß nicht, was sie noch tun soll, um Vikenti zu helfen. Sie klappert die Gefängnisse und Sammellager in Krasnojarsk ab. Einmal werfen Häftlinge ihren Mann hoch in die Luft, so dass sie ihn sehen kann, das nächste Mal kann er mit einem roten Tuch aus dem Gefängnisfenster winken. Dann erfährt Valentina, wann die Häftlinge in Kolonne zur Banja geführt werden, und es gelingt ihr, Vikenti Brot und Wurst zuzuwerfen. Einige Tage danach hört sie, man habe ihn in den hohen Norden gebracht.
Über ein Jahr später, im Sommer 1940, kauft Valentina vom letzten Geld eine Fahrkarte. Ihre eineinhalbjährige Tochter Sweta - ihre Mutter liegt gelähmt im Bett - überlässt sie der zwölfjährigen Schwester. Fünf Tage fährt die junge Frau auf einem Dampfer den Jenissej hinauf nach Norden bis Dudinka. Von dort geht es weiter in Richtung »Nori-Lag«. »Wo sollte ich ihn suchen? Es standen doch Tausende von Baracken in dieser trostlosen Gegend herum. Ich betete zu Gott, dass er mir das Glück gönnt, meinen Mann zu finden. Überall sah ich Häftlinge in Wattejacken. Sie bauten irgendetwas. Ich fragte einen Gefangenen, Vikenti Wagewitsch, kennen Sie den zufällig? Und noch einen, und wieder einen. Es war nicht zu glauben, einer kannte ihn tatsächlich. So konnte ich Vikenti zweimal sehen. Er erzählte, im Lager gäbe es sogar Ärzte und Professoren. Zu essen bekämen sie meistens gefrorenen Kohl oder eine Wassersuppe mit Kräutern und dazu einen getrockneten Fisch.«
Valentina bleibt eine Woche. »Als ich nach Krasnojarsk zurückkehrte, haben mich viele Leute bewundert, auch im Betrieb. Ich arbeitete damals als Sekretärin in der landwirtschaftlichen Verwaltung. Manche sagten sogar: ›Man muss ihre Füße waschen und das Wasser trinken.‹ Ganz anders mein Vater, der regte sich furchtbar auf und schrie mich an: ›Man wird uns alle verhaften wegen deiner Extratouren.‹ « Valentina lässt sich nicht beeindrucken, sie bleibt hartnäckig, sie bleibt auch beim Komsomol. »Ich glaube, das hat viel geholfen, um ihn schließlich frei zu bekommen.« 1946 wird Vikenti aus dem Lager entlassen, aber muss noch für zwei Jahre in Norilsk, in der Verbannung, leben, darf aber schon Briefe nach Krasnojarsk schreiben. Im Sommer 1948 ist er endgültig frei. 1950 wird das zweite Kind, der Sohn Wadik, geboren.
Valentina hat ihren Mann in guter Erinnerung. »Er hatte immer eine sportliche Figur, und er sang sehr gut.« 1985 stirbt Vikenti an Magenkrebs. Auch mit der Gesundheit von Valentina steht es nicht zum Besten. Seit ein paar Jahren geht die alte Dame nicht mehr aus dem Haus. Valentina leidet unter Arthrose in den Beinen. Ihre Wohnung gleicht einem Refugium der Erinnerungen. Auf der Kommode steht ein kleines Lenin-Porträt, an der Wand hängt ein großer Teppich, daneben ein Porträt von Vikenti. Zu ihrem 80. Geburtstag hatte sich Valentina ehemalige Kolleginnen eingeladen. »Wir haben uns prächtig amüsiert. Ich habe sogar die Murka - das ist ein altes Banditenlied - gesungen.«
Dass sich der russische Staat heute so wenig um sie als der Hinterbliebenen eines »Repressierten«, wie Valentina es formuliert, kümmert, kann sie nicht verstehen. »Man hat mich vergessen wie andere auch. Man hat mich vergessen als eine, die noch lebt und ein Schicksal hat, das in den dreißiger Jahren beginnt. Und als ›Veteranin der Arbeit‹ sowieso. Glücklicherweise hatte ich zuletzt einen guten Posten in einer Geflügelfarm und bekomme jetzt eine ganz anständige Rente von 1.500 Rubel (45 Euro! - die Red.).«
Die Lebensgeschichte der Familie Labezkij hat sich auf merkwürdige Weise geschlossen. Valentinas Tochter Sweta war mit einem sowjetischen Offizier verheiratet und lebte mit ihm lange Zeit in Polen. Valentinas Sohn Wadik wohnt seit 20 Jahren in Norilsk, der Stadt, die sein Vater als Strafgefangener mit aufbauen musste. Er arbeitet in besagtem Nickel-Kombinat an der Schmelze. Das sei eine sehr harte Arbeit, aber Wadik werde wirklich gut bezahlt, meint die alte Dame stolz.
Ulrich Heyden
Freitag, 14.03.2003
Verbannungsgebiet Krasnojarsk
Zwischen 1938 und 1956 wurden in das ostsibirische Gebiet
Krasnojarsk eine Million Menschen deportiert und zur Zwangsarbeit eingesetzt. Es
waren politische Häftlinge, reiche Bauern (so genannte Kulaken) sowie die
Angehörigen von Völkerschaften, die als politisch »unzuverlässig«
eingestuft wurden, wie Wolgadeutsche, Balten, Ukrainer, Kaukasier, Kalmyken und
Griechen. Jeweils 300.000 Häftlinge waren in den beiden großen Lagern
»Nori-Lag« (Bau des Nickel-Kombinats) und »Kras-Lag« (Waldwirtschaft).
Stadt Krasnojarsk
Vor dem II. Weltkrieg lebten in Krasnojarsk 40.000 Menschen,
heute 900.000. Wegen der Evakuierung der Zivilbevölkerung aus dem Westen
der Sowjetunion während des Krieges sowie durch die politische Verbannung
wuchs die Stadt. Ein Großteil der Fabriken wurde in den vierziger Jahren
von Häftlingen gebaut.