Eine einzigartige Begebenheit ereignete sich für die Krasnojarsker Einwohnerin Vera Tobari. Sie wurde nach 60 Jahren von ihrem leiblichen Onkel ins Japan gefunden!
Die Krasnojarsker Gesellschaft "Memorial" ("Memorial" hilft und verfolgt Schicksale von Repressionsopfern, die in der Region Krasnojarsk gelebt haben) erhielt auf dem elektronischen Postweg eine Anfrage von der Universität Tokio: "Wohnen vielleicht in Ihrer Stadt Umsiedler aus der Mandschurei mit Familiennamen Schawkunow?"
- Die Anfrage kam von einem Japaner namens Masami Tobari, - erzählt Alexej Babij, Vorsitzender von "Memorial". - Masami ist Professor für Archäologie und arbeitet an der Tokioter Universität. Sein leiblicher Bruder Kazumi heiratete die Russin Valentina Schawkunowa, die beiden hatten Kinder; aber nach den Kriegsereignissen in der Mandschurei im Jahre 1945 kam Kazumi ums Leben, und über das Schicksal seiner Familie und der Kinder wurde nichts weiter bekannt. 60 Jahre später versuchte Masami mit Hilfe russischer Universitätskollegen sie zu finden, machte sich jedoch kaum Hoffnung auf Erfolg.
Sie begannen einfach im Internet nach dem Wort "Schawkunow" zu suchen und gerieten auf die Seite der Krasnojarsker Gesellschaft "Memorial" (memorial.krsk.ru). Dort waren die Erinnerungen von Wladimir Schawkunow veröffentlicht, einem Übersetzer aus dem Japanischen, der politisch verfolgt wurde. Er starb vor ein paar Jahren, aber eine kleine Kette von Umständen führte uns zu seiner Nichte Vera Tobari, der Tochter eben jenes Japaners Kazumi Tobari, die noch heute in Krasnojarsk lebt!
Vera Viktorowna trägt den Familiennamen ihres Vaters - Vera Viktorowna Tobari. Vielleicht ist sie ja tatsächlich die leibliche Nichte jenes Japaners, der die Suche eingeleitet hat ...
Unglaublich, aber wahr: nach 60 Jahren haben Japaner völlig aufs Geratewohl ihre Verwandten in Krasnojarsk gefunden. Dank neuester Informationstechnologien nahm dies nur ein paar Stunden in Anspruch: buchstäblich an demselben Tag, als der Brief aus Tokio ankam, machte "Memorial" Vera Viktorowna ausfindig und konnte einen regelmäßigen Kontakt zwischen Krasnojarsk und Japan herstellen.
Masami schickte aus Japan seine Familienfotos, auf denen Vera Tobari ihren Vater und ihre Mutter wiedererkannte. Derartige Fotos existieren auch in ihrem alten Album!
Das Portät von Vera Viktorowna wurde über "Memorial" nach Tokio geschickt. Von dort kam die Antwort:
"Vielen,vielen Dank für ihre Liebenswürdigkeit, uns eine Fotografie von Tobari Kuniko-san zu übersenden. Alle ihre Verwandten freuen sich sehr, daß Kuniko-san am Leben und gesund ist ..."
Vera Viktorowna ist eine gläubige Frau, darin liegt ihr ganzes Leben. Es gibt in ihr etwas, das sie von anderen unterscheidet - besondere Bescheidenheit, Strenge, Beherrschtheit und ihr charakteristisches Äußeres: Vera Tobari - zur Hälfte Japanerin (väterlicherseits), zur Hälfte Russin.
Als wir zu Vera Tobari nach Hause kamen, trafen wir sie bei Renovierungsarbeiten an: einen Monat später sollten doch schließlich ihre Verwandten aus Japan zu Besuch kommen, und man mußte sie doch willkommen heißen, wie es sich gehört.
Mit viel Mühe überredeten wir Vera Tobari dazu, uns ihre Geschichte zu erzählen. Die tiefgläubige und äußerst bescheidene Frau hält ihr Schicksal für nichts Besonderes ...
- Meine Mutter Valentina war die Tochter russischer Emigranten, die am Bau der Ostchinesischen Eisenbahnlinie beteiligt waren und in der Mandschurei blieben.
Mutter wurde 1900 in Charbin, in der Mandschurei, geboren, wo sehr viele Russen lebten. Im Alter von neun Jahren kam sie bereits als Kindermädchen in eine Familie, später arbeitete sie im Polizeirevier (Tee austragen), und dann als Kellnerin in einem Zug auf der Strecke Europa - Asien.
Mit 16 Jahren fand Mutter Arbeit in einem Laden, wo sie auch meinen Vater kennenlernte, den Japaner Kazumi Tobari. Er war doppelt so alt wie sie, bereits 32 Jahre alt. Papa war Beamter in der Verwaltung der Mandschurei, ein sehr gebildeter Mann. Er verliebte sich auf den ersten Blick in meine Mama. Fast sofort entschlossen sich die beiden die Ehe miteinander einzugehen.
Papa nahm sogar den christlichen Glauben an, um sie kirchlich heiraten zu können. Die Trauung wurde in der Kirche bei geschlossenen Türen vollzogen - viele der Verwandten waren gegen eine solche Heirat und hätten stören können.
Ich wurde 1935 dort, in Charbin, geboren. Ich hatte noch eine Schwester, aber sie starb im Alter von drei Jahren...
Die Familie Tobari lebte nicht gerade in ärmlichen Verhältnissen. Vera hatte sogar ein Kindermädchen, was sich nicht viele Familien leisten konnten. Die Atmosphäre zu Hause war teils japanisch, teils russisch. Ein Zimmer war mit einer Bastmatte ausgelegt, das andere - mit einem Teppich. Es wurden viele japanische Gerichte zubereitet. Zum Frühstück, Mittag- und Abendessen, so erinnert sich Vera Tobari, gab es fast immer Reis; man aß viel Fisch, Garnelen, Eierkuchen und kochte japanische Miso-Suppe. Im Haus stand immer ein großer Tablett mit Süßigkeiten - so gehörte es sich für eine japanische Familie.
Vera sprach beide Sprachen fließend - Japanisch und Russisch. Heute kann sie sich beinahe an kein einziges japanisches Wort mehr erinnern - viele Jahre hatte sie keine Praxis ...
Die Verwandten Schakunow und Tobari fanden sich schnell mit dem zwischen Valentina und Kazumi geschlossenen Bund der Ehe ab.
- Papa war sehr gutherzig und fand letzten Endes eine gemeinsame Sprache mit Mamas ganzer Verwandtschaft, - erzählt Vera Viktorowna. -
Zum Beispiel legte er meiner Großmutter, wenn sie zu uns zu Besuch kam, immer ein wenig Geld unter ihr Portemonnaie, das sie dann dort fand. Ich erinnere mich an ihn als einen bewundernswert guten, klugen und fürsorglichen Menschen ...
1945, als der Zweite Weltkrieg zuende ging und die Japaner aus der Mandschurei verdrängt wurden, änderte sich das Leben der Tobaris schlagartig. Tobari kam ums Leben. Auf welche Weise dies geschah, möchte Vera Viktorowna uns lieber nicht erzählen. Die 10-jährige Vera siedelte mit ihrer Mutter und der Oma nach Sachalin um, und im Jahre 1956 zogen sie nach Krasnojarsk.
Den Verwandten Kazumi Tobaris gelang es Charbin zu verlassen und nach Tokio zu fahren, wo sie sich für die Folgejahre einrichteten. Mit ihnen in den Nachkriegsjahren in Verbindung zu treten war nicht möglich. Nach dem Abwurf der Atombombe über Hiroschima brach der Kontakt mit ihnen vollständig ab ...
- Mama sagte mir immer: "Vera, vergiß niemals deinen Vater", - erinnert sich Vera Tobari. - Viele Fotografien sind mir von ihm noch geblieben; ich glaube ich sehe ihm sehr ähnlich. Mama starb 1990, und somit wußte sie auch nichts über das Schicksal von Vaters Verwandten. Man konnte ja nirgendwohin schreiben, alle Spuren hatten sich verloren.
Und plötzlich hat der Bruder des Vaters, Masami, uns selber gefunden. Ich weiß nicht, wie ihm das gelingen konnte; vielen Dank jedenfalls unserer Gesellschaft "Memorial" - im Grunde genommen haben sie doch alles gemacht. Ich habe nicht sofort an ein solches Wunder geglaubt. Einstweilen weiß ich nur wenig über ihr Leben, wir haben uns sehr kurz brieflich in Verbindung gesetzt, Fotografien ausgetauscht ...
- Wird es Ihnen gelingen, ein Treffen zustande zu bringen?
- Masami, mein Onkel, wollte sofort nach Krasnojarsk kommen, als er von uns erfuhr. Aber ich habe ihn gebeten, bis Ende Juni zu warten. Ich renoviere gerade, bringe die Wohnung in Ordnung; sie müssen doch auf menschliche Weise willkommen geheißen werden. Und dann ist es vielleicht möglich, daß ich einmal selber nach Tokio fahre.
Maria Mischkina
"Krasnojarsky komsomolez" 18.06.2003