Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

Ohne Recht auf Briefe

Im Bezirksheimatkundemuseum fand eine Begegnung zwischen Schülern der höheren Klassenstufen der Suchobusimsker Oberschule und Menschen statt, die unter den politischen Verfolgungen zu leiden hatten. Zwei Tage hatten die Kinder Gelegenheit, sich mit der Geschichte ihres Landes nicht anhand von Lehrbüchern, sondern durch die Schicksale ihrer Landsleute bekannt zu machen – Menschen, mit den du zeitweise Seite an Seite lebst, die du Tag für Tag auf der Straße siehst, ohne irgendetwas über jene Tragödie zu wissen, die sie durchmachen mussten.

Es gibt fast keine Überlebenden jener Generation mehr, die den Aufbau des Sozialismus begann – und gerade sie war es die den Massen-Verfolgungen ausgesetzt war. Aber ihre Kinder, die inzwischen auch schon weit über 60 Jahre alt sind, leben noch. Vieles ist aus dem Gedächtnis ausradiert, weil die Eltern es vorzogen darüber zu schweigen, was mit ihnen geschah. Mitunter kannten die Kinder ihre wahren Familiennamen nicht, wussten nicht, wer ihr Vater oder ihre Mutter war, was mit ihnen geschah.

So erfuhr beispielsweise Lidia Iwanowna Sablina erst im Alter von 12 Jahren, dass ihre Eltern Verbannte waren. Aber noch lange danach war das einfach nur ein biographischer Tatbestand. Und als sie dann ihr Gesuch zum Beitritt in die Partei einreichen wollte, verweigerte ein von ihr sehr geschätzter Genosse seine Empfehlung dafür zu geben. Das war eine unangenehme, unerwartete Reaktion, die sie fassungslos machte. Nie zuvor hatte Lidia Iwanowna über die Widerwärtigkeiten des Schicksals nachgedacht, aber hier hatte das Schicksal sie selber in schmerzlicher, ungerechter Weise getroffen – und nicht die Großmutter oder die Eltern – ausgerechnet sie, eine Person der dritten Generation Deutscher, die durch den Willen Stalins nach Sibirien umgesiedelt worden waren.

Wenn man Lidia Iwanowna noch als vergleichsweise junge Frau ansehen kann, so vollendete Amalia Genrichowna Tschernych am 10. Juni 2003 das 80. Lebensjahr. 1941, als der berühmte Ukas über die Aussiedlung der Deutschen von der Wolga erging, war sie 18 Jahre alt. Eine verliebte junge Frau, die gerade erst geheiratet hatte, wurde für immer von ihrem Mann getrennt. Wie in dem Lied: „Der Eine in den Norden fuhr, der Andere - nach Fernost“. Den Ehemann holten sie in die Arbeitsarmee, wo er ums Leben kam, seine Frau geriet in den Suchobusimsker Bezirk. Bereits in Sibirien eingetroffen stellte sich heraus, dass sie schwanger war. Aber, wie Amalia Genrichowna sagt – war das Kind auch ihre Rettung. Man hatte Mitleid mit der jungen Frau, ließ sie bei den leichteren Arbeiten – als Technikerin beim Karymsker Dorfrat. Und bald darauf, nachdem man erfahren hatte, dass sie schreiben konnte, gab man ihr Arbeit als Sekretärin. Als was sie in ihrem langen Leben nicht alles arbeiten musste: als Heizerin, Lehrerin und Rechnungsführerin in der Kolchose. Doch Amalia Genrichowna verzweifelte nicht, verlor nicht ihre Energie und Kampfeslust. Auch heute, mit ihren 80 Jahren, sieht sie jugendlich aus und teilt gern mit der jungen Generation ihre Erinnerungen, erteilt Ratschläge, wie man sich verhalten sollte, damit die Menschen in der Umgebung einen respektieren.

Zu der Begegnung mit den Schülern fanden sich mehrere Leute ein, die infolge der Großbauern-Enteignungen zu leiden hatten. Sie gerieten in die allererste Welle der Repressionen, welche das gesamte Land heimsuchten.

Am 1. Januar 1930 wurden im Suchobusimsker Amtsbezirk 186 Familien enteignet und ausgewiesen. Aber das war erst der Anfang.

Nikolai Nikolajewitsch Wochmin erinnert sich nicht so gut an jene Zeit, denn er war damals noch keine 6 Jahre alt. Im Gedächtnis behalten hat er, dass sie ihn, den Fünfjährigen, als der Vater enteignet wurde, bei Verwandten in Podsopki versteckten. Nachbarin Natalia Mursakina, die etwas älter als Nikolai war, erzählte später: „Sie haben alles mitgenommen, alles konfisziert, sogar den Samowar, der noch nicht einmal einen Ablaufhahn hatte, sondern auf den stattdessen eine Spindel aufgesteckt war. Sie trugen auch den zerschlagenen Spiegel hinaus, und die Fladenkekse, welche die Hausfrau gerade aus dem Ofen genommen hatte, verschwanden in einem einzigen Augenblich zwischen den Kiefern der Mitglieder des Armen-Komitees. Und einer, der ganz besonders ungeduldig war, konnte nicht an sich halten und fing an zu essen – einen nach dem anderen. Und aß und aß, bis er sich verschluckte“. Das Familienoberhaupt musste nach § 58 vier Jahre absitzen, als Volksfeind, bis der Entscheid über seine Rehabilitierung kam.

Sehr gut kann sich Olga Ignatjewna Anfimowa an jene Zeit erinnern:

- Ich komme mit meinen Freundinnen nach Hause und sehe: bei unserem Haus stehen mir unbekannte Leute, Fuhrwerke. Ich trete ein, und da nehmen die vom Komitee gerade alles weg, und die Mama nimmt eine Axt und schreit: „Kommt ja nicht näher, ihr kriegt nichts, ich ziehe euch eins über den Schädel!“ Aber sie nahmen alles mit, wiesen uns aus, und vom Schicksal des verhafteten und erschossenen Vaters habe ich erst kürzlich erfahren.

Eine Menge Leid musste Olga Ignatjewna durchmachen, aber sie zerbrach an ihrem Schicksal nicht und wurde auch nicht verbittert.

- Ich bin den Menschen dankbar, die mir halfen zu überleben; niemals werde ich das vergessen.

Hier habe ich Freunde, Freundinnen gefunden, und etwas Besseres als unsere Region gibt es nicht., - beendete sie ihre Rede.

Genau so klingen auch die Worte von Galina Iwanowna Schuwajewa, die berichtete, dass sie ausgerechnet hier, auf Suchobusimsker Boden, Verständnis und Unterstützung fand.

- Irgendwie gab es bei uns trotz allem auch gute Menschen. Zu der Zeit, als aufgrund von Denunziationen unheimlich viele Menschen hinter Schloss und Riegel kamen, versuchten die Leute in Suchobusimo den politisch Verbannten, die auch so schon mehr Kummer und Leid als genug abbekommen hatten, zu helfen, sie zu verteidigen und zu beschützen. Denn die Menschen, die aus ihren Heimatorten herausgerissen und der Willkür des Schicksals überlassen worden waren, waren bisweilen völlig verzweifelt: es gab nichts zu essen, nirgends konnten sie wohnen.

Einmal legte Galina Iwanownas Mutter, auf der verzweifelten Suche nach Arbeit und Auskommen, ihr Töchterchen am Treppenaufgang des Krankenhauses ab und sagte: „Wenn sie mir keine Arbeit geben, möge das Kindchen sterben, damit es sich nicht quälen muss“. Es fanden sich barmherzige Leute, die ihr Unterschlupf gewährten und bei der Arbeitssuche behilflich waren. Mutter und Tochter überlebten. Aber einfach war das nicht. Galina Iwanowna verfügt über höhere Bildung, hat zwei wunderbare Söhne groß gezogen und ihr Leben lang, zusammen mit ihrem Mann, für das Wohl des Landes gearbeitet, welches bisweilen äußerst grausam mit seinen Bürgern umging.

Alewtina Antonowna Perschina wurde als Tochter eines Volksfeindes politisch verfolgt.

Ihr Vater Anton Wikentjewitsch Perschin wurde 1937 verhaftet und erschossen. Allerdings erfuhr sie das erst viele Jahre später.

Alewtina Antonowna ist ein Mensch mit schwerem Schicksal, welches ihrem Leben so viele Herausforderungen zu Teil werden ließ, dass man über die Seelenstärke und Unerschütterlichkeit dieser kleinen Frau nur staunen kannst. Die Jahre und Krankheiten haben ihre Gesundheit abgeschliffen, doch den Charakter konnten sie nicht zerbrechen.

Sie war sieben Jahre alt, als das Unglücklich über die Familie hereinbrach: in Leningrad, wo sie geboren wurde und lebte, wurde der berühmte Prozess gegen die „Industrie-Partei“ aufgerollt. Man musste irgendwie die häufigen Unfälle im Zusammenhang mit fehlender Sicherheitstechnik und die Rückständigkeit der Industrie im Hinblick auf das Produktionstempo erklären. Und so dachte man sich ein Fall von Sabotage und Schädlingstätigkeit aus. Unter den feinen Kamm der Repressionen passte auch der Arbeiter der Kirow-Werke A.W. Perschin. Das Schicksal der Verhafteten, die unter diese Akte fielen, war schnell entschieden: im September wurde Alewtina Antonownas Vater verhaftet, und im Dezember – erschossen. Die Familie des „Volksfeindes“ kam ohne jegliche Existenzmittel nach Sibirien. Alewtina Antonowna musste seit ihrer Kindheit arbeiten: den Boden pflügen, Kühe melken, in der Kolchose an der Waage stehen. Erst 1956 wurde die Familie rehabilitiert, aber sie konnten nicht von dort wegfahren, weil sie niemanden hatten. Und so blieben sie in Sibirien.

Vor den Augen der Teilnehmer der Begegnung zogen nur einige wenige menschliche Schicksale vorüber, aber wie charakteristisch sind sie doch für unser Land. Die Schüler zeigten sich nicht als gleichgültige Zuhörer: die Mitglieder des Geschichtskreises unter Leitung der Geschichtslehrerin an der Suchobusimsker Schule – Olga Petrowna Artemewa, führten eine Inszenierung nach dem Buch von M. Scholochow „Neuland hinterm Pflug“ auf, trugen Gedichte und Tänze vor. Das Kollektiv für Laienkunst Des Kulturhauses sang zu Herzen gehende lyrische Lieder.

An die Versammelten wandte sich T.W. Gof, Fachmann der Behörde für den sozialen Schutz der Bevölkerung:

- Vieles von dem, was im Verlaufe langer Jahre als unerschütterlich galt, geht in die Vergangenheit ein. Aber auch in den schwierigsten Augenblicken fanden die Menschen die Kraft wieder auf die Beine zu kommen, aufzustehen, wie der sagenhafte Vogel Phönix aus der Asche – und das vor allem dank der Kraft des nationalen Geistes.

Die Begegnung endete mit einer Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen, die unsere Tage nicht mehr erleben durften. Die Schüler gingen auseinander, während die Veteranen sich zu einem Tässchen Tee zusammenfanden und noch lange über die durchgemachten Jahre redeten.

Olga Nekrassowa, Direktorin des Suchobusimsker Bezirks-Heimatkundemuseums

„Land-Leben“ (Suchobusimskoje), 13.11.2003


Zum Seitenanfang