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„Jener Frost verbrennt mich im Schlaf …“

Norilsk hat den Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen begangen. Das Land begeht diesen Gedenktag, den 30. Oktober, bereits seit den vergangenen zwölf Jahren. Am Vorabend, dem Sonntag, stiegen wir zum Norilsker Golgatha hinauf. Seit über zehn Jahren begeben wir uns nun schon mit unsern alten Leuten, einst politisch Verfolgten, an diesen Ort. Viele Menschen haben sie in diesen Jahren verloren. Und doch ist da ein Gefühl, als ob sie wie eh und je bei uns währen. Es würde einen nicht verwundern, wenn man an der kleinen Gedenkkapelle Doktor Snamenskij, den Journalisten Kroders, den Forschungsreisenden Traubergs, den hervorragenden Handwerker Dudutis, den ersten Vorsitzenden der Gesellschaft politischer Verfolgter – Rubeko …. Sehen würde. Sie alle durchliefen das Norillag, blieben anschließend im Norden und veredelten mit ihren hellen Gesichtern unser Leben hinter dem Polarkreis.

In diesem Jahr versammelten sich am Museum ungewöhnlich viele Menschen. Fünf Autobusse konnten kaum alle aufnehmen, die zum Memorial fahren wollten. Langsam bewegte sich unsere Kolonne voran, welche traditionsgemäß von Marathonläufer angeführt wurde. Ich schritt zwischen schwatzenden Schülern einher. Unterwegs erinnerten sie sich an die Ferien, teilten ihre Eindrücke über Sommerlanger – über Diskotheken, das Meer, Süßigkeiten und Früchte. Es waren die sorglosen Enkelkinder jener, die unschuldig ihre Strafen in ganz anderen Lagern absaßen. Mit uns fuhr auch Alexander Fjodorowitsch Isajew zum Golgatha hinauf, den man als jungen Burschen zusammen mit anderen Minderjährigen im Jahre 1943 mit einer Gefangenenetappe hierher getrieben hatte. Er hätte seinen Kindern viel über die Kinderkolonie erzählen können, die sich neben der 9. Lagerabteilung befand, unweit des heutigen Supermarktes N° 3. An diesem Tag war auch eine Delegation aus Dudinka mit uns – gutaussehende, schon ältere Frauen, damals Kinder von verbannten Deutschen.

Normalerweise ist an diesem Trauertag auch das Wetter entsprechend unwirtlich. Aber kaum waren wir am Fuße des Schmidticha-Berges angelangt, als die Dunstglocke sich auflöste und der Frost milder wurde. Leise fiel der Schnee, während wir schweigend vor den Gedenkkreuzen standen. Am Denkmal für die Polen betete ein junger katholischer Geistlicher, heute Einwohner von Talnach – Vater Milasch. Im Norillag quälten sich damals Häftlinge von hundert Nationalitäten, die aus insgesamt zweiundzwanzig Ländern stammten. So lautet die Offizielle Statistik. Es waren zehn-, hunderttausende Menschen, und die tatsächliche Zahl der Opfer wird wohl nur dem Herrgott bekannt sein. Der Protopope der Kirche im Taimyr-Gebiet, Vater Sergej, hielt die Totenmesse am Massengrab. Er betete auch während des Erinnerungsmahls, das anschließend im Kaffee „Scharki“ stattfand, für alle, die unschuldig so viel Leid ertragen hatten. Er erinnerte auch an die repressierten ukrainischen Väterchen – den Protoiereus (griech.: „Erster Priester“; Anm. d. Übers.) Joann (Prichodko) und den Protoiereus Antonij (Chwostika), die ihre Haftstrafe im Polargebiet absaßen. Ihre Namen wurden erst kürzlich bekannt. Wir gedachten auch derer, die unlängst von uns gegangen sind …

Die Alten wunderten sich über die merkliche Aufmerksamkeit, die ihren bescheidenen Persönlichkeiten in diesem Jahr seitens der Behörden entgegengebracht wurde. Fast den ganzen Tag über waren eine Menge stadtbekannter Leute um sie herum. Die ehemaligen Häftlinge urteilten darüber so: nun, Präsident Putin ist zu uns gekommen; er hat auch ein Beispiel für wahre Ehrerbietung gegeben, indem er sich vor der Asche der einst gefangenen auf dem Norilsker Golgatha verneigte.

Dieser Tage begab sich eine Delegation von Norilskern – zehn Mitglieder der Gesellschaft der Opfer politischer Repressionen – zum Gedenktag nach Moskau. Sie werden eine Zeit lang auf dem Lubjanka-Platz, am berühmten Solowezker Stein, verweilen, sich mit ihren GULAG-Leidensgenossen aus zahlreichen Städten des Landes treffen. Die Geldmittel für die Fahrt haben sie von der Bergbau- und Buntmetall-Gesellschaft erhalten. Sie war es auch, die dem Norilsker Museum, den Ämtern für Kultur und soziale Fürsorge für die Bevölkerung geholfen hat; zudem unterstütze sie das Departement für Jugendpolitik dabei, einen Abend im „Scharki“ zu organisieren. Hier trafen sich Menschen unterschiedlicher Generationen, und viele von ihnen besaßen ihre erblichen Erinnerungen an die politischen Verfolgungen. Der älteste Norilsker, Wasilij Feoktistowitsch Romaschki (er ist bereits 87 Jahre und befand sich von seiner Studentenzeit, also seit 1937 im Norillag) fing an zu weinen, als er sich daran erinnerte, was er in der Folterkammer alles ertragen musste. Die junge Lehrerin am College für Kunst, die Violoncellistin Swetlana Stepanowa, die abends mit einem Streichquartett auftrat, erzählte mit zum ersten Mal, dass in ihrer Familie zwei Großväter politisch verfolgt wurden, wobei einer von ihnen noch nicht einmal rehabilitiert wurde. Also musste man Swetlana mit Tamara Nikititschna Serebrjakowa bekannt machen, der ehemaligen Vorsitzenden der KTOS N° 7, die den Norilskern viele Jahre lang geholfen hat, für ihre Angehörigen die Rehabilitation zu erreichen. In den Jahren der Verfolgung war auch ihre Familie Repressionen ausgesetzt. Tamara Nikititschna wird bald „aufs Festland“ abfahren, und man muss sich deswegen noch rechtzeitig bei ihr bedanken – im Namen all derer, die sie bei der Suche nach der Gerechtigkeit unterstützt hat.

Albina Kusina hat auch ihre Erinnerungen; sie lebt seit 1940 in Norilsk, wurde in einer freien Familie geboren, erinnert sich an die Lagerinsassen und ihrer Bewacher … Sie versucht auch diejenigen zu verstehen, die im Lager arbeiteten, um dort ihr tägliches Brot zu verdienen, und hat deshalb die ehemaligen Gefangenen gebeten, keine Wut und Bitterkeit im Herzen zu tragen. Das Finale des Abends, als die hochgestellten Leute auseinandergingen und die Menschen sich endlich wieder entspannen konnten, hat gezeigt, wie Recht die Frau hatte. Ein Chor sang deutsche Lieder, und eine der Norilskerinnen, die das Lager miterlebt hatte, rief plötzlich laut dazwischen, dass man an einem derartigen Trauertag keine Lieder singen brauche; unsere Brüder und Schwestern sind hier verfault, und ihr singt … Die Frau stand eilig auf und verließ den Saal. Und eine der deutschen alten Frauen fing an uns zu erklären, dass das Lied vom schweren Los verfolgter Menschen handelte, die so weit von der Heimat entfernt waren.

Intoleranz hat noch niemanden glücklich gemacht. Wir hoffen, dass die Einwohner von Dudinka das begriffen haben und keinen Groll gegen diese Frau hegen, die so viel durchgemacht hat und deren Nerven nicht standgehalten haben. Letztendlich sind sie doch alle Schwestern in ein und demselben bitteren Schicksal. Die Leute in Dudinka haben uns eingeladen, um den Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen gemeinsam mit ihnen zu begehen. In der Gebietshauptstadt fand ein Gebet am Symbolstein statt, an dessen Stelle man versprochen hat, ein Denkmal zu Ehren der Gefangenen zu errichten. An diesem Tag war auch eine Begegnung beim Stadtoberhaupt Oleg Budargin geplant – er wird die uralte Frage nach der Schaffung eines solchen Denkmals entscheiden. Vielleicht können wir am 50. Jahrestag von Norilsk endlich unsere Pflicht vor dem Gedenken an die Menschen erfüllen, welche unser Stadt und unser Kombinat geschaffen haben.

Und so lange die Zeugen jener Zeit noch gesunden Geistes unter uns weilen, ist es unbedingt erforderlich, ihnen so oft wie möglich bei Begegnungen mit den neuen Generationen behilflich zu sein. Die alten Menschen können der Gesellschaft noch so viel geben. Warum soll man sie in Bittsteller verwandeln? Nicht umsonst hat das Väterchen die einstigen Insassen des Norillag als Menschen der Heiligen Legende bezeichnet, und das sind jene, an denen sich unser Glaube und unsere Wahrheit festhalten, die Heimat und Norilsk.

Ein Dank an alle, die an diesem wichtigen Tag die Seelen dieser Menschen erwärmt haben.

Irina Danilenko

„Polar-Wahrheit“, 01.11.2002


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